Neujahrsansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, im Deutschlandfunk am 1. Januar 2000
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Im letzten Jahr dieses Jahrhunderts feierte Deutschland so viel wie selten: 50 Jahre Bundesrepublik, 50 Jahre Deutscher Bundestag, 10 Jahre Mauerfall. Mit Stolz haben wir auf den glücklichen Verlauf der deutschen Geschichte in den letzten fünf Jahrzehnten zurückgeblickt. Am Jahrtausendwechsel leben wir in einer gefestigten parlamentarischen Demokratie, in Freiheit und Frieden. Machen wir uns dies klar: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit leben wir Deutschen vereint in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn Ja gesagt haben. Das ist ein staunenswertes historisches Glück am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutsche so viele Fehler und Verbrechen begangen haben! Ich jedenfalls habe an diesem Jahrhundertwechsel das starke Gefühl, daß deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen könne.
Aber gerade deshalb sage ich auch: Die dunklen Kapitel zu verdrängen und einen Schlußstrich zu ziehen, wäre fatal, ja vielleicht wieder der erste Schritt zu neuen Abgründen. Wir brauchen den Blick zurück, um unsere Verantwortung für das Geschehene zu erkennen und daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Nicht zuletzt die im vergangenen Jahr geführten Diskussionen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter und um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin machen dies deutlich.
Am Ende dieses Jahrhunderts ist Deutschland wieder ein geeintes, freies Land. Und dennoch: Wie selten zuvor stehen Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Politik derzeit auf dem Prüfstand. Mehr denn je fragen sich viele Menschen, ob sie der Politik und den politisch Handelnden noch trauen können. Politik darf nicht zu einem unlauteren Geschäft verkommen. Dies sollte sich jeder Politiker, jede Partei vor Augen halten.
Es gibt genug Probleme, die nur eine vertrauenswürdige und handlungsfähige Politik zum Wohl der Bürgerinnen und Bürger lösen kann.
Für das lang ersehnte Ziel, in einem freiheitlich demokratischen Staat zu leben, zahlen noch immer viele einen hohen Preis wie den Verlust ihres Arbeitsplatzes, den Verlust der sozialen Sicherheit. Globalisierung und neue Technologien bieten zwar große Chancen, bergen aber auch Risiken in sich. In der Theorie halten sie sich die Waage. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die einen nehmen teil, die anderen bleiben außen vor. Die einen haben alle Chancen, die anderen kämpfen mit den Risiken. Politik hat die Aufgabe, in einer sich verändernden Welt, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren: Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung, Zugang aller zu den neuen Technologien, Teilhabe aller am Arbeitsmarkt – das sind die großen Aufgaben. Soziale Gerechtigkeit ist die Basis für gelingende Freiheit und bejahte Demokratie.
Gleichzeitig müssen wir diejenigen unterstützen, die sich aktiv für unsere Demokratie engagieren. Von ihnen ist zu wenig die Rede. Um so mehr berichten die Medien fas täglich über Gewalt in der Gesellschaft, über Beleidigungen, Pöbeleien, körperliche Angriffe bis hin zu Hetzjagden auf Ausländer, Behinderte oder Obdachlose. Die Täter sind oft rechtsextreme Jugendliche, die niemanden dulden, der nach den von ihnen festgesetzten Maßstäben fremd ist oder fremd erscheint. Wir müssen die falsche Faszination durch Gewalt und Gewalttäter überwinden und den Blick auf diejenigen richten, die Rechtsextremismus und Gewalt widerstehen, die demokratischen Anstand und Zivilcourage zeigen. Von ihnen sollten wir uns faszinieren lassen, denn sie tragen unsere Demokratie!
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Das kommende Jahr wird ein europäisches Jahr werden. Die EU wird mit sechs weiteren Beitrittskandidaten verhandeln. Damit stehen insgesamt zwölf Länder auf dem Sprung in die Europäische Union. Für die beteiligten mittel- und osteuropäischen Länder ist dies ein entscheidender Schritt zur Stabilisierung der demokratischen Strukturen im eigenen Land und zur Teilhabe an Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa.
Die Europäische Union steht am Beginn dieses neuen Jahrhunderts aber gleichzeitig auch vor der Aufgabe, sich selbst zu reformieren. Entscheidungsstrukturen und Verfahrensregeln aus einer Zeit, in der die Europäische Union aus sechs Ländern bestand, greifen in einem erweiterten Europa nicht mehr. Die neue Situation wird neue Fragen aufwerfen: Wie zum Beispiel gehen wir mit der veränderten Mehrheitssituation um? Brauchen wir eine europäische Verfassung oder reichen die in den bisherigen Verträgen verankerten Statuten aus? Wie können wir das europäische Parlament stärker in die Entscheidungsprozesse einbinden?
Wir wollen nicht überstürzt, sondern mit Augenmaß die nächsten Schritte tun. Denn das geeinte Europa soll ein Kontinent der Menschenrechte, ein Kontinent der Wohlfahrt und des Friedens, des ökonomischen Erfolges und der sozialen Gerechtigkeit sein. Das liegt in unserem deutschen Interesse, wenn wir verläßlichen Frieden auf der Welt und im eigenen Lande haben wollen.
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr.