Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in der Debatte "Für Toleranz und Menschlichkeit - gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt in Deutschland"
Auszug aus dem Stenographischen Protokoll des Deutschen Bundestages vom 28. September 2000
Wolfgang Thierse (SPD): Frau
Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute über ein Thema, das uns alle
beschäftigt, bedrückt, herausfordert, und zugleich
über ein Thema, bei dem die Einigkeit der Demokraten, unsere
grundlegende Übereinstimmung sich zeigen wird und sich
bewähren muss.
Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochen und Monaten, in
denen die deutsche Öffentlichkeit aufgeregt, empört,
entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit,
Rassismus und extremistische Gewalt diskutiert hat, haben wir etwas
gelernt. Haben wir wirklich etwas gelernt? Oder war das Ganze nur
ein mediales Sommertheater? Ich hoffe es nicht. Denn neu ist
nichts.
93 Tote, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt hat es in den
letzten zehn Jahren in Deutschland gegeben. Das haben zwei
Zeitungen dokumentiert. Über 1 000 Schändungen
jüdischer Friedhöfe in den letzten Jahrzehnten - das ist
die grausige Bilanz eines gerade erschienenen Buches. Die Namen
Rostock und Mölln, Eberswalde und Solingen, Hoyerswerda, Guben
und Hünxe - die Namensliste ließe sich fortsetzen - sind
verbunden mit der Erinnerung an schreckliche Gewalttaten gegen
Bürger ausländischer Herkunft.
Ich sage nicht, dass Deutschland ein rechtsextremistisches Land
ist, dass die Deutschen ein ausländerfeindliches Volk sind.
Das wäre nicht nur schlicht falsch,
(Michael Glos (CDU/CSU): Nicht nur "wäre"es ist falsch!)
sondern eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit der Deutschen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
Ich will auch betonen, damit wir uns darüber nicht zerstreiten, dass Intoleranz und Gewalt in jedem Falle unsere Ächtung und unseren Widerstand finden müssen, egal, ob sie rechts- oder linksextremistisch motiviert, begründet, drapiert ist. Aber in dieser Zeit haben wir eine Gefahr vor allem von Rechtsaußen und der haben wir uns zu stellen - jetzt. Sie ist die Herausforderung unserer demokratischen Gemeinschaft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Gerhard Schüßler (F.D.P.))
Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass sich alle in diesem
Hause in der Abwehr dieser Gefährdung unseres friedlichen
Zusammenlebens, dieses Angriffs auf die Wertegrundlagen unserer
Demokratie einig sind. Das heißt aber auch, zu begreifen,
dass es nicht mehr um ein so genanntes Randphänomen geht,
sondern dass die Gefährdung bis weit in die Mitte der
Gesellschaft hineinreicht.
Rechtsextremismus ist eben nicht mehr ein parteipolitisch
isolierbares Phänomen. Man konnte in den vergangenen Jahren in
der Bundesrepublik, im Westen immer glauben, dass es ein
parteipolitisch isolierbares Phänomen ist. Die NPD wurde in
Landtage gewählt; nach vier Jahren fiel sie wieder heraus,
weil die Bürger von dem Verhalten der Abgeordneten
enttäuscht waren. Man konnte immer glauben, das sind die alten
Herren, die ein paar junge Leute um sich versammeln, ein
isolierbares Phänomen.
Nein, jetzt müssen wir begreifen: Es hat sich etwas zum
Schlimmen geändert. Ausländerfeindlichkeit ist eben bei
nicht wenigen Menschen ein fast selbstverständlicher Teil des
Alltagsbewusstseins geworden. Der Rechtsextremismus ist geradezu
ein kulturelles Phänomen geworden. Er bedient sich
unterschiedlicher kultureller Instrumente, um sich zu vermitteln.
Er ist weniger parteipolitisch fassbar.
