Eröffnungsvortrag anläßlich des Geschichtsforums "Getrennte Vergangenheit - gemeinsame Geschichte?" im Preußischen Landtag in Berlin am 28. Mai 1999
Es gilt das gesprochene Wort
"Jahrestage und noch dazu runde Jubiläen sind immer ein wichtiger Anlaß für Reflexionen über die Entwicklung und den aktuellen Zustand unseres Ge-meinwesens. Ein solches Innehalten inmitten der schnellebigen Zeitläufe ist gewiß eine Notwendigkeit für eine Demokratie, die sich nicht auf von außen vorgegebene, allgemeinverbindliche Sinnstrukturen beziehen kann, sondern die sich Sinn und Orientierung im pluralen öffentlichen Diskurs immer wieder neu erarbeiten muß. Ein solches Nachdenken hängt einerseits zusammen mit der Selbstvergewisserung über zentrale Werte und Normen des politischen Zusammenlebens, über ihre Geltung und die Anerkennung der Begründungen. Begreifen wir die Nation, sehr, sehr nüchtern gesprochen, als eine Art "Problemlösungsgemeinschaft", dann zielt solches Nachdenken auch auf eine Bilanz: Was waren die zu lösenden Probleme? Wie war die Ausgangssituation, was wurde erreicht, wie ist die jetzige Lage? Mit welchen Wahrnehmungsmustern von Vergangenheit und Gegenwart, mit welchen unterschiedlichen Sichtweisen der Probleme, mit welchen Mentalitätsbeständen und Zukunftsvorstellungen haben wir es - als zuvor gespaltene und jetzt vereinigte Problemlösungsgemeinschaft - zu tun? Diesen Fragen wird sich dieser Kongreß stellen. Er tut es in Bezug auf die letzten fünfzig Jahre unter der Frage: "Getrennte Vergangenheit - gemeinsame Geschichte?".
Die Daten - 1949, 1989, 1999 - erinnern uns an Weichenstellungen und Meilensteine in diesem historischen Prozeß. Sie werden es mir nachsehen, daß ich bei der Jahreszahl 1999 nicht den tiefen Einschnitt unerwähnt lassen kann, der mit diesem Datum verknüpft ist. Zum ersten Mal seit dem Jahre 1945 befinden sich deutsche Soldaten wieder in einem Krieg. Seien Sie unbesorgt, ich werde jetzt keine Rede zum Kosovo-Konflikt halten. Aber es hieße doch einen allzu engen, allzu begrenzten Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte werfen, wollte man sich dabei nur auf das Verhältnis der beiden deutschen Teilstaaten und die Schwierigkeiten ihres Zusammenwachsen beschränken.
Ja, wir haben es gewußt, daß der Aufbruch 1989, der Fall der Mauer, und 1991, der Zusammenbruch der Sowjetunion, das Ende der europäischen Nachkriegsordnung bedeuteten. Aber wußten wir schon, wohin die Reise geht? Haben wir nicht eher angenommen, daß die Folgekonflikte des Zerfallsprozesses der Sowjetunion und eben auch Jugoslawiens, ich nenne nur stellvertretend Tschetschenien und Bosnien, gewissermaßen als Nachhutgefechte ausgetragen würden, uns also in West- und Mitteleuropa doch nicht ganz direkt und unmittelbar tangieren würden? Nun, wir sind eines Besseren belehrt worden. Europa wächst nicht ohne seinen östlichen Teil zusammen, und spätestens über die Auseinandersetzungen um Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge kommt diese tragische Konfliktsituation ganz hautnah in unserer eigenen Lebenswirklichkeit an.
Politische Fehler, Fehler der internationalen Diplomatie, die der Deutschen eingeschlossen, haben den Konflikt auf dem Balkan weiter eskalieren lassen. Und nun sind wir Beteiligte hilfloser Bombardements der Nato unter Führung der USA, die uns neben dem unsäglichen Leid der von Milosevic drangsalierten Kosovo-Albaner und der verängstigten serbischen Bevölkerung zugleich eines ganz schonungslos vor Augen führen: wie weit wir noch von einer tragfähigen und wirkungsvollen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik entfernt sind, die allein in der Lage wäre, unseren gemeinsamen Kontinent dauerhaft zu befrieden.
Gleichgültig, ob dieser Konflikt die Jahrtausendwende überdauert - was wir alle nicht hoffen: Wir hatten uns allzu schnell an das griffige Diktum Eric Hobsbawms vom "kurzen zwanzigsten Jahrhundert" gewöhnt und geglaubt, das das neue Jahrhundert jenseits der totalitären Strukturen des Faschismus und des Stalinismus unter den Vorzeichen von Demokratie und Menschenrechten gestalten zu können. Allenfalls um die offene Frage schien es sich noch zu handeln, ob mit Samuel Huntingtons These ein neuer "Kampf der Kulturen" zwischen westlicher Moderne und islamischem Fundamentalismus an die Stelle der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges treten werde.
Irritierend ist nicht nur die offensichtliche und zugleich vordergründige Parallele, daß Hobsbawms kurzes Jahrhundert mit einem auf dem Balkan ausgelösten Krieg begann, und nun eben nicht schon 1990/1991 zuende ging, sondern in einen neuen Balkan-Krieg gemündet ist. Es ist vor allem die neuerliche Ungewißheit, welche Dauer und welche Formen die Folgekonflikte annehmen werden, die sich aus dem Zusammenbruch der sogenannten "realsozialistischen" Systeme entwickeln, die uns beunruhigen muß. Auch wenn auf dem Gebiet der GUS bzw. der ehemaligen Sowjetunion zur Zeit kein Krieg oder Bürgerkrieg geführt wird, macht die dortige Lage, die in Rußland eingeschlossen, nicht weniger sorgenvoll.
Ich halte es noch nicht für ausgemacht, ob wir wirklich davon sprechen können, daß 1989/90 eine neue Epoche, ein neues Jahrhundert schon mit einem neuen prägenden Paradigma begonnen hat, oder ob die Folgekonflikte des zwanzigsten noch weit in das einundzwanzigste Jahrhundert hineinreichen werden. Nur soviel steht fest: Der Kosovo-Konflikt unterstreicht, daß es heute keine deutsche Zuschauerrolle mehr gibt, daß wir als eines der wichtigsten Länder der Europäischen Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen haben - wie auch immer, und selbst darüber entscheiden wir nicht gänzlich allein - und dies in einer Situation, in der die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens der Deutschen in einem geeinten Land bis heute mit den Händen zu greifen sind.
