Übernahme der Präsidentschaft der Europäischen Bewegung
Es gilt das gesprochene Wort
"Meine verehrten Damen und Herren,
seit dem 3. Oktober 1990 bin ich Bürger der Europäischen Union. Sie haben soeben denjenigen aus dieser Versammlung zum Präsidenten der Europäischen Bewegung gewählt, der wahrscheinlich die jüngste, die kürzeste Unionsbürgerschaft unter Ihnen hat. Ich danke Ihnen für die Wahl und für Ihr Vertrauen.
In diesem Moment bin ich zum zweiten Mal Nachfolger von Frau
Prof. Süssmuth geworden. Die Bundestagspräsidentin
Süssmuth hat sich als Präsidentin der Europäischen
Bewegung in einem Ausmaß verdient gemacht, das Sie, meine
verehrten Anwesenden, auf die Idee gebracht hat, auch dem
Bundestagspräsidenten Thierse die Präsidentschaft dieser
Bewegung anzutragen. Ich hoffe, den damit verbundenen Erwartungen
gerecht werden zu können. Und mir scheint, diese Erwartungen
sind der beste Dank und die beste Würdigung, die Sie Frau
Süssmuth entgegenbringen können. Sie hat in der Tat der
Sache Europas aufgeholfen.
Meine Bereitschaft auch hier ihre Nachfolge anzutreten, hat jedoch
nicht damit zu tun, was vielleicht eine Tradition werden
könnte: die Tradition dem oder der jeweiligen
Bundestagspräsidentin die Präsidentschaft der
Europäischen Bewegung anzutragen. Es gibt noch viele andere
Persönlichkeiten, die diese Aufgabe wirksam erfüllen
könnten. Meine Gründe sind andere.
Der erste Grund ist die Überzeugung: Europa braucht
bürgerliches Engagement, Europa braucht das Engagement der
großen gesellschaftlichen Organisationen und Verbände.
Europa wächst von unten zusammen, der politische Wille von
oben allein genügt dazu nicht. Am Anfang der europäischen
Integrationsgeschichte hat, wenn man so will, bürgerliches
Engagement gestanden. Das war nach dem I. Weltkrieg. Nach dem II.
Weltkrieg gab es sogar eine massenhafte europäische
Begeisterung für ein Werk der Integration, die ein Fundament
bildete für die pragmatische, schrittweise Einigung.
Europäische Einigung war der Wille zum Frieden in Europa.
Dauerhafter Frieden war auf der ersten Tagung der Europäischen
Bewegung im Mai 1948 in Den Haag eine großartige Vision.
Heute ist diese Version bereits eine gewohnte Gewißheit. Und
das ist ein überwältigender Erfolg der Europapolitik und
aller, die sie getragen und gestaltet haben.
Vielleicht ist es die Erschöpfung nach dem Erreichen des
Ziels, vielleicht aber diese Gewöhnung, die die positive
Begeisterung haben erlahmen lassen. Vielleicht ist es auch nur eine
akzeptable Ernüchterung nach früher Euphorie. Europa ist
eben schon normal, alltäglich.
Trotzdem: Europa ist nicht selbstverständlich und Europa ist
nicht fertig. Und Europa wird nicht vollendet werden können,
ohne die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger.
Für die Demokraten in der DDR, die die große Mehrheit
der Mitglieder der im März 1990 gewählten Volkskammer
stellten, war eines ganz selbstverständlich klar: Wir wollten
die deutsche Einheit und wir wollten sie als Beitrag zur Einigung
Europas. Denn das vereinigte Europa bedeutet Frieden und
Demokratie. Aus dieser Überzeugung übernehme ich die
Aufgabe als Präsident der Europäischen Bewegung.
Das vereinigte Europa existiert aber nur im Norden, Süden und
Westen des Kontinents. Europa aber ist mehr als die heutigen
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Man muß nur
besuchsweise nach Prag, Warschau und Budapest fahren, um sofort zu
spüren, daß auch dort Europa ist. Und ich müsste
die Slowakei, die baltischen Staaten, alle jene, mit denen ich 40
Jahre lang gemeinsam im sozialistischen Lager leben mußte, im
selben Atemzug nennen. Ich will etwas bescheidener bleiben, denn
die Verhältnisse, die sind nicht so, daß wir alle
Beitrittswünsche auf einmal erfüllen könnten.
Politisch wie ökonomisch würden wir uns verheben. Weder
Rom noch der Kölner Dom wurden in einem Tag gebaut, deshalb
darf man sich durchaus Ziele stecken, die heute noch utopisch
erscheinen mögen.
Noch immer und immer wieder gilt: dieses Europa ist kein
bloßer Selbstzweck. Der Zweck ist Frieden und ist
Demokratie.
Die Festigung von Frieden und Demokratie bedeutet aber auch
Frieden und Demokratie in der Union. Und das ist der zweite Grund
dafür, daß ich jetzt hier stehe.
Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union sind die
zwei Seiten derselben Medaille. Und bei der Vertiefung der
Europäischen Union kommt es auf die Qualität an. Die
Strukturen der Union müssen demokratisch sein, wir brauchen
eine europäische Öffentlichkeit, die genauso
leidenschaftlich das europäische Gemeinwohl diskutiert, wie es
die nationalstaatlichen Öffentlichkeiten jeweils tun. Die
gegenwärtige deutsche Ratspräsidentschaft entscheidet mit
darüber, ob wir auf beiden Wegen ins Stocken geraten, oder ob
wir ein gutes Stück voran kommen.
Ich stehe hier nicht, im Ihnen das Programm dieser
Präsidentschaft zu verkünden. Sinnvoll ist es dagegen,
einige Erwartungen an die Präsidentschaft - aber auch an die
anderen europäischen Regierungen und Parlamente - zu
formulieren:
-
Wir brauchen Schritte, Erfolge auf dem Weg, die Finanzen der Union in Ordnung zu bringen. Es hat keine Perspektive, weiterhin über 50% des Etats der Union für den Agrarmarkt auszugeben. Die Angleichung von Lebensverhältnissen in Europa ist existentiell für die Union. Sie ist nicht umsonst zu haben. Wenn daneben auch die Waagschalen von Geben und Nehmen etwas ausgeglichen werden können, ist das erfreulich.
Wenn allerdings jemand glaubt, das reiche Deutschland könne seine Nettozahlerposition überhaupt verlassen, der hat den Sinn der Integration nicht verstanden. -
Wir brauchen eine Reform der Institutionen. Sie ist nötig, um der demokratischen Kontrolle willen; sie ist nötig, um im Zuge der Erweiterung das Entstehen eines bürokratischen Wasserkopfes zu vermeiden; sie ist auch nötig, um die Institutionen und Entscheidungsprozesse näher an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen.
Ich bin überzeugt, dafür muß kein Rad neu erfunden werden; es müssen nur die in Maastricht, in Amsterdam und in der Agenda 2000 vorgezeichneten Wege und Regeln beschritten bzw. mit Leben erfüllt werden. Ich bin aber besorgt, angesichts der täglichen Nachrichten über die Vorbereitung des nächsten, des Berliner EU-Gipfels Ende dieses Monats, ob der Wille dazu in allen europäischen Hauptstädten ausreichend entwickelt ist.
Es wird von den nächsten Monaten abhängen, ob und wie schnell wir auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung vorankommen können. Ich teile jedenfalls die Auffassung unseres Außenministers, daß wir eine europäische Verfassung brauchen.
Ich sehe auch in den sehr pointierten Vorstellungen etwa des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten über die Rolle der Regionen, der ehemalige Grenzen überschreitenden Regionen, eine realistische, wünschenswerte, identitätsstiftende Perspektive.
Unsere Aufgabe wird es sein, mit dafür zu sorgen, daß die Politik und die Bürger mit "Europa" wieder eine Vision verbinden, wie das zum Teil in den 50er Jahren in der Bundesrepublik und in Frankreich schon einmal der Fall war. Die Vision und die Hoffnung von einem friedlichen Kontinent, in dem die Völker und Staaten solidarisch zu gegenseitigem Nutzen miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, in dem Grenzen nichts mehr bedeuten sollten. Ich kann Ihnen versichern, daß wir Ostdeutschen 1988/89 von diesen Visionen und Hoffnungen beseelt waren, als wir mit dem Fall der Mauer über Nacht zu Bürgern des freien Europas wurden.
Wir haben in einem nicht ganz einfachen Entwicklungsprozeß lernen müssen, daß man für die Realisierung von Visionen und Hoffnungen selbst etwas tun muß. Freiheit, Wohlstand, Frieden, Solidarität und Einheit müssen täglich neu errungen werden, um dauerhaft zu sein. Und diese Erkenntnis scheint mir nicht nur auf die deutsche sondern auch auf die europäische Integration zuzutreffen.
Ich bin sehr vorsichtig, Vergleiche zu ziehen. Und sicherlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen der deutschen und europäischen Einigung. Aber eines haben wir im Zusammenhang mit der deutschen Einheit - glaube ich - alle gelernt, was wir auch bei der europäischen Integration beherzigen sollten:
Es ist eine Sache, die staatliche Einheit herzustellen und eine gemeinsame Währung zu schaffen - es ist aber eine ganz andere Sache, für die innere, für die gesellschaftliche Einheit zu sorgen, und es ist noch einmal eine Sache, sich dieser Aufgabe in Permanenz zu stellen.
Wie sieht es nun mit der inneren europäischen Einheit aus und welche Erfahrungen aus dem deutschen Einigungsprozeß lassen sich auf die europäische Einigung möglicherweise anwenden.
Wenn wir die innere Einheit zum Maßstab für den Zustand des Integrationsprozesses in der Europäischen Union machen, dann müssen wir feststellen, daß wir davon - soweit es unser Land und unsere Bürgerinnen und Bürger betrifft - noch ein gutes Stück entfernt sind. Wir machen nahezu täglich Fortschritte in der weiteren staatlichen Ausgestaltung Europas, wir haben schon weitgehend eine europäische Wirtschaftsunion, haben jetzt eine gemeinsame Währung für 11 Mitgliedsländer und wir bemühen uns, auch der Sozial-Union näher zu kommen. Aber europäisches Denken ist noch keine Stärke der Deutschen, erst recht nicht, wenn Europa auch Mittel- und Osteuropa umfaßt. Europa kann nur dann zu einem gemeinsamen Haus für alle Europäer werden, wenn seine Bewohner es auch als ihr Haus betrachten und sich für den guten Zustand des ganzen Hauses mit all seinen Zimmern und für das Wohlergehen aller Bewohner verantwortlich fühlen. Und unter Verantwortung verstehe ich eine tätige und eine permanente Verantwortung, keine der Sonntagsreden oder der Sonntagskollekte.
Hier stehen wir erst am Anfang. Und - da sollten wir uns nichts vormachen - es ist eine Aufgabe, die uns in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen wird. Umso wichtiger ist es, daß wir jetzt mit Nachdruck beginnen und daß wir sagen, wohin wir wollen.
Der europäische Integrationsprozeß verlief in den vergangenen Jahrzehnten nach den Vorstellungen von Jean Monnet ganz pragmatisch Schritt für Schritt. Es ging um die Überwindung der Folgen des 2. Weltkrieges. Aus der Erkenntnis, daß das soziale Wohlbefinden möglichst vieler, möglichst aller Europäer die beste Voraussetzung für Aussöhnung, friedliches Miteinander, Solidarität und immer mehr Gemeinsamkeit ist, hatte die Wirtschaft ein starkes Übergewicht - nicht zuletzt auch deshalb, weil politisch Anfang der 50er Jahre noch nicht viel möglich war. Diese Politik der kleinen Schritte war - das kann man heute ohne Übertreibung sagen - über alle Maßgaben erfolgreich.
Die nächsten Schritte der europäischen Integration müssen breiter, müssen demokratischer legitimiert sein als dies zum Teil in der Vergangenheit der Fall war. Die Politiker sind gefordert, den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Wählerinnen und Wählern klar zu sagen, wo sie hin wollen, wie das Europa des Jahres 2010, 2020 und 2050 aussehen sollte.
Es wird möglicherweise überraschen, aber die
gegenwärtige Auseinandersetzung über eine Reform der
deutschen Staatsbürgerschaft hat mehr mit Europa und mit
unserer Europatauglichkeit zu tun, als die alltäglichen
Argumente und Schlagworte vermuten lassen. Es geht hier um die
Frage nach Abgrenzung oder Offenheit. Wer heute "gegen die
Ausländer unterschreiben" will, ist der morgen bereit, unsere
polnischen Nachbarn oder in einer ferneren Zukunft die
zypriotischen Europäer oder gar unsere türkischen
NATO-Verbündeten als gleichberechtigte Staatsbürger der
Europäischen Union zu akzeptieren?
Die Frage allein macht deutlich, wie eins mit dem anderen
zusammenhängt. Ein vereinigtes Europa schaffen zu wollen,
bedeutet auch, offen für andere, für fremde
Einflüsse zu sein, bedeutet auch eine gemeinsame
europäische Migrationspolitik zu entwickeln, die nicht nur
eine Abschottungspolitik sein darf. Und Europa darf sich auch nicht
abgrenzen gegenüber z.B. Nordafrika oder Rußland. Diese
Erfordernisse stellen auch Anforderungen an unsere Kulturpolitik.
Wir müssen uns fremde oder uns fremd erscheinende Kulturen
kennenlernen. Wir müssen gegen die Sensation der schlechten
Nachrichten wissen wollen: unter den Polen sind die Diebe eine
Minderheit, unter den Anhängern des Islam sind die
Fundamentalisten eine Minderheit, unter den Kurden sind die
Gewaltbereiten eine Minderheit. In all diesen Staaten und Kulturen
sind zivilisierte Kräfte am Werk, die Extremisten und
Fundamentalisten abzuwehren, so wie wir es mit den
Rechtsextremisten tun und tun müssen.
Unsere Vision ist die globale Zivilgesellschaft, nicht aber der
Kampf der Kulturen!
Ich wollte mich bewußt nicht nur auf die Tagespolitik beschränken. Die Europäische Bewegung ist nicht die Regierung, sie ist nicht der einzelne, definitierte Interessen verfolgende Verband, sondern ein pro-europäischer Zusammenschluß "über den Tag hinaus".
Nur dadurch, daß wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen, wo wir hin wollen, geben wir ihnen die Möglichkeit, sich dazu zu verhalten, nur so schaffen wir für alle Beteiligten, für die Bürger, für die Politik und natürlich auch für unsere Partner in Europa Orientierungspunkte und Perspektiven.
Deutschland wird auch in Zukunft europäisch sein und das heißt, es wird Motor für eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses sein, es wird sich vehement für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger engagieren und - last but not least - wird unser Land Motor für eine Überwindung der Teilung in Europa und damit für die Erweiterung der Europäischen Union sein. Wir Deutschen wissen, was wir der europäischen Einheit verdanken, so, wie wir auch wissen, was eine Teilung des Kontinents bedeutet. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."