Ich war in den vergangenen anderthalb Jahren viel unterwegs,
besonders in Orten rechtsextremistischer Gewalttaten, in so
genannten rechten Hochburgen. Ich habe mir vorher nicht vorstellen
können, was man da erleben kann, das Ausmaß von Angst,
das sich bereits verbreitet hat. Es war mir unvorstellbar, dass
junge Leute nicht mehr wagen, in bestimmte Teile einer Stadt zu
gehen, einen Jugendclub zu besuchen. Die Gespräche mit Opfern
von Gewalt, mit von ihrer Angst gelähmten Jugendlichen haben
mich nicht mehr losgelassen. Es gibt wirklich, was die
Rechtsextremen großtönend "nationale befreite Zonen"
nennen. Wir können es anders nennen: Stadtquartiere und
Gegenden, in denen die rechten Schläger und die rechten
Ideologen dominieren und die anderen nur unter Angst leben und
existieren können.
Aber ich habe bei diesen Besuchen auch etwas anderes erlebt,
nämlich alltäglichen demokratischen Anstand,
vielfältige Initiativen von jungen Leuten, von Lehrern, von
Kommunalpolitikern, die sich dagegen wehren, Aktivitäten an
Schulen. Deswegen sage ich immer: Wir müssen die falsche
Faszination durch Gewalttäter und Gewalttaten überwinden
und uns wieder faszinieren lassen durch den normalen
alltäglichen Anstand unserer Bürger und gerade auch
unserer jungen Leute.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)
Ich habe aber auch erlebt - auch das gehört zu meinen
Erfahrungen -, dass es durchaus Verharmlosung, Beschönigung
gibt aus Angst um die Beschädigung des Images einer Stadt. Ich
verstehe das. Man darf die Namen, die ich genannt habe, nicht auf
diese Gewalttaten reduzieren. Ich verstehe das. Trotzdem ist das
eine Haltung, die zu überwinden ist. Ich sage
ausdrücklich: Es handelt sich hier nicht vor allem und nicht
nur um ein ostdeutsches Problem - damit wir uns nicht
missverstehen.
Ich sage ferner: Mir sind bei diesen Besuchen und den Erfahrungen,
die ich gemacht habe, alle einfachen, alle monokausalen
Erklärungen für den Rechtsextremismus und für
Gewalt, etwa nach dem Muster, Arbeitslosigkeit und
Ausbildungsplatznot bewirke rechtsextreme Einstellungen, vergangen.
Wir wissen doch, dass viele von den rechtsextremen Ideologen und
Schlägern nicht Arbeitslose sind und nicht ohne Ausbildung
sind.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Dies gilt auch für Behauptungen, die deutsche Einheit, die
Delegitimierung der DDR und ihres Antifaschismus seien schuld. So
etwas habe ich eher aus Ihren Reihen gehört.
Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen: Reden wir von
Überforderungsängsten und vom
Vereinfachungsbedürfnissen. Das bekommen wir doch mit. Wir
sind inmitten eines rasanten Wandels, einer beschleunigten
Entwicklung: ökonomisch, technologisch, in der Forschung, im
sozialen Leben. Wir erleben die radikale Veränderung der
Arbeitswelt. Dieser rasante Wandel erzeugt Verunsicherung und
massive Ängste bei denjenigen, die nicht sicher sind, nicht
sicher sein können, dass sie erfolgreich darin sein
können.
In Ostdeutschland ist das besonders deutlich zu sehen. Die
Radikalität des Umbruchs in allen Lebensbereichen hat jeden
betroffen. Die Komplexität, das scheinbar
Überwältigende der Probleme erzeugt ein menschlich gewiss
sehr verständliches Vereinfachungsbedürfnis, das
Bedürfnis nach einfachen Antworten auf komplexe,
überwältigende Fragen. Diese Bedürfnisse und diese
flottierenden Ängste machen Menschen empfänglich für
die Botschaften radikaler, bösartiger Vereinfachungen.