Dieses Zusammenwachsen, die sogenannte "innere Einheit" ist nicht nur ein Problem mit einer sozialen und ökonomischen Dimension. Vielmehr sind es gerade die kulturellen und mentalen Aspekte, zu denen auch die "Erinnerungskultur" gehört, bei denen die Schwierigkeiten am offensten zutage liegen. Immerhin: In der Fragestellung kommt der Bezug zu einer ganzheitlichen Sicht deutscher Geschichte zum Ausdruck, der in den letzten Monaten in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht selbstverständlich gewesen ist. Gerade jetzt wird in Reden, Aufsätzen und Feiern das fünfzigjährige Bestehen des Grundgesetzes oder der Bundesrepublik Deutschland gefeiert. Dieser gewiß auch sympathische Trubel bezieht sich wie selbstverständlich vor allem auf die Entwicklungen und die Geschichte des westlichen Teils der Bundesrepublik.
Nicht nur ich, sondern mit mir viele Ostdeutsche fragen: Reicht dieser "westliche" Blick auf die deutsche Geschichte? Wo bleibt bei den Jubiläumsfeiern die andere Seite der geteilten Nation, die Geschichte der DDR, wo werden die damaligen Verhältnisse, wird die Lebenspraxis der Ostdeutschen einbezogen, unabhängig davon, daß die kommunistische Diktatur keine echte demokratische Legitimität beanspruchen konnte? Wo geht es um die ehemaligen DDR-Bürger, die aufgrund der SED-Diktatur in vielem anderes Wissen sammelten, andere Weltsichten ausprägten, anderen Anforderungen genügen mußten und deshalb andere Lebenserfahrungen mitbringen? Fünfzig Jahre Deutschland, das heißt doch in Bezug auf die deutsche Geschichte sowohl Verbundenheit als auch Getrenntsein. Die Deutschen besitzen eine gemeinsame Geschichte in doppelter Staatlichkeit und zugleich vierzig Jahre getrennte Erfahrung.
Natürlich erscheinen in der historischen Retrospektive die vierzig Jahre DDR nur als eine Episode in der langen Geschichte der Deutschen - und dies heute klarer als in den vergangenen Jahrzehnten. Im politischen Alltagsbewußtsein der letzten Jahrzehnte war das nicht immer so. Auf diesem Geschichtsforum geht es um die Aufarbeitung der unterschiedlichen und doch aufeinander bezogenen Entwicklung beider deutscher Staaten, von deren Gründungen bis 1989/90, um Ausbildung und Wirkung von Herrschaftsstrukturen und Mentalitäten, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen, um Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung der friedlichen Revolution vor zehn Jahren, um die Frage, was die neun Jahre nach der Wiedervereinigung für die fünf östlichen Bundesländer und für Deutschland insgesamt gebracht haben. Es kann nicht ausbleiben, daß dazu bei den Historikern eine Kontroverse um das richtige Paradigma entstanden ist. Konsens ist, soweit ich sehe, daß es erstens die Ergebnisse der historischen Wissenschaft in der DDR kritisch aufzunehmen gilt, und zweitens, daß die alte westdeutsche Trennung in DDR-Forschung einerseits und Untersuchungen zur westdeutschen Geschichte, die dann mit der deutschen Geschichte gleichgesetzt wurde, andererseits, aufzugeben ist.
Darüber hinaus gibt es vor allem zwei Positionen. Die eine Position fordert, nach 1989/90 nun radikal - ungeachtet der Zweistaatlichkeit - von einer gesamtdeutschen Geschichte auszugehen und damit gemeinsame Problemlagen und Traditionen in ihren Wirkungen und Brüchen zu analysieren. Die andere Position gibt dem Forschungskonzept einer Geschichte als Parallelgeschichte den Vorzug, um zeitgeschichtliche Ereignisse und den jeweiligen Denkhorizont in West und Ost besser zu erfassen. Ich meine, beides braucht sich nicht auszuschließen. Wir brauchen Untersuchungen zu den langfristigen Konstellationen deutscher Geschichte - wie beispielsweise zur sozialen Sicherung oder zu obrigkeitsstaatlichen Mentalitäten. Wir benötigen ebenso diejenige Forschung, die sich in zeithistorischer, modernisierungstheoretischer oder institutionengeschichtlicher Perspektive mit Entwicklungen und Ereignissen in beiden deutschen Staaten befaßt. Die historische Forschung braucht plurale Forschungszugänge, nicht nur, um sich fachwissenschaftlicher, historischer Objektivität zu nähern, sondern auch, um ihrer Aufklärungs- und Orientierungsaufgabe für uns in Politik und Gesellschaft gerecht zu werden.
Deswegen begrüße ich die große Beteiligung der historischen, politischen, soziologischen und anderen Wissenschaften an dieser Tagung. Sie erlaubt es, Forschungsergebnisse über die DDR und die Bundesrepublik sowie den Transformationsprozeß der letzten Jahre in der Vielfalt der Perspektiven vorzustellen. Ich erhoffe mir, daß über den Wissenstransfer und die Reflexionen aus west- und ostdeutscher Sicht vor allem die Multiplikatoren in den Schulen und Weiterbildungseinrichtungen neue Impulse erhalten. Denn das Wissen übereinander ist ja nach wie vor unterentwickelt und oft einseitig, was noch immer Fehleinschätzungen programmiert. Aber ebenso wichtig, scheint mir, ist es, daß diese Diskussionen und Gespräche um das Trennende im Gemeinsamen und das Gemeinsame im Trennenden unter West- und Ostdeutschen "auf gleicher Augenhöhe" stattfinden. Eine solche gegenseitige Anerkennung und das Geltenlassen unterschiedlicher Erfahrungen ist ein wichtiger Beitrag zur inneren Einheit Deutschlands. Denn aus beidem, dem Aufbau gemeinsamen Wissens und dem gegenseitigen Respekt vor den unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensleistungen, wird die Grundlage für die Ausbildung jener Identität gelegt, die sich einmal im Bewußtsein einer selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Deutschen jenseits von Ost und West (und Süd und Nord) ausdrücken wird und die zugleich offen ist für eine europäische Perspektive.
Noch sind wir allerdings nicht soweit. Auch wenn die Metapher von der "Mauer in den Köpfen" Erinnerungs- und Erfahrungsdifferenzen zu stark betont, ist es eben doch richtig, daß nicht nur wirtschaftliche und soziale, sondern auch mentale Unterschiede bestehen. Dazu gehört auch der Blick auf eine unterschiedlich erlebte Geschichte. Als beispielsweise das Institut für Demoskopie in Allensbach anläßlich des 50. Jahrestages der Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg danach fragte, wer die entscheidende Rolle beim Sieg über den Faschismus in Deutschland gespielt habe, antworteten 69% der Westdeutschen: "Die Vereinigten Staaten", 87% der Ostdeutschen: "Die Sowjetunion". Man könnte viele weitere solcher Beispiele anführen, die zeigen, daß unterschiedliche Geschichtsbilder Prägekraft behalten haben. Für den inneren Zusammenhalt und die politische Kultur unseres Gemeinwesens ist es aber entscheidend zu klären, was - in kritischer Aneignung unterschiedlicher Sichtweisen - zu einem gemeinsam geteilten Geschichtsbewußtsein beitragen kann.
Moderne Gesellschaften werden ja nicht nur durch Wohlstand, Geld oder Information zusammengehalten, sondern ebenso durch die Orientierung schaffende Verständigung über die Vergangenheit, und zwar im Hinblick auf das Verständnis der Gegenwart und die Deutung der Zukunft. Die Bedeutung des Geschichtsbewußtseins liegt ja gerade darin, daß es die individuelle Biographie mit der Geschichte der eigenen Gesellschaft, der eigenen Nation, verbindet. Die Frage, wer einer ist, beantwortet sich auch durch die Erzählung dessen, wie er geworden ist. Das gilt für die einzelnen Individuen wie für Kollektive, für Nationen. Geschichtsbewußtsein, also die Art, in der das Vergangene in Vorstellung und Erkenntnis gegenwärtig ist, bildet einen elementaren Bestandteil der Identität eines Volkes, einer Nation, die eben über die Problemlösungsgemeinschaft hinaus auch eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft ist (bzw. sein muß, um ihre Probleme lösen zu können). Wenn der Mensch, um mit Arnold Gehlen zu sprechen, ein Mängelwesen ist, dem die Schaffung des eigenen Gehäuses existentielle Aufgabe ist, dann gehört Herkunfts- und Geschichtsbewußtsein zu ihm dazu. Wenn Menschen sich neben Sprache und Kultur aufgrund einer gemeinsamen Geschichte als Nation begreifen, dann deshalb, weil sie über lange Zeiträume hinweg mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in Erleben und Erfahren teilen und sie sich darin von anderen Nationen abheben. Aus diesem Bewußtsein bildet sich dasjenige Zusammengehörigkeitsgefühl, das gegenseitiges Einstehen füreineinander und die Verantwortung für die Handlungen auch früherer Generationen entstehen läßt. In Bezug auf die Deutschen kann man feststellen, daß trotz in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich erlebter Geschichte dieses Band einer gemeinsamen Nation insgesamt gehalten hat.
Allerdings haben wir es dabei mit einem gewissen Paradoxon zu tun, für das ich mir nicht nur auf dieser Tagung noch eine genauere wissenschaftliche Durchdringung und Untersuchung wünsche. Schauen wir auf die DDR, so läßt sich feststellen, daß die partei- und staatsoffizielle Propaganda in den fünfziger Jahren noch ganz stark vom Pathos der einen Nation und dem Ziel der staatlichen Einigung geprägt war. Erst nach dem Bau der Mauer und mit der Verschärfung der politischen Ost-West-Auseinandersetzung ging die SED-Führung dazu über, an einem Geschichtsbild arbeiten zu lassen, das auf der Herausbildung einer eigenen "sozialistischen Nation" im Teilstaat DDR zielte. Friedrich der Große, Bismarck und andere wurden neu entdeckt und interpretiert, um diesen Prozeß zu fördern. Wir wissen, daß dieser nahezu ergebnislos geblieben ist. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gesamtdeutschen Nation ist - natürlich auch mit Blick auf Demokratie und Wohlstand im westdeutschen Teilstaat - in der DDR-Bevölkerung lebendig geblieben und gehörte zu den Voraussetzungen dafür, daß die Vereinigung 1989/90 möglich wurde.
In der Bundesrepublik verlief dieser Prozeß durchaus gegenläufig. Die Westorientierung hatte in der Frühgeschichte eindeutig Vorrang. Erst in dem Maße, wie diese gefestigt und als unumkehrbar erschien und zugleich die DDR ihre Wiedervereinigungsorientierung aufgab, nahm in den Festreden der westdeutschen Staatspolitik das Pathos für die eine, gemeinsame Nation wieder zu. Aber auch dieser Versuch einer "Mentalitätsprägung von oben", das Wachhalten eines gesamtdeutschen Nationalgefühls, erwies sich als wenig erfolgreich. Wie die Ostdeutschen schmerzlich erfahren mußten, haben die Westdeutschen einen ausgesprochen selbstbewußten - positiv bewerteten Verfassungspatriotismus für ihren westdeutschen Nationalstaat ausgeprägt mit der Folge, daß für viele Westdeutsche die deutsche Vereinigung 1990 wenn schon nicht lästig, so aber doch gleichgültig blieb. Auch dieser eigentümliche, gegenläufige Prozeß gehört mit zu unserer noch genauer aufzuarbeitenden Nachkriegsgeschichte.
Deutsch-deutsches Zusammenwachsen wird es also nicht geben ohne eine intensivere Auseinandersetzung mit unserem Geschichtsbewußtsein. Die Forderung nach einem gemeinsamen Geschichtsbewußtsein darf aber nicht verwechselt werden mit einem einheitlichen oder verordneten Geschichtsbild. Im Gegenteil: Geschichtsbewußtsein bildet sich in einem differenzierten Prozeß kollektiver Aneignung der eigenen Vergangenheit heraus und wird dabei gerade durch unterschiedliche Zugänge geprägt - eigene und familiäre Erfahrungen, persönliche Gespräche, regionale Prägungen, soziale Milieus, wissenschaftliche Ergebnisse, staatliche Geschichtspolitik. Es ist zugleich durch Auswahl, Deutungen und Wertungen bestimmt, die jede Generation neu vornimmt. Deswegen fordert die eigene Vergangenheit auch zum kritischen Umgang mit ihr heraus. Erst in der kontroversen öffentlichen Auseinandersetzung kann sich das herausbilden, was Maurice Halbwachs das vielschichtige "kollektive Gedächtnis" nennt. In dieser Perspektive existiert allerdings ein weiterer spezifischer Unterschied zwischen den West- und Ostdeutschen, dessen Wirkungen in der gesellschaftlichen und politischen Kultur noch länger zu spüren sein werden. In der Bundesrepublik wurden mit der Entscheidung für eine demokratische Verfaßtheit und die soziale Marktwirtschaft gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen geschaffen, die andere geistige Prägungen und Verhaltensweisen zur Folge hatten als in der ehemaligen DDR, wo sich die SED als allmächtige Einheitspartei etablierte und die Diktatur eine Verbindung mit wirtschaftlicher Zentralplanung einging. Welche - auch langfristigen - Folgen das für den Verständigungshaushalt von uns Deutschen hat, ist vielleicht noch gar nicht abzusehen. Wir verfügen bis jetzt über keine angemessene Bestandsaufnahme. Es ist deswegen offen, was an Erfahrung angeeignet werden kann, was verloren gehen wird, gehen muß (so schmerzlich das ist ... für die Ossis ...).
