"Es ist nicht hilfreich, die Wahlen zu
verzögern"
Interview mit Hikmet Cetin, dem politischen
Vertreter der NATO für Afghanistan
Voraussichtlich noch vor Mai 2005 wird es in
Afghanistan Parlamentswahlen geben. Die Vorbereitungen darauf sind
kompliziert, angesichts der nach wie vor instabilen Lage im Land.
Dennoch haben die Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses
Jahres die demokratischen Kräfte Afghanistans ermutigt, ihren
schwierigen Weg fortzusetzen. Für die Reformen und die
Befriedung des Landes, das sich seit rund 30 Jahren im
Bürgerkrieg befindet, ist nach wie vor internationale
Aufbauhilfe erforderlich. Hikmet Cetin spricht über die
Unterstützung der NATO für dieses langwierige
Vorhaben.
Das Parlament:
Noch ist nicht genau bekannt, wann in
Afghanistan die Parlamentswahlen stattfinden. Ist das Land schon
bereit für diesen Schritt?
Hikmet Cetin: Zu Beginn dieses Jahres
konnte sich niemand vorstellen, dass die Präsidentenwahl
friedlich ablaufen würde. Aber es war ein Erfolg. Mein
Eindruck ist, dass die Männer und Frauen dieses Landes die
Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Dafür haben sie sich
in die Wählerschlangen eingereiht. Ich denke, dass das auch
bei den Parlamentswahlen so sein wird. Vielleicht wird die
Sicherheitslage prekärer sein, aber nicht wegen der
Wähler, sondern wegen der Kandidaten.
In diesem Land gibt es noch Stämme und
Fraktionen, das macht die Lage gefährlich. Vor den Wahlen
müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Die UNO, das
Wahlkomitee und die afghanische Regierung befassen sich mit den
Problemen. Sind die gelöst, bin ich ganz optimistisch, dass
hier freie und faire Wahlen durchgeführt werden können.
Es gibt noch Menschen, die sich an die letzten freien Wahlen vor 30
Jahren erinnern können. Besonders ermutigend finde ich auch
die Beteiligung der Frauen an den
Präsidentenwahlen.
Das Parlament:
Die UNO versucht, mit sanftem Druck die
Wahlen zu verzögern.
Hikmet Cetin: Es ist nicht hilfreich,
die Wahlen zu verzögern. Wir haben den Afghanen versprochen,
dass die Wahlen Ende April, Anfang Mai stattfinden. Zudem sollte
der zeitliche Abstand zwischen den Präsidenten- und den
Parlamentswahl nicht zu groß werden, das beschwört
unnötige Debatten herauf.
Das Parlament:
Wäre es nicht notwendig, vor den Wahlen
die noch agierenden Warlords zu entwaffnen?
Hikmet Cetin: Eine der wichtigsten
Reformen ist die des Sicherheitssektors. Kürzlich haben im
Norden General Dostum und in Kabul Professor Sayaf zugestimmt, alle
ihre Einheiten zu demobilisieren, weil sonst ihre Parteien nicht zu
den Parlamentswahlen zugelassen werden. Mit der Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft müssen wir uns noch mehr auf
die Reintegration konzentrieren. Denn was tun wir mit den
demobilisierten und entwaffnenten Männern? Es stellt uns vor
große Herausforderungen in so kurzer Zeit soviele Personen
reintegrieren zu müssen. Wenn wir da nicht sehr vorsichtig
sind, könnte sich eine Art illegaler Miliz
entwickeln.
Das Parlament:
Ist es nicht Zeit, die ISAF-Macht
auszuweiten?
Hikmet Cetin: Das ISAF-Mandat gilt
für ganz Afghanistan. Die NATO hat aber beschlossen, Schritt
für Schritt vorzugehen. Kabul war schon unter der Kontrolle
der ISAF. Vor der Präsidentschaftswahl wurde der Norden unter
das Kommando der NATO gestellt. Unser kurzfristiger Plan nun ist
die Expansion nach Westen. Die NATO sucht dafür noch
Länderkandidaten. Außerdem wird in der NATO debattiert,
ob zu den Parlamentswahlen zusätzliche Kräfte entsandt
werden. Dazu müssen wir aber bald das genaue Datum der Wahlen
erfahren.
Das Parlament:
Wann wird die ISAF den Süden und den
Osten Afghanistans sichern?
Hikmet Cetin: Der Süden
könnte in der zweiten Jahreshälfte 2005 übernommen
werden. Ich denke, bis 2006 hat die NATO die Verantwortung im
ganzen Land inne. Dazu wird innerhalb der NATO gerade die Frage
diskutiert, wie man die verschiedenen Operationen, die
multinationale NATO-ISAF und die von den USA geführten
Koalitionstruppen, unter ein Kommando stellt.
