"Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements"
"Neue Impulse für die Zivilgesellschaft geben"
Dr. Michael Bürsch, MdB
Vorsitzender der Enquete-Kommission "Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements"
"Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft" - mit dieser Leitlinie hat der Deutsche Bundestag diese Enquete-Kommission eingesetzt, die sich in den nächsten zwei Jahren intensiv mit der Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland befassen und politische Handlungsempfehlungen erarbeiten soll.
Das bürgerschaftliche Engagement ist in Deutschland fest verankert. Neuste Studien zeigen einerseits, dass dass sich bei uns rund 34 Prozent der Bürgerinnen und Bürger engagieren. In absoluten Zahlen ausgedrückt heißt das: Rund 22 Mio. Menschen (über 14 Jahre) übernehmen bei uns gemeinwohlorientierte Aufgaben in Vereinen, Projekten, Initiativen, Einrichtungen usw. Die politischen Rahmenbedingungen dieser vielen schon ehrenamtlich Tätigen verbessern zu helfen, ist ein vorrangiges Ziel der Enquete-Kommission. Zum anderen wird in der Forschung ein umfassendes Engagementpotential registriert. Zusätzlich zu den jetzt schon Engagierten sind offenbar mehrere Millionen Bürgerinnen und Bürger bereit, sich zu engagieren, sofern ihnen entsprechende Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Auf der Grundlage dieses ehrenamtlichen Potentials läßt sich die Vision entwickeln, dass das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland einen zentralen Eckpfeiler beim Entwurf eines "neuen Gesellschaftsvertrags" bilden kann. In dieser Vision werden die demokratischen und sozialen Strukturen durch die aktiv handelnden, an den gemeinschaftlichen Aufgaben teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger mit Leben erfüllt, verändert und auf zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnitten. Es geht dabei nicht - wie häufig unterstellt wird - darum, die Menschen als Ausfallbürgen für vorhandene oder vermeintliche Defizite in Staat, Wirtschaft oder Gesellschaft zu mobilisieren. Der hier gewählte Ansatz ist ein grundsätzlich anderer: Angesichts zahlreicher Veränderungen im sozialstaatlichen Bereich, der drängenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt und der vielfach konstatierten "Demokratieverdrossenheit" vieler Bürgerinnen und Bürger greift die laufende Debatte "Staat versus Markt" zu kurz: Die Prinzipien von Markt und Wettbewerb sind kein Allheilmittel für das sogenannte "Staatsversagen", aber ebenso wenig ist es für eine demokratische Bürgergesellschaft angemessen, alle Verantwortung für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit dem Staat zu überantworten.
Was bei dieser Debatte ausgeblendet wird, ist alles das, was zwischen den beiden Sektoren Markt und Staat angesiedelt ist: der Dritte Sektor, also die Nonprofit-Organisationen, das heißt Vereine, Verbände, Initiativen einerseits und der informelle Bereich der Familien, der Nachbarschaftshilfe andererseits - kurz: das enorme Potenzial an "wohlfahrtsrelevanten Gütern", die u.a. durch bürgerschaftliches Engagement in unterschiedlichen Bereichen produziert werden.
Auf die Arbeit der Enquete-Kommission übertragen, bedeutet dies: Mit Blick auf zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen wird es uns darum gehen, die "zivile Infrastruktur" in Deutschland zu beschreiben, sie in ihrer Zusammensetzung und in ihren Potenzialen zu analysieren und auf dieser Grundlage politische Handlungsempfehlungen zu formulieren. Beide Seiten - die Bürgerinnen und Bürger einerseits, die Institutionen andererseits - sollen ermutigt und aktiviert werden, sich stärker als bisher für bürgerschaftliches Engagement zu öffnen; denn die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, steht in direkter Wechselwirkung mit den Möglichkeiten zu bürgerschaftlichem Engagement, die von den Organisationen geboten werden.
Das angestrebte Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft darf kein Konkurrenzverhältnis sein. Wir müssen es als Steigerungsverhältnis denken: Die Forderung für die Zukunft zielt nicht auf mehr Staat oder weniger Staat, sondern auf einen aktivierenden, ermöglichenden Staat, der den Rahmen bildet für eine jeweils angemessene Mischung von bürgerschaftlichem Engagement und staatlicher Unterstützung. In diesem "Wohlfahrtspluralismus" haben auch Elemente des Marktes ihren Platz.
Damit ist ein großes Projekt skizziert: Die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements liegt in einer neuen Beziehung von Staat, Gesellschaft und Individuum. In diesem Verhältnis kommt dem Verbindungsstück zwischen Staat und Markt - dem Dritten Sektor - eine besondere Bedeutung zu: jenen Organisationen und Initiativen, die zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und dem Staat andererseits ein dichtes Netzwerk von Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen schaffen. Hier findet bürgerschaftliches Engagement gleichzeitig seine Voraussetzungen und sein Umfeld.
Es ist in den letzten Jahren viel zum Thema "Bürgerschaftliches Engagement" geforscht worden. Schon jetzt zeichnet sich ein vielfältiges Bild ab: Es gibt gut erforschte Bereiche, aber auch solche, über die wir noch zu wenig wissen; es gibt viel versprechende neue Ansätze und Modelle, aber auch großen Handlungsbedarf für die Politik. Die Befunde der wissenschaftlichen Studien und praktischen Projekte stehen oft noch unverbunden nebeneinander, nehmen teilweise sogar keine Notiz voneinander.
Deshalb hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" eingesetzt. Ihre gegenwärtige Arbeit besteht darin, die vorliegenden Erkenntnisse zu sichten und zu bündeln; denn um Pläne für die Zukunft entwerfen zu können, brauchen wir zunächst eine gute Kenntnis der Gegenwart: d.h. eine systematische Bestandsaufnahme des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland und zumindest ansatzweise auch im internationalen Vergleich.
Auf dieser Grundlage werden dann Forschungs- und Erkenntnislücken erschlossen, die in einem zweiten Schritt durch Gutachten, Expertisen, Anhörungen und insbesondere Dialog-Veranstaltungen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern gefüllt werden; denn zur richtigen Einschätzung der Perspektiven und auch der Schwierigkeiten bürgerschaftlichen Engagements reicht es nicht aus, die Experten aus Wissenschaft und Verbänden zu Rate zu ziehen - wir müssen auch und gerade die Engagierten selbst zu Wort kommen lassen, und dazu braucht es Dialoge. Einen Dialog zu führen, setzt gleichberechtigte Partner voraus, die Fähigkeit zuzuhören und im Gespräch aus dem Gespräch zu lernen. Wie wir miteinander reden, sagt viel darüber, wie wir einander behandeln, und ich denke, wir müssen mit einer dialogischen Haltung auf bürgerschaftliches Engagement zugehen, um politisch damit angemessen umgehen zu können. Sicherlich hängt die Förderung bürgerschaftlichen Engagements in Zukunft immer stärker von geeigneter Kommunikation ab. Deshalb haben wir uns in der Kommission vorgenommen, neue Methoden und Veranstaltungsformen zu erproben, um mit den engagierten Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen.
Die Kommission hat sich vorgenommen, begründete Empfehlungen zur Förderung und Ausgestaltung des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu entwickeln - mit dem Ziel einer Stärkung der Bürgergesellschaft einerseits und der Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Bürgergesellschaft andererseits.