Aber eines ist in diesem Zusammenhang gewiß. Was wir brauchen, ist eine größere Bereitschaft, von den persönlichen Erfahrungen, den eigenen biographischen Entwicklungen zu erzählen und diese dadurch für das öffentliche Gespräch zwischen den Generationen in West- und Ostdeutschland zugänglich zu machen. Das setzt zugleich eine gesteigerte gegenseitige Zuhörbereitschaft voraus. Sich den jeweils anderen Erfahrungen aussetzen, nicht gleichgültiges Abwenden, darum muß es uns in Ost und West unter dem Ziel der Aneignung getrennter Geschichten für ein gemeinsames Geschichtsbewußtsein gehen. Die Wissenschaften können dazu beitragen, daß das Subjektive, in dem Erzählgemeinschaften stehen, auch mit dem forschungsmäßig gesicherten Wissen zu einer übergreifenden Reflexion verbunden werden kann. Aber gibt es diese Zuhörbereitschaft noch, gab es sie? Im Januar 1997 schrieb ein ostdeutscher Journalist [Detlev Lücke]: "Wolfgang Thierses Forderung, daß wir uns unsere unterschiedlichen Biographien erzählen sollen, trifft inzwischen ins Leere. Es hört sowieso keiner hin." Er illustriert diesen resignierten Befund mit einer quadratischen weißen Mauer, die er in Hagen/Westfalen am dortigen Bahnhof mit folgender Aufschrift entdeckt hat: "17. Juni 1953 Aufstand der Arbeiter in Ostberlin - 13. August 1961 Bau der Mauer - 9. November 1989: Die Mauer fällt - Berlin 500 km."
Für das eigentliche Leben, für den Alltag der Menschen, die in diesen 40 Jahren DDR gelebt, gehofft, gelitten, ersehnt haben, stehen die Gedankenstriche als Leerstellen. 40 Jahre DDR - nichts als Irrtümer, Versagen und Verbrechen? Daß viele Ostdeutsche sich so schwer tun, in diesem geeinten Deutschland anzukommen, hat auch damit zu tun, daß ihre eigene Erinnerung an ihre erlebte und gelebte Geschichte eine ganz andere ist. Da gab es nicht das Schwarz-Weiß-Bild des guten, demokratischen und hoffnungsfrohen Neuanfangs der Bundesrepublik und der schäbigen, diktatorischen und düsteren Kopie der sowjetischen Entwicklung im Osten, in der DDR. Die Wirklichkeit war komplizierter, differenzierter, vielfältiger.
Aber in vielen der in diesen Tagen und Monaten gehaltenen Gedenk- und Jubiläumsreden klingt es so. Und die Versuchung ist ja allzu groß und nur zu verständlich, da es jetzt möglich ist, die Geschichte von ihrem Ende her zu betrachten und einzuordnen. Leider gehen dabei alle Grautöne verloren, und mit ihnen die Hoffnungen und Sehnsüchte, die trotz aller stalinistischen Verformungen in der Frühgeschichte der SBZ und der DDR auch steckten. Zutreffend schreibt der Journalist Jürgen Serke über diese retrospektive Geschichtsbetrachtung vergangene Woche im Stern: " Wie im Weichzeichner liegt die Bundesrepublik zu ihrem Jubiläum da: Ein Volk, das nach den Verbrechen des ‚Dritten Reiches' zurückgefunden hat zur zivilen Demokratie. In der Westintegration durch Konrad Adenauer, in der Öffnung nach Osten und der daraus folgenden Menschenrechtsdebatte durch Willy Brandt, in der von Helmut Kohl vollzogenen deutschen Einheit innerhalb der Europäischen Union und im reibungslosen Übergang zum sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder, der eine pazifistische Generation repräsentiert, die nicht mehr den Krieg erlebte und nun innerhalb der Nato mit dem Krieg im Kosovo konfrontiert ist." Und er fügt hinzu: "Die Bonner Gegengeschichte ist in diesem Bild nicht enthalten. Doch erst sie macht die Qualität der Bonner Geschichte mit ihrem so bewunderten zivilen Rechtsstaatsbewußtsein aus. Die Gegengeschichte war der permanente Protest gegen das, was Ralph Giordano später als Versagen die ‚zweite Schuld' der Deutschen nennen sollte. Zuerst ging dieser Protest fast unter. Im Aufbau der Bundesrepublik triumphierte als Surrogat von Moral die Erfolgsmoral. Erst siebzehn Jahre nach dem Siegertribunal von Nürnberg machte die Bundesrepublik selbst im Auschwitz-Verfahren den einstigen Tätern den Prozeß."
Indem wir der Neigung widerstehen, die Geschichte der Bonner Republik nur als beispiellose Erfolgsstory glattzubügeln, schaffen wir auch den Raum, die DDR-Geschichte einer differenzierten Betrachtung zuzuführen - fern ihrer Reduzierung auf bloße Repressionsgeschichte, aber genauso fern ihrer nostalgischen Verklärung, wie es in PDS-Kreisen noch häufig üblich ist. Bürsten wir also bewußt und vielleicht auch hier und da überzeichnet einiges gegen den Strich:
Die Kehrseite und vielleicht den Preis der gelungenen Westintegration der Bundesrepublik bildete die staatliche Vergangenheitspolitik, die mit der "Doppelstrategie von Amnesie und Amnestie, von Vergessen und Begnadigung", die zweifelhafte Fortsetzung von Nazi-Karrieren in Westdeutschland ermöglichte, wie es Paul Nolte kürzlich treffend in der FAZ formulierte. Und auf der anderen Seite: Trotz Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED, trotz gewaltsamer Enteignungen bei der Bodenreform und anderer Repressalien galt es für eine ganze Reihe von Literaten und Intellektuellen als ausgemacht, daß eher die DDR denn die BRD auf dem Weg zu einem besseren Deutschland war. Ich nenne nur einige Namen: Heinrich Mann und Anna Seghers, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht. Es war kein geringerer als Thomas Mann, der sich 1949 in Weimar für Deutschland einen Karl Marx wünschte, der Hölderlin gelesen hätte und umgekehrt. Hintergrund dieser Sympathien für die frühe SBZ bzw. DDR und eine gewisse Skepsis gegenüber der sich konstituierenden Bundesrepublik war nicht nur die allzu offensichtliche Abneigung des Weststaates, sich kritisch von der NS-Vergangenheit abzusetzen. Dazu gehörte auch eine Einschätzung, die ein späterer Beobachter so beschreibt:
"Alle deutschen Parteien, auch die CDU der Westzonen, verurteilten 1945 und 1946 ‚das kapitalistische Wirtschaftssystem'. Sozialismus aber ist das ‚Jahrhundert-Experiment einer ethischen Steuerung der Wirtschaft' ... ‚Sozialismus' war nach dem Kriege die Hoffnung von vielen Millionen Menschen, nicht nur in Deutschland." Der Betrachter, der dies formuliert, ist eigener sozialistischer Neigungen eher unverdächtig - es ist der Historiker Ernst Nolte.