Reden wir von der Ethnisierung sozialer Konflikte. Unsere
Gesellschaft hat gewiss Integrationsprobleme. Sie sind sehr
unterschiedlicher Art. Die Ängste aber vor Desintegration,
davor, den Anschluss zu verlieren, nicht mithalten zu können,
sind groß und ebenso das Bedürfnis nach Bindung, nach
Beheimatung, nach sozialer Zugehörigkeit, nach
Gruppenzugehörigkeit. Auch daran knüpfen die
rechtsextremen Ideologen an. Das Kernstück ihres Angebots ist
die Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Raoul Hilberg, der Historiker des Holocaust, hat einmal gesagt:
"Die Logik des völkermordenden Verbrechens beginnt mit der
Definition des Fremden". Wir sind also gewarnt.
An dieser Stelle möchte ich doch einen Blick auf die
spezifisch ostdeutsche Seite des Problems werfen. Ich wiederhole:
Es geht nicht nur um ein ostdeutsches Problem; aber das Problem hat
ein ostdeutsches Gesicht, das nicht nur und nicht an erster Stelle
durch die Vereinigung und die Schwierigkeiten des
Umwälzungsprozesses hervorgerufen ist.
Es gibt Umfragen aus den Jahren 1990 und 1991, die Beunruhigendes
aussagen über das, was in den Köpfen und Herzen der
Ostdeutschen vor sich ging. Ich erinnere mich an Untersuchungen,
die unser ehemaliger Kollege Konrad Weiß in der zweiten
Hälfte der 80er-Jahre über die Skinheadszene, die Szene
in der DDR angestellt hat. Diese durften nie veröffentlich
werden und waren nur als innerkirchliches Material verfügbar.
Es gibt eine schlimme Tradition aus SED-Zeiten: eine Tradition des
Rechtsextremismus, des Antisemitismus. Dies wurde immer unter den
Teppich gekehrt, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Es
konnte nicht bearbeitet werden; denn der Antifaschismus von oben
war ja ideologische Staatsdoktrin.
Erinnern wir uns auch an eine andere Erbschaft der SED-Diktatur.
Die DDR war eben ein eingesperrtes Land. Wie sollten Menschen
selbstbestimmt, konfliktfähig werden, den Umgang mit Fremdem
und Fremden erlernen, das Aushalten von Differenzen einüben?
Wie sollten sie Demokratieerfahrungen machen?
Das wirkt nach, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS. Sie
kennen die Umfrage von Forsa über den Zusammenhang zwischen
PDS-Wählerschaft und bestimmten Einstellungen zur
Ausländerfrage. Ich sage nur, dass unendlich viel an dieser
Erbschaft zu bearbeiten ist.
Ein weiterer Aspekt ist das ideologische Denkmuster, das uns in
einem verkommenden Marxismus-Leninismus eingebläut wurde:
schwarz-weiß, Freund-Feind, der Klassengegner. So kam ein
Klassenkampfmuster in die Köpfe, das immer nach einem
einfachen Schema verlief.
Ein letzter Aspekt, der vielleicht am schwierigsten zu besprechen
ist: Die DDR hat unter den Werthaltungen, die sie den Menschen
aufgeprägt hat, wohl am folgenreichsten die Vorstellung von
Gleichheit und Gerechtigkeit geprägt. Ich will das nicht
kritisieren; das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist ein sehr
menschliches Grundbedürfnis. Aber jetzt wird sichtbar, dass
die spezifische Ausprägung der Gleichheitsvorstellung eine
Rückseite hat: den Konformitätszwang, die
Unfähigkeit, mit Differenzen umzugehen und soziale,
kulturelle, weltanschauliche Differenzen auszuhalten. Ich
hätte mir jedenfalls nicht vorstellen können, dass es
eine neuerliche Kombination von Sozialismus und Nationalismus gibt.
