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Hartmut Hausmann
Abschluss der Beitrittsgespräche soll noch
vor dem Jahr 2013 erfolgen
Europaabgeordnete für Verhandlungen mit der
Türkei
Einen Tag vor dem EU-Gipfel hat das
Europäische Parlament in Straßburg die EU-Staats- und
Regierungschefs aufgefordert, unverzüglich
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Bevor die
Gespräche beginnen könnten, müssten jedoch noch
wichtige Rechtsakte durch das türkische Parlament angenommen
werden. In der am vergangenen Mittwoch mit 407 gegen 262 Stimmen
bei 29 Enthaltungen verabschiedeten Entschließung verwiesen
die Abgeordneten aber auch darauf, dass die Verhandlungen erst dann
abgeschlossen werden können, wenn der Finanzrahmen der EU
für den Zeitraum nach 2014 festgelegt wird und die
finanziellen Auswirkungen eines Beitritts für beide Seiten
kalkulierbar sind.
Zwar ist in dieser Frage die Haltung des
Parlaments für den EU-Gipfel nicht bindend, doch über
eine Ablehnung durch das Straßburger Parlament hätten
sich die Mitgliedstaaten der EU wohl nur schwer hinwegsetzen
können. Die Abgeordneten waren der Meinung, dass der Beginn
der Verhandlungen die Einleitung eines längeren Prozesses
bedeute, dessen Ende offen sei und der nicht automatisch in eine
Aufnahme der Türkei münde. Anträge der
Christdemokraten, Rat und Kommission der EU sollten aufgefordert
werden, das alternative Ziel einer privilegierten Partnerschaft
anzustreben, wurden mit ähnlich breiter Mehrheit abgelehnt.
Jetzt, so Beobachter in Straßburg, liege es an der Türkei
selbst, ob sie in der Lage sei, ein integrierter Bestandteil
Europas zu werden. Ziel sei eine Vollmitgliedschaft des
Landes.
Ausschlaggebend für die breite
Zustimmung waren offenbar die beeindruckenden Anstrengungen der
türkischen Behörden, das Land durch gesetzgeberische
Reformen schnell an europäische Normen anzunähern. Dabei
wurden die Abschaffung der Todesstrafe, die veränderte Rolle
des Nationalen Sicherheitsrates und die Aufhebung des Notstandes im
Südosten der Türkei hervorgehoben. Die Abgeordneten
begrüßten in der Entschließung insbesondere auch die
Reform der Strafprozessordnung. Doch unumgänglich sei noch die
bisher ausgebliebene Streichung des berüchtigten Paragraphen
305 des türkischen Strafgesetzbuches, wonach die "Bedrohung
grundlegender nationaler Interessen" bestraft wird. Danach kann
nach wie vor jeder bestraft werden, der sich kritisch im
Zusammenhang mit der Zypern- und Armenienfrage äußert.
Dies ist unvereinbar mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention des Europarates und dem
EU-Grundrechtekatalog.
In seiner Entschließung verweist das
Europaparlament darauf, dass in der ersten Verhandlungsphase die
umfassende Durchführung der politischen Kriterien wie die
Menschenrechte und Grundrechte Vorrang hat. Diese müssten auch
in der Praxis erfüllt sein. Die Verhandlungen sollen
gemäß dem Kommissionsvor-schlag ausgesetzt werden, wenn
dies der Rat (die Vertretung der Einzelstaaten) mit qualifizierter
Mehrheit beschließt.
Vor dem Votum hatten 147 Abgeordnete aus der
EVP-Fraktion und von der extremen Rechten den Antrag auf geheime
Abstimmung durchgesetzt. Entweder wollten sie nicht, dass sie in
der Öffentlichkeit als Türkeigegner dastehen, oder aber
sie hofften, Unterstützung von Vertretern anderer Fraktionen
zu erhalten, die sich sonst nicht trauten, gegen die Verhandlungen
zu sein.