Allzu schnell wurden allerdings im Westen Teile der alten Eliten in Staat und Wirtschaft wieder zu verantwortlichen Aufgaben herangezogen, wurde beschwiegen, was ihre Funktion innerhalb des NS-Systems war. Umgekehrt geht uns heute das Wort vom "staatlich verordneten Antifaschismus" in der DDR sehr leicht von den Lippen, nur vergessen wir dabei, daß sich staatliche Instrumentalisierung (zur falschen Legitimation und zur Geschichtsfälschung) und aufrichtiges persönliches Empfinden vieler einzelner in ihrem Erleben gerade nicht decken. Dies hat es eben auch gegeben: eine nach dem Krieg geborene DDR-Bürgerin, deren familiärer Hintergrund jüdisch-kommunistisch geprägt ist, und die aufgrund des erlebten familiären Umfeldes genau das bestätigt sieht, was in den Schulbüchern gelehrt wird. Sie nimmt eine DDR-"Wirklichkeit" wahr, in der die Bevölkerung vornehmlich aus Widerstandskämpfern besteht und daneben nur einigen Nazis.
Auch dies sind Gründe, warum ein so unerbittlicher Regime-Kritiker wie Rudolf Bahro bis zu seinem Tode die "historische Legitimität" der DDR verteidigt hat.
Wählen wir ein anderes Beispiel, das vielleicht für unsere heutigen Ohren noch schwerer erträglich und nachvollziehbar klingt. Uns allen, uns DDR-Bürgerinnen und -Bürgern besonders, ist die verbrecherische Rolle der Staatssicherheit der DDR bewußt. Die historische Forschung, die Enquête-Kommission des Bundestages, die Gauck-Behörde haben dazu eine Menge an Wissen in den vergangenen Jahren beigetragen. Aber zur historischen Wahrheit gehört auch, daß die erste Generation der darin tätigen Funktionäre zu einem großen Teil aus ehemaligen Spanien-Kämpfern und den KZ-Überlebenden bestand, also Personen, die im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner und nicht der Faschisten bzw. der Falangisten standen.
Gleichzeitig: Zum Aufbau des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes wurden vielfach Offiziere der NS-Wehrmacht und der SS herangezogen, deren demokratisches Engagement zunächst sicherlich mit einem großen Fragezeichen zu versehen war. Sind wir bereit, diese schwierigen und widersprüchlichen Teile der jeweiligen innerdeutschen Entwicklungen anzunehmen und sie als Teil eines gemeinsamen Geschichtsbildes auszuhalten? Behalten wir auch im Angesicht der im Rückblick unbezweifelbaren Delegitimierung der DDR und ihres Entwicklungsgangs im Auge, daß sich ihr Weg nur auf der Folie der Existenz einer Schutzmacht wie der Sowjetunion und dem Spannungsgeflecht des Kalten Krieges erschließt? Wir brauchen solche historische Betrachtungsweise, die zu erklären und nicht zu verurteilen sucht, ohne zugleich zu beschönigen oder zu exkulpieren, die den Handlungsrahmen wie -spielraum sichtbar macht.
Wie eine historisch gerechte Betrachtungsweise im Geflecht von Illusion, Irrtum und schrecklicher Realität gefunden werden muß und kann, dafür hat Wolf Biermann jüngst mit einem Beitrag zum Bau der Mauer im Jahre 1961 einen plastischen Beitrag geliefert. Gewohnt bekennerhaft formulierte er in der Überschrift: "Ich habe die Mauer mitgebaut". Aber nicht diese Provokation erscheint mir bedeutsam. Viel wichtiger ist, daß er die eigenen Motivationslagen offenlegt, die seine damalige Haltung bestimmt haben: "Ich hoffte darauf, daß wir uns mit diesem anachronistischen Kraftakt noch mal eine Chance erzwingen, die blutigen Fehler der Stalin-Zeit wiedergutzumachen... Landeskinder wie ich wollten also im Schutze dieses langgestreckten Bauwerks endlich, endlich demokratische Bedingungen schaffen, die es uns ermöglichen sollten, die Mauer so schnell wie möglich wieder abzureißen. In der Parteipresse wurde der Mauerbau allerdings dummfröhlich als glänzender Sieg über die bundesdeutschen ‚Krupps und Thyssens und Schlotbarone' gefeiert. Der SED-Propagandaapparat log die Niederlage begeistert in einen glorreichen Sieg um."
Sein Bekenntnis hört sich heute sicher befremdlich an. Aber nur eine derartig offene Sprache eröffnet Zugänge zu all denjenigen, die noch viel länger als er mit Hoffnungen, Illusionen, Verbohrtheit und sicher auch einem gerüttelt Maß an Selbstbetrug die DDR auf einem Weg wähnten, der in einer näheren oder ferneren Zukunft in eine demokratisch-sozialistische Entwicklung hätte münden können und sollen.
nun ist ja die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte nicht nur und zu allererst eine politische Geschichte gewesen. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich als Politiker Ihnen, den Fachwissenschaftlern, heute etwas über die Notwenigkeit von sozial-, alltags-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Zugänge sagen. Ich erhoffe mir allerdings, daß diese Konferenz hierzu einiges voranbringen wird. Erlauben Sie mir dennoch, dazu ein paar Beobachtungen und Anregungen beizutragen. Nicht nur wegen der vielbeschworenen Debatte um den deutschen Sonderweg halte ich es für unausweichlich, daß wir keine deutsche Nabelschau betreiben und mit untersuchen, wie sich unsere Entwicklung in beiden deutschen Staaten auf der Folie der europäischen Nachkriegsentwicklung darstellt. Dazu gehört die Einbettung dieser Betrachtung in die Debatte um den Fortgang der europäischen Moderne.
Von heute aus hieße die Fragestellung, ob das, was wir als Herausbildung einer noch unscharfen, aber gleichwohl wahrnehmbaren "Ostidentität" oder "Ostkultur" beobachten können, unter anderem auch besonderen Entstehungsbedingungen einer im Nachkriegsdeutschland nur unvollkommen gelungenen Modernisierung geschuldet ist.
Mancher von Ihnen wird sich an die Ausstellung vor drei Jahren im Deutschen Historischen Museum hier in Berlin erinnern, in der die Propaganda der frühen DDR thematisiert wurde. In einer Kommentierung wurde zutreffend festgehalten, daß die Bildsprache dieses zugleich hochkomplizierten wie äußerst simplen Systems stets eine Mischung aus Kitsch und Terror wiedergab, aus spießiger Heile-Welt-Ästhetik und Drohgebärde, aus Harmonieversprechen und Ausgrenzungshysterie. Bedauerlicherweise wurde in dieser Ausstellung kein Vergleich mit der zeitgenössischen Bundesrepublik versucht. Zumindest in der Plakatgestaltung hätte sich zeigen lassen, daß ästhetische Anleihen an die NS-Symbolik wie die Reproduktion von Feindbildern auf beiden Seiten stattfanden.
Hier hieß es "Weg mit dem Dreck", während Adenauer zwischen Besen und Kehrrichtschaufel davongefegt wurde. Dort starrten den Betrachter bedrohliche Asiatenaugen unter der Überschrift an: "Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau". Georg Seeßlen hat für die Geschichte der Deutschen insgesamt die These aufgestellt, daß wir - wenn überhaupt - nur gegen unseren Willen eine moderne Gesellschaft geworden sind. Das Moderne habe immer äußerlich bleiben müssen. Der Nationalsozialismus habe dies nur zum furchtbaren Dogma erhoben, indem er versprach, das deutsche Volk auch ästhetisch vor den Zumutungen der Moderne zu bewahren. Entsprechend sei auch in der Nachkriegsentwicklung die Moderne nur eine - insbesondere aus den USA - entliehene gewesen. Er erinnert unter anderem an die Heimatfilme der fünfziger Jahre. Sein Zwischen-Fazit: "Das Moderne in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war die verniedlichte Abbildung des Modernen in der großen Welt." Und selbst in der Gegenkultur der 68er-Bewegung entdeckt er neben dem Protest gegen die Erwachsenen-Herrschaft Elemente des Protests gegen die Moderne selbst.
Und was heißt das für die zeitgenössische DDR? In ihr entwickelten sich zwei durchaus unterschiedliche Ästhetiken in der Alltagskultur: zum einen die eigene, vielfach nur schlecht imitierende Warenwelt; zum anderen die Welt der Sehnsüchte, die Welt des Westens. Die Journalistin Jutta Voigt hat dies jüngst sehr anschaulich so beschrieben:
"Solange der Westen mit eigenen Augen zu sehen war, blieb er irdisch. Dann wurde die Mauer gebaut, und der Westen wurde zum Jenseits, zur Legende, unfaßbar, fern und doch so nah. Damit begann seine Heiligsprechung. Der Westen gehörte ganz und gar dem Osten, er war einzig unser Produkt, schwebend über aller Realität... Der Westen war die Erfindung des Ostens. Unerreichbar und deshalb unzerstörbar war die Illusion einer Welt voller schöner Dinge, die keinen Preis hatten ... Das Wort BRD war unpopulär, es störte den Traum. Von BRD sprachen Politbüro, ‚Neues Deutschland' und Karl-Eduard von Schnitzler. Wir sagten Westen. Es gab West-Kaffee, West-Seife und West-Geld."
Natürlich sind die neunziger nicht die sechziger, geschweige denn die fünfziger Jahre. Aber vielleicht hilft uns die Beschreibung etwas bei dem Verständnis, in welch komplizierter Weise die Ostdeutschen heute ihre Enttäuschungen über die unerfüllten Hoffnungen und Versprechungen des deutschen Einigungsprozesses zu verarbeiten haben. Entliehene Modernität, die sich auf ein "Original" bezieht, dem selbst die authentisch-moderne Originalität fehlt - ein kritischer Befund, der vielleicht dazu anregen könnte, sich im Westen wie im Osten Deutschlands endlich auf die gemeinsame Suche nach einem zukunfts- und nicht rückwärtsgewandten Weg nach Europa zu machen.
Ich denke, daß Deutschland bei dieser Suche auch aus einem anderen Grund eine besondere Verantwortung trägt. Der Grund ist, daß Deutschland in einer besonderen, wenn auch unterschiedlichen Weise mit den beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts verschränkt ist wie keine andere Nation. Eric Hobsbawm, der dieses Jahrhundert so zutreffend das "Zeitalter der Extreme" nannte, hat darauf hingewiesen, daß auch die totalitären Diktaturen bei allen Repressionsmaßnahmen nur funktionieren konnten durch eine gewisse Legitimität in der Öffentlichkeit, ein gewisses Maß an aktiver Unterstützung, "... des bereitwilligen Gehorsams der Bürger". Es ist ein Gehorsam gewesen, der ideologisch präformiert wurde zur schrittweisen Gewöhnung an Ermordung und Massentötung oder zur Bespitzelung von Freunden oder Ehepartnern führte. Diese Gehorsamsbereitschaft muß uns besonders zu denken geben, denn wenn sie in den Mentalitäten weiterbesteht, dann ist auch die freiheitliche Demokratie in ihrer Substanz gefährdet.
Der Westfälische Frieden hatte, nach den Verheerungen des 30jährigen Krieges, bereits eine Trennlinie gezogen zwischen dem Religiösen und der Politik. Die Aufklärung hat dann radikal das "Letzte vom Vorletzten" (Christian Graf von Krockow) geschieden. Politik befindet sich seitdem ohne eine transzendente Begründung, ist weltimmanent. Einen Schritt weiter ging die Etablierung der Demokratie. Die Monarchie mußte abdanken, alleinige Quelle staatlicher Souveränität wurde das Bürgervolk. Das heißt nun aber nichts anderes, als daß die Stelle politischer Macht, die vordem kraft göttlichen Gesetzes, Geburt und Tradition im Besitz ausgewählter Dynastien war, nun buchstäblich leer wird. Der transzendente Bezug zur Repräsentation politischer Macht im Diesseits ist radikal aufgehoben, und damit ist zugleich die gedankliche Vorstellung von der Gesellschaft als einem Körper zerbrochen. In der Demokratie kann man um die Besetzung dieser symbolische Leerstelle zwar öffentlich streiten und Regularien dazu finden, aber kein Bundespräsident und kein Bundeskanzler kann mehr sagen: "Der Staat bin ich" oder "Der Staat gehört mir". Politische Ämter sind kein Besitz, sondern hängen von dem Votum der Bürger ab und werden nur noch auf Zeit vergeben.
