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Joachim V. Hildebrandt
Das Bukowina-Zentrum Czernowitz sucht nach der
ukrainischen Identität
Erforschung des Nachlasses der postsowjetischen
Nomenklatura
Das 1992 im alten Gebäude der Residenz der bukowinischen
Bischöfe eröffnete Bukowina-Zentrum geht vor allem der
Frage nach: Wie schwer wiegt der Nachlass der postsowjetischen
Nomenklatura in der Ukraine?
Von 1940 bis 1991 war diese Region der Ukraine Teil der
Sowjetunion. Professor Oleg Pantschuk, der Leiter des
Bukowina-Zentrums, meint, dass die Ukraine in dieser Zeit praktisch
eine Kolonie der Sowjetunion gewesen war und deren Auswirkungen
jetzt unübersehbar zu spüren sind.
Die Geschichte der Bukowina war zur Zeit der k.u.k.-Monarchie
von 1775 bis 1918 von einem friedlichen Zusammenleben der
verschiedenen ethnischen Gruppen von Juden, Ukrainern,
Rumänen, Polen und Armeniern geprägt. In der Stadt
Czernowitz gab es zu dieser Zeit eine musische Atmosphäre,
eine geistige Vitalität sowie eine kosmopolitische Offenheit
für alles Neue und die Bereitschaft, dieses in sich
aufzunehmen. Diese Tradition wurde von den Sowjets verleugnet. Sie
sprachen nur von der rumänischen Herrschaft von 1918 bis 1940
und dann von der deutschen Besatzung. Das seien koloniale
Mächte gewesen, und erst mit der Angliederung an die
Sowjetunion hätte sich die Bukowina frei entwickeln und den
Sozialismus aufbauen können. Was aus dieser Behauptung
geworden ist, wissen wir heute.
In den Jahren 1991/92, nach dem Zerfall der Sowjetunion, bestand
die Aufgabe, die Geschichte, Literatur, Kunst und die sozialen
Strukturen der Gesellschaft in vergangenen Perioden näher zu
erforschen. Deshalb wurde das Bukowina-Zentrum gegründet.
Zunächst wurden Studien, die in Sowjetzeiten erarbeitet worden
waren, aber nicht veröffentlicht werden durften, aus den
Archiven geholt und später dann die Wissenschaftler, die bis
1991 quasi für die Schublade geschrieben haben, aufgefordert,
ihre Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen. Dabei entstand
eine Kooperation mit dem Bukowina-Zentrum Augsburg und dem
österreichischen Osteuropa-Institut, seit 1992 sind mehrere
gemeinsame Konferenzen abgehalten worden.
Im Laufe der Jahre richtete sich die Arbeit des Zentrums
hauptsächlich auf die Erforschung des Nachlasses der
Sowjetzeit, die heute noch in der Mentalität der Menschen
deutlich zu spüren ist. Diese Mentalität sei
gekennzeichnet durch Servilität gegenüber der einstigen
und jetzigen Macht sowie paternalistische Erwartungen an die
Mächtigen, sagt Professor Pantschuk.
Zu Sowjetzeiten war vieles ohne große finanzielle
Anstrengungen zu bekommen. Die Mieten waren niedrig, Erholungsheime
konnte man besuchen. Das hat sich tief in das Bewusstsein der
Menschen eingeprägt. Deshalb war es für die neuen
Machthaber der unabhängigen Ukraine leicht, pro-westliche
Politiker zu diffamieren und den späteren
Ministerpräsidenten, Viktor Juschtschenko, als
bürgerlichen Nationalisten hinzustellen, der
"halbfaschistische Bundesgenossen" hätte.
Eine wichtige Aufgabe des Bukowina-Zentrums ist es, auf die
Erziehung der Jugend Einfluss zu nehmen. Die Mitarbeiter schicken
Jugendliche zu Treffen nach Deutschland und Österreich, damit
sie Kontakt mit jungen Leuten dort aufnehmen und sich mit deutscher
Sprache, Kultur, Kunst und Geschichte vertraut machen können.
Sie sollen neue Erkenntnisse, neue Eindrücke in die Ukraine
mitbringen und davon erzählen, was sie im Westen gesehen und
erfahren haben. Außerdem sind Bücher über die
Geschichte des ehemaligen Kornlandes, der Bukowina, herausgegeben
worden, von denen viele im deutschsprachigen Raum bereits
vergriffen sind, erzählt Professor Pantschuk. Dieses Jahr
erscheint eine große Monographie über die Geschichte von
Czernowitz auf deutsch wie auf ukrainisch. Übersetzungen von
Erzählungen und Romanen deutschsprachiger Autoren werden
ebenfalls vom Zentrum gefördert.
Die zwei größten ethnischen Gruppen in der Bukowina
sind die Ukrainer mit etwa 72 Prozent, dann die Rumänen
beziehungsweise Moldawier, die mit etwa 18 Prozent in der
Bevölkerung vertreten sind. In der Umgangssprache sieht es
jedoch ganz anders aus. Auf der Straße und im Amt sprechen
etwa 50 Prozent der Menschen Russisch. Das kommt daher, dass die
nach 1960 Geborenen vor allem russische Schulen besuchten. Als die
Sowjets 1944 zurück in die Bukowina kamen, gab es etwa 20
Schulen in Czernowitz, in denen zu etwa einem Viertel Russisch
gesprochen wurde. Im Jahre 1989 gab es rund 35 Schulen in der
Stadt, in denen ungefähr zu zwei Dritteln Russisch gesprochen
wurde. Was von den amtlichen Stellen unterstützt wurde, da mit
der ukrainischen Sprache keine höhere Position in der
Gesellschaft zu erreichen war.
In den Kindergärten sah es nicht besser aus. 1989 gab es
von 40 nur zwei ukrainische. Damals gingen die beiden Töchter
von Oleg Pantschuk in einen der beiden ukrainischen
Kindergärten und überzeugten ihren Vater, dass dieser
praktisch auch ein russischer wäre, denn es wurde
überwiegend Russisch gesprochen. Inzwischen hat sich vieles
geändert. Momentan gibt es keine genaue Statistik, aber zu
Hause reden nach Meinungsumfragen bis zu 70 Prozent Ukrainisch.
Die Ukraine hat sich vor 13 Jahren unabhängig erklärt.
Aber die Macht blieb bei der postsowjetischen Nomenklatura. Denn
die Politiker, die zu Sowjetzeiten von den Entscheidungen aus
Moskau abhängig waren, blieben in ihren Ämtern und
leiteten die ersten Privatisierungen ein. Es sind deshalb keine
schnellen Änderungen in der Ukraine zu erwarten, so wie sich
die wichtigsten Politiker des Landes, zu denen der noch amtierende
Präsident Kutschma gehört, in den vergangenen 13 Jahren
verhalten und ein Oligarchensystem mit der quasi-monarchischen
Spitze des Präsidenten im Land geschaffen haben.
Nun sind Präsidentenwahlen in der Ukraine abgehalten
worden. Das Bündnis der Oppositionskräfte "Unsere
Ukraine", für das der liberale Viktor Juschtschenko
kandidierte, ist Opfer eines offensichtlichen Wahlbetruges
geworden. Es besteht dennoch ein Hoffnungsschimmer für das
Land, das kulturell zu Europa und nicht zu Russland gehört.
Doch damit der Weg nach Europa für die Ukraine offen wird,
muss sie der Westen als ein Land auf dem schwierigen Weg zur
Demokratie wahrnehmen und an den europäischen Binnenmarkt
heranführen.
Selbst wenn die Oppositionskräfte unter Viktor
Juschtschenko am Ende siegen sollten, könnte es ein
verlustreicher Kampf werden, da die alten Kräfte den Verlust
ihres Reichtums nicht hinnehmen dürften. Das prophezeien die
Autoren der "Lvivska Hazeta" und der Zeitschrift "Postup", auf die
Ende August ein Brandanschlag verübt wurde.
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