In der Debatte am 1. Dezember hatte die
Mehrheit der Sprecher der sieben Fraktionen den Bericht des
niederländischen Christdemokraten Camiel Eurlings
unterstützt, in dem die Auffassung vertreten wird, dass die
Gespräche mit der Türkei ohne weitere Verzögerung
beginnen sollten. Obwohl es auch in der Fraktion der
Christdemokraten völlig unterschiedliche Positionen gab,
lehnte der Fraktionsvorsitzende der EVP, Hans-Gert Pöttering,
eine Aufnahme der Türkei grundsätzlich ab. Er warb erneut
dafür, den Türken eine privilegierte Partnerschaft
anzubieten, ein Alternativmodell, das in einer internen Abstimmung
aber nur von 92 Abgeordneten unterstützt wurde, während
79 dagegen stimmten. Vor allem italienische und britische
Parlamentarier plädierten für die Vollmitgliedschaft der
Türkei, während andere zumindest für die Auf-nahme
von Verhandlungen waren. Die 49 deutschen CDU/CSU-Parlamentarier
lehnten wie auch französische Abgeordnete der Regierungspartei
UMP Verhandlungen grundsätzlich ab. Eine Aufnahme dieses
Landes, sagte Pöttering, würde eine grundsätzlich
andere Union schaffen, weil sich die EU zu Tode erweitere. Niemals
in der Geschichte der europäischen Integration habe eine so
schwerwiegende Gewissensentscheidung getroffen werden
müssen.
Dieser Auffassung widersprachen
Sozialdemokraten, Liberale und Grüne vehement.
SPE-Fraktionschef Martin Schulz verwies darauf, dass die
Türkei ohnehin nur aufgenommen werden könne, wenn sie das
gesamte Gesetzgebungswerk der EU einschließlich des
einklagbaren Grundrechtskatalogs in der Europäischen
Ver-fassung übernehme. Wenn sie die schaffe, werde zugleich
der Beweis erbracht, dass der Islam und die europäische
Werteordnung mit den Grundsätzen der Parlamentarischen
Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der
Menschenrechte keine Gegensätze seien. Wenn dies gelinge,
werde die EU ihre Werte der Demokratie und des Friedens in eine
Region exportieren, die diese mehr denn je brauche. Diesen Versuch
nicht zu wagen, wäre grob fahrlässig.
Die frühere Kommissarin Emma Bonino
erklärte für die Liberalen, ihre Fraktion hätte sich
einen wesentlich klareren Bericht ohne Vorbehalte und
Sonderbedingungen gewünscht. Es wäre es sinnvoller
gewesen, stärker auf die Menschenrechtssituation in der
Türkei einzugehen und auf die europäischen Grundwerte
hinzuweisen. Doch es gehe nicht nur um die Türkei, sondern
auch um Europa. Um die Frage nämlich, ob die EU auch wirklich
ein verlässlicher Partner sei, der früher gegebene
Versprechungen auch einhalte. Die Union sei ein politisches und
kein geographisches oder religiöses Projekt, und ihre
Identität liege weniger in den Wurzeln als in der
Gegenwart.
Für die Grünen forderte Joost
Lagendijk (NL) die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen
ohne Zusatzauflagen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft. Gerade
weil es in der Türkei noch viele Probleme gebe, seien die
Beitrittsverhandlungen die beste Garantie für weitere
Reformen. Sollte es weiterhin ernsthafte Menschenrechtsverletzungen
geben, könnten die Verhandlungen unterbrochen werden. Andre
Brie (D) bemängelte im Namen der Vereinigten Linken die
Verschleierung der wirklichen Situation in der Türkei,
insbesondere in der Minderheitenpolitik. Deshalb hätte sich
seine Fraktion besondere Kontrollinstrumente gewünscht.
Dennoch unterstütze sie die Verhandlungen mit dem Ziel der
Vollmitgliedschaft.
Für die EU-Kommission sagte der neue
Erweiterungskommissar Olli Rehm aus Finnland, dass die Türkei
seit dem Kommissionsbericht vom 6. Oktober mit der verabschiedeten
Strafrechtsreform und dem neuen Versammlungsrecht weitere positive
Schritte in Richtung EU getan habe. Wichtige Forderungen wären
aber noch die Änderung der Minderheitenpolitik sowie die
Schaffung einer wirksamen zivilen Kontrolle über das
Militär.
Für den EU-Ministerrat wies der
niederländische Europaminister Atzo Nicolai darauf hin, dass
die Türkei in der jüngsten Zeit geradezu
revolutionäre Fortschritte gemacht habe. Deshalb müsse
die Union auch die Befürchtungen Ankaras ernst nehmen, dass
für die Türkei Sonderbedingungen und unzumutbare
Ausnahmeregelungen beschlossen werden könnten.
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