Diese Selbstregierung des Volkes, die den großen Vorzug freiheitlicher Demokratien ausmacht, ist aber zugleich eine Quelle großer Risiken. Zum einen scheinen viele Menschen Sehnsucht nach einer direkten, sichtbaren Verkörperung weltlicher Macht zu besitzen, in der sie sich wiederfinden können. Zum anderen erfordert die zivile Selbstregierung von den Bürgern eine große Kraftanstrengung, denn Demokratie ist gekennzeichnet von permanenten Auseinandersetzungen, Begründungsanforderungen, Entscheidungsschwierigkeiten und mühseliger, zeitraubender Kompromißsuche vor dem Hintergrund komplexer Probleme. Das heißt: Demokratie ist beschwerlich und risikoreich. Schnell ist man dabei, vor diesen Mühsamkeiten der alltäglichen Erfordernisse in einfache Lösungen zu fliehen. In einer "entzauberten" Welt (Max Weber) und einer pluralisierten Gesellschaft suchen die Menschen nach Orientierung, nach Vorgabe, nach festem Halt. Die "Furcht vor der Freiheit" (Erich Fromm) und die Sehnsucht nach einer obersten Instanz, die sagt, wo es langgeht, ist groß. Die Schwierigkeiten des Geschäfts der Selbstregierung führen immer wieder, wie die Geschichte gezeigt hat, zum Versuch, die leere Stellen der Macht mit einer säkularen Autorität als letzte Entscheidungsinstanz zu besetzen.
Man kann sowohl den Nationalsozialismus als auch den stalinistischen Kommunismus als zwei unterschiedliche, aber hochgradig massenwirksame Versuche in unserem Jahrhundert begreifen, diese symbolische Leerstelle zu besetzen. Ideologien werden dann säkulare Ersatzreligionen, die politische Repräsentanz auf Zeit mutiert zur unumschränkten Diktatur. Wenn wir uns mit der Aufarbeitung von Diktaturen in Deutschland beschäftigen, dann sollte immer mit bedacht werden, wie wir der einer Demokratie immanenten Gefahr, den Versuchungen des Absoluten nachzugeben, effektiv begegnen und Freiheitlichkeit wie Zivilität sichern können. In der Moderne ist der politische Rückweg zur Transzendenz versperrt, auch wenn die durchaus sympathische Sehnsucht nach der die gegenwärtigen Verhältnisse übersteigenden Utopie groß ist, gerade im Osten Deutschlands. Deswegen ist es so wichtig, daß Menschenrechte, Werte, Normen und Regeln unseres politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie sie im Grundgesetz niedergelegt sind, von so vielen Bürgern wie möglich gehört, anerkannt, verteidigt und gelebt werden.
Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich noch einen letzten Punkt in Zusammenhang mit der Verarbeitung unserer Geschichte ansprechen. Ich meine die aktuelle Diskussion um die "Bonner" und "Berliner Republik". Wie Sie wissen, bin ich selbst kein Freund dieser Bezeichnungen. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß es sich hierbei nicht nur um die Beliebigkeit eines individuellen Geschmacksurteils oder eine um eine modische Zeitgeistströmung handelt - das sicher auch. Aber im Grunde genommen verbirgt sich dahinter eine fundamentale Debatte um die Ausrichtung unseres Gemeinwesens. Es wäre von Schaden, wenn diese abgewehrt werden würde durch den vordergründigen Streit um Begriffe, der schnell zu Denk- und Wahrnehmungsblockaden führen kann.
Die Tagung des Parlamentarischen Rates, die Verkündigung des Grundgesetzes, die Bindung an die Wertegemeinschaft des Westens, die Einübung in die Prozeduren und Umgangsformen der parlamentarischen Demokratie - all das wird sich auch in Zukunft mit dem Namen Bonn verbinden. Es geht des weiteren auch nicht darum, daß mit dem Umzug von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung nun in Berlin ein neuer Machtstaat geschaffen wird, der sich von den bisherigen moralischen Bindungen im Umgang mit seiner Vergangenheit und von seinen nationalen Begrenzungen löst. Und es ist damit auch nicht das Projekt einer Zivilgesellschaft gemeint, die Berlin als völligen Neuanfang ohne historische Bindungen begreift.
Worum hat es uns zu gehen? Lassen Sie mich darauf in fünf Punkten hinweisen:
Erstens geht es darum, daß stärker als bisher begriffen wird, daß das vereinigte Deutschland keine vergrößerte Altbundesrepublik ist. Es geht um die fundamentale Anerkennung der Ostdeutschen als Bundesbürger, die gleichberechtigt ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Leistungen, Denkweisen und Mentalitäten in das gemeinsame Deutschland einbringen. Dazu gehört vor allem auch die spürbare Anerkennung der originären Leistung, in einer friedlichen Revolution die SED-Diktatur gestürzt und eine Demokratie geschaffen zu haben. Dies ist übrigens der eigentliche Akt der Delegitimierung der DDR gewesen, die Lothar Bisky und die PDS nicht aufhören zu beklagen. Das ist nicht nur ein Anlaß für demokratischen Stolz, sondern uns allen würde die gelegentliche Vergegenwärtigung der damaligen Freiheitsbegeisterung gut tun. Die nationale und staatliche Einheit war ein wichtiges Ziel, aber die Wende darf nicht darauf verkürzt werden. Der Kampf um die demokratischen Freiheiten war mindestens genauso wichtig - war der eigentliche Aufbruch von 1989.
Zweitens ist mit der staatlichen Einheit und dem 2+4-Vertrag der Provisoriumscharakter der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegsordnung endgültig beendet. Damit findet auch die alte Bundesrepublik einen gewissen Abschluß, da sie Produkt einer nun vergangenen internationalen Konstellation war und auch durch das Wechselverhältnis zur ehemaligen DDR mitbestimmt wurde. Deutschland hat nun seine endgültigen territorialen Grenzen gefunden. Mit dem Ende der Teilung Europas gewinnt auch die Europäische Union durch den Beitritt der östlichen Länder eine neue Qualität. Drittens haben wir es zu tun mit einer Vitalisierung der zivilgesellschaftlichen Strukturen durch ein republikanisches, am Gemeinsinn orientiertes Freiheitsverständnis und die Ausweitung der Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger. Es geht mir dabei nicht nur um die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch Plebiszite, sondern auch um die vielfältigen Formen direkter Teilhabe an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen in den Ländern, Regionen und Gemeinden. Ich glaube, daß mit dem vielfältigen Engagement von Bürgerinnen und Bürgern an Foren, Zukunftskonferenzen, Politikwerkstätten, Planungszellen, Stadtteilarbeit, Agenda-21-Projekten oder durch die Ausweitung von Ehrenamt- und Freiwilligentätigkeit eine neue demokratische Qualität und Reformfähigkeit unseres Gemeinwesens erreicht wird, werden kann.
Viertens: geht es um die Bewältigung alter und neuer Herausforderungen. Dazu gehört der Wandel der Arbeitswelt, die Reform der sozialen Sicherungssysteme und die Entwicklung neuer sozialer Netze, die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft, die veränderten internationalen Rahmenbedingungen in Form der Globalisierung wirtschaftlicher Märkte, die Kommunikationsrevolution oder die sicherheitspolitischen Veränderungen in Hinblick auf Verteidigung, Krisenintervention und Konfliktprävention usw.