Das Parlament:
Ostafghanistan ist die instabilste Region,
dort agieren noch Al Qaida, mächtige Warlords. Die Bauern der
Region sind die weltgrößten Opiumproduzenten. Sollte ISAF
nicht als erstes dorthin?
Hikmet Cetin: Einige Länder
zögern, dort den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. Ich
denke aber, dass wir zwei verschiedene Missionen unter einem
Kommando haben können. So könnten die US-geführten
Koalitionstruppen den Terrorismus bekämpfen, während ISAF
für Sicherheit sorgen.
Das Parlament:
Wie hilfreich ist es für die
ISAF-Mission, dass die USA in Afghanistan ihre nicht immer
zimperliche Terrorbekämpfung betreiben?
Hikmet Cetin: Das Mandat der
Koalitionstruppen unter Führung der USA ist eindeutig
Terrorbekämpfung, das schließt Kampfhandlungen ein. ISAF
dagegen assistiert der afghanischen Regierung, der Armee und dem
Volk bei der Sicherung des Friedens.
Das Parlament:
Heißen Sie die Methoden der US-Politik
gut, die Felder der Opiumbauern zu vernichten?
Hikmet Cetin: Niemand kann den Einsatz
von Flugzeugen bei der Opiumvernichtung gut heißen, das ist
extrem gefährlich. Präsident Karsai hat sich dagegen
ausgesprochen, ohne seine Genehmigung sind solche Einsätze
illegal. Es wird berichtet, dass ein solcher Einsatz stattgefunden
haben soll, dazu gibt es jetzt in Kabul einen
Untersuchungsausschuss.
Das Parlament:
Die Welt hofft, dass in Afghanistan der
Mohnanbau bald aufgegeben wird. Wie sehen Sie die Chancen dieses
Unterfangens?
Hikmet Cetin: Das ist die brennendste
Frage, wenn es um diese Region geht. Gerade deshalb gibt es aber
leider keine Lösungen, die über Nacht wirksam werden. Wir
brauchen einen umfassenden kurz-, mittel- und langfristigen Plan
für dieses Problem. Ohne einen Plan, der den Bauern
Alternativen zum Opiumanbau vermittelt, wird es nicht gehen. Um den
Opiumanbau wirksam zu bekämpfen, brauchen wir umfassende
internationale Unterstützung. Es wird Jahre dauern, bis wir
eine Gesamtlösung gefunden haben.
Das Parlament:
Sie sind also gegen die gegenwärtige
Vernichtung von Opiumfeldern?
Hikmet Cetin: Die vorschnelle
Vernichtung von Opiumfeldern schafft viele neue, zusätzliche
Probleme. Wir müssen in dieser Angelegenheit sehr vorsichtig
vorgehen. Viele Bauern würden lieber heute als morgen damit
aufhören, Opium anzubauen. Ein Hauptproblem ist, dass das Land
seit acht Jahren unter extremer Dürre leidet und leider fast
nur die Mohnpflanze das aushält. Ich denke, dass die
internationale Gemeinschaft den Bauern finanziell helfen
muss.
Das Parlament:
Schenkt die Welt den Nachbarländern der
Region genügend Aufmerksamkeit?
Hikmet Cetin: Um nachhaltigen Frieden
und Stabilität in Afghanistan zu schaffen, brauchen wir mehr
Kooperation mit den zentralasiatischen Republiken und insbesondere
Pakistan. Wenn wir Pakistan nicht an Bord nehmen können,
werden die Taliban in Afghanistan weiter existieren.
Das Parlament:
In Deutschland fragen sich viele, ob der
Einsatz der Bundeswehr-Soldaten noch notwendig ist.
Hikmet Cetin: Deutschland leistet hier
einen großen Beitrag. Die Deutschen spielen hier eine wichtige
Rolle und machen eine exzellente Arbeit. Sie müssen damit
fortfahren.
Die Welt hat schon einmal weggeschaut, als
hier der Bürgerkrieg tobte und die Taliban herrschten. Erst
seit dem 11. September erinnerte man sich an dieses Land. Wir haben
in New York, in Madrid und in Istanbul gesehen: Wenn wir nicht nach
Afghanistan gehen, kommt es zu uns. Wir müssen helfen, um
unserer eigenen Sicherheit willen.
Das Gespräch führten Cem Rifat Sey
und Adrienne Woltersdorff.
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