Ich sage trotzdem, indem ich dies so beschreibe, dass dies nicht
ein ostdeutsches Problem ist. Aber da ist viel mehr
aufzuarbeiten.
(Beifall im ganzen Hause)
Was ist zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir sind uns
einig: Wir müssen die Gewalt energisch bekämpfen und mit
außerordentlicher Geduld und viel Kraft die Ursachen der
Gewalt bearbeiten. Wir reden über einen Antrag zum Verbot
rechtsextremistischer Parteien, also der NPD. Polizei und Justiz
haben selbstverständlich ihre Pflicht zu tun. Natürlich
geht es darum, dass wir Arbeitslosigkeit verringern und
verlässliche Perspektiven für junge Leute schaffen.
Aber es geht eben auch - das ist sehr schwierig - um ein neues
Begreifen des Rangs und Gewichts von Bildung und Aufklärung.
Es muss uns erschrecken, dass nach so vielfältigen
Anstrengungen unterschiedlicher Art in den vergangenen 40, 50
Jahren in Deutschland bei Umfragen unter jungen Leuten, was
Auschwitz oder Holocaust bedeute, so viel Unwissenheit zum Ausdruck
kommt. Das zwingt uns zum Nachdenken darüber, was wir anders
machen müssen, was falsch gelaufen ist, was wir gegenüber
einer neuen Generation verändern müssen, damit dieses
geschichtliche Gedächtnis und die Verpflichtung daraus
für das Heute weiterleben.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wir müssen an den Vorurteilen arbeiten, die von einer unerträglichen Zähigkeit sind. Ich war in Hoyerswerda, einer Stadt mit 50 000 Einwohnern. Ich fragte den Bürgermeister: Wie viele Ausländer gibt es hier? Er antwortete 500. In einem Gespräch mit jungen Leuten - sie waren alle keine Rechtsaußen - nannten sie mir auf die Frage, wie viele Ausländer denn nach ihrer Meinung in Hoyerswerda lebten, Zahlen zwischen 2 000 und 10 000. So übertragen sich Vorurteile über eine Gefahr und Gefährdung. Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen begreifen, dass demokratische und moralische Erziehung wieder von viel größerem Gewicht sein müssen; denn wir müssen hier auch von Phänomen moralischer Entwurzelung sprechen, wenn elementarste Regeln des menschlichen Zusammenlebens, etwa das Gewalttabu, das auch bedeutet, dass man nicht auf jemanden tritt, der am Boden liegt, nicht mehr funktionieren. Hier müssen wir nach den Ursachen fragen: Was ist in der Schule los, was passiert in den Familien, was tun die Massenmedien? Ich sage auch hier: Bei einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigsten Gegenstand ihrer abendlichen Fernsehunterhaltung macht, ist etwas nicht in Ordnung.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)
Begreifen wir neu den Rang von Jugendarbeit und Jugendpolitik! Ich lasse das besondere Problem beiseite, ob das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland überhaupt funktioniert und ob wir es nicht verändern müssen.
(Angela Marquardt (PDS): Abschaffen!)
Aber es geht darum, demokratische Initiativen zu stärken, die alltägliche Courage zu unterstützen. Wir haben Gewalt energisch und entschlossen zu bekämpfen. Daneben dürfen wir aber die anderen Aufgaben, die mittel- und langfristiger Natur sind, nicht aus den Augen verlieren. Denn worum geht es? Um eine Kultur der Anerkennung oder, wie Bundespräsident Rau es wunderbar und treffend formulierte, um eine Gesellschaft, in der wir Menschen ohne Angst verschieden sein können.
Herzlichen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Rat der Stadt Frankfurt hat einstimmig beschlossen, Wolfgang Thierse mit dem Ignatz-Bubis-Preis auszustatten für seine Verdienste um Verständigung und für seinen Einsatz gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Ich glaube, dies ist der passende Punkt, ihm dazu herzlich zu gratulieren.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)