Fünftens haben wir einen vitalen, produktiven Umgang mit unserer schwierigen Vergangenheit nun gemeinsam zu finden. Das verbrecherische nationalsozialistische Regime, der industriell fabrizierte Massenmord, bleibt als Menetekel konstitutiv für die Bundesrepublik Deutschland. Dazu tritt jetzt der aufklärende Umgang mit der Vergangenheit der SED-Herrschaft. Die Erfahrung zweier deutscher Diktaturen bildet den negativen Ausgangspunkt für die freiheitliche Demokratie. Demokratische Identität lebt aber auch von den positiven Traditionen. Deshalb ist es wichtig, jetzt und in Zukunft den freiheitlichen Entwicklungen in Deutschland - von der Revolution 1848/49 über die Weimarer Republik, das Bonner Grundgesetz bis zur Freiheitsrevolution 1989 größere Beachtung zu schenken. In dem Wissen um die tiefe Inhumanität der Diktaturen und der politischen Haftung dafür sowie in der Verankerung in einer positiven demokratischen, freiheitlichen Tradition besteht das Fundament einer gemeinsamen deutschen Bundes-Republik. In bezug auf beides geht es darum, unsere Erinnerungen aus West und Ost zu vereinigen, an der Unterschiedlichkeit unseres Geschichts-Gedächtnisses zu arbeiten, an unserem verschiedenen Geschichtserbe.
Hermann Rudolph hat neulich im Tagesspiegel für diese Differenz ein, glaube ich, präzises Bild gefunden. Er spricht von einer "Spektralverschiebung, die im Osten im Laufe der Jahrzehnte entstanden" sei. Der heute - im Westen - historisch weitgehend unangefochtene Kanon der Nachkriegsgeschichte, den dieses Jubiläumsjahr ausführlich zelebriert, werde von dieser Spektralverschiebung tangiert, wenn nicht angefochten. Wie wird nun dieser Kanon - "50-jährige Erfolgsgeschichte West" - durchgesetzt? Das wird für ein gemeinsames Geschichtsbild/für gemeinsame Geschichtsbilder entscheidend sein.
Was man dabei alles falsch machen kann, das läßt sich gerade in Weimar in einer Ausstellung besichtigen:
"Aufstieg und Fall der Moderne" - Anfänge in Weimar um die
Jahrhundertwende, Teil I,
DDR-Kunst/Kunst aus der DDR, Teil II,
Nazikunst/Die Sammlung Hitlers unter dem Titel: "Die Kunst dem
Volke erworben: Adolf Hitler", Teil III.
Letztere beide Teile sind in der riesigen Halle des Gau-Forums der Nazis untergebracht, und die DDR-Kunst ist dabei unterschiedslos, absichtslos, absichtsvoll als trash-Ausstellung präsentiert.
Schon räumlich ist sie unausweichlich in einen Zusammenhang mit der Nazikunst gestellt. Was mich daran ärgert, ist ganz einfach zu beschreiben: Nicht, daß es Werke des sog. sozialistischen Realismus gegeben hat, auch scheußliche Machwerke, daß ein Teil der Künstler sich politisch-ideologisch unterworfen hat. Nein, das ärgert mich nicht, daß man das zeigt. Aber daß man keine Unterschiede macht zwischen unterschiedlichen Malern, ihrer Malweise, daß man sie durcheinanderwürfelt und preisgibt in denunziatorischer Absicht. Eine solche Art von Präsentation fördert nicht den notwendigen kritischen Blick auf unsere Geschichte, sondern eher Abwehrreaktionen. Man kann sie in den Zeitungen lesen und man kann sie hier und dort hören: "So war unsere Geschichte nicht. Unser Leben in der DDR lebte doch von Differenzen und Unterschieden, die hier einfach beseitigt werden." Das ist eine Mischung - wie soll ich das nennen - aus Naivität und Dummheit. Sie erzeugt keine selbstkritische Betrachtung der Geschichte, sondern Abwehr und Verbohrtheit.
Was daraus wieder zu lernen ist, ist ganz einfach. Salopp formuliert: Der arrogante Blick West auf Ost führt zur Verweigerung Ost. Der auch selbstkritische Blick West erlaubt oder erleichtert jedenfalls den selbstkritischen Blick Ost auf die eigene Geschichte.
Es wäre doch schön gewesen, hätten die Ausstellungsmacher in der gleichen Weise wie sie DDR-Kunst preisgeben westdeutsche Kunst von 1945-1990 preisgegeben. Aber dieser Anstrengung haben sie sich wie selbstverständlich nicht unterzogen. Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Und die Ausstellungsmacher sind nach Weimar gezogene Westdeutsche, was ich Ihnen nicht zum Vorwurf mache. Aber daß sie nicht selbstkritisch auf die eigene Geschichte zurückblicken, wo sie von den anderen Deutschen genau das verlangen, das nehme ich ihnen übel. Also Differenzierung, Bemühung um Verständnis und Gerechtigkeit, die Zulässigkeit verschiedener Betrachtungsweisen, der plurale Blick, der Respekt vor der Würde gelebten Lebens: Das ist unserer verwickelten Geschichte angemessen.
Dafür danke ich den heutigen Veranstaltern und dafür wünsche ich Erfolg! Sie kennen den schönen Satz von Immanuel Kant: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden." Beide Diktaturen in Deutschland wollten mit Zwang aus dem Krummen das Gerade machen. In keinem Jahrhundert sind im Namen von Ideologien so viele Menschen unbarmherzig abgeschlachtet, menschliche Lebenswege zerstört worden wie in diesem Jahrhundert. Deutschland hat daran auch künftig seinen Anteil an Schuld und politischer Haftung zu tragen. Aber wie nie zuvor haben wir an der Schwelle zum neuen Jahrtausend die Möglichkeit, Lehren aus der doppelten Vergangenheit in der gemeinsamen Geschichte zu ziehen, das "Wagnis der Freiheit" (Karl Jaspers) anzunehmen, die Balance von Demokratie und Nation in der Zugehörigkeit zu Europa zu wahren und auf eine gerechte Ordnung bei uns wie in der Welt hinzuarbeiten. Eine zivile Bürgergesellschaft, die sich ihrer eigenen Identität bewußt geworden ist über einen öffentlichen, diskursiven Selbstaufklärungsprozeß, wird die nötigen Tugenden des Mutes und der Gelassenheit dazu entwickeln, um die anstehenden Probleme zu meistern. Darin besteht die Chance einer besseren Zukunft in Deutschland gegenüber den enttäuschten Hoffnungen vergangener Jahrzehnte. Und es wäre nicht die schlechteste Eröffnungsbilanz für das kommende Jahrhundert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!"