hintergrund
Wenn im Bundestag das Nebelhorn ertönt
Namentliche Abstimmungen müssen wohl vorbereitet seinFreitag, 27. Oktober, 12. 05 Uhr: Unüberhörbar schrillt das Klingelzeichen durch das Hohe Haus. Schon zehn nervenzehrende Minuten lang. Unterlegt ist es mit dunklen Horntönen. Die signalisieren den Abgeordneten: namentliche Abstimmung! Nicht nur auf den Fluren und Gängen des Reichstages sind Klingel und "Nebelhorn" zu hören. Auch in allen Abgeordnetenbüros und Ausschusssälen bis hin zu den Toiletten werden die Parlamentarier mit dem durchdringenden Alarmzeichen zur Abstimmung ins Plenum gerufen. Das ist bald gefüllt mit herbeigehasteten Volksvertretern. Um 12.25 Uhr erklärt die amtierende Bundestagspräsidentin Anke Fuchs: "Ich eröffne die namentliche Abstimmung zur Änderung des Grundgesetzes, Artikel 12a." Gut zehn Minuten später wird sie das Ergebnis verkünden. Einen Tag später ist im Plenarprotokoll des Bundestages genau nachzulesen, welcher Abgeordnete wie gestimmt hat. Scheinbare Routine im Deutschen Bundestag.
|
Blick auf einen Gang des Bundestages mit Fächern für die Abstimmungskarten. |
In Wahrheit haben viele Beteiligte schon lange zuvor ein kompliziertes Räderwerk in Gang gesetzt, ohne das eine namentliche Abstimmung leicht in einem Durcheinander enden könnte. Ein erprobtes Verfahren und genaue Ablaufpläne sorgen für eine schnelle und präzise Durchführung der "Namentlichen", wie Abgeordnete diese im Vergleich zur "normalen" Abstimmung verstärkte Abstimmungsform verkürzt nennen.
Begonnen haben die Vorbereitungen schon Tage zuvor. Denn namentliche Abstimmungen erfolgen meist nicht spontan (obwohl dies nach der Geschäftsordnung des Bundestages durchaus möglich ist). Es sind die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen, die eine entsprechende Abstimmung festlegen und dies dann dem Ältestenrat formal vorschlagen. Namentliche Abstimmungen werden zumeist bei wichtigen und strittigen Themen angesetzt. Regierungsfraktionen wie die Opposition nutzen dieses Instrument, um eine möglichst einheitliche Stimmabgabe ihrer Abgeordneten zu erzielen und dadurch Geschlossenheit zu demonstrieren. In einer gewissen Weise dienen namentliche Abstimmungen insofern auch dem Zusammenhalt des jeweiligen Lagers.
|
Jeder Abgeordnete hat seine Stimmkarten - natürlich auch der Präsident. |
Steht eine namentliche Abstimmung fest, werden darüber umgehend der Bundestagspräsident, der Parlamentarische Dienst und das Tagungsbüro des Bundestages informiert. Auch die Abgeordneten erfahren im Voraus von einer entsprechenden Abstimmung: Durch die ihnen zugesandte Tagesordnung der Plenarwoche und auf den vorausgehenden jeweiligen Fraktionssitzungen werden sie auf die besondere Wichtigkeit der Abstimmung hingewiesen. Folgt ein Abgeordneter nicht der Präsenzpflicht und bleibt unentschuldigt der namentlichen Abstimmung fern, werden ihm 75 Mark von seiner monatlichen Kostenpauschale abgezogen.
Unterdessen hat der Leiter des Tagungsbüros, Paul Thelen, ein vorläufiges Abstimmungsprotokoll erstellt, in dem bereits Sitzungstag, Tagungsordnungspunkt, Abstimmungsgegenstand und Drucksachennummer vermerkt sind, und dieses zur Überprüfung an die Juristen des Parlamentarischen Dienstes weitergeleitet. Später muss in diesen Protokollentwurf nur noch das tatsächliche Abstimmungsergebnis eingetragen werden. Das erspart wichtige Minuten. Zeit ist auch im Parlament ein kostbares Gut.
Naht die Abstimmung, betätigt der Plenarassistenzdienst, der hinter dem Sitzungs-Präsidenten oben auf dem Podium sitzt, die über alle Liegenschaften des Bundestages verteilten Alarmglocken. Meist werden die Abgeordneten schon 20 Minuten vor dem voraussichtlichen Termin vorgewarnt. Dies ist notwendig, weil viele Parlamentarier nicht immer im Reichstagsgebäude sein können, sondern in ihren Büros arbeiten und die Wege in Berlin manchmal noch weit sind. Zugleich tragen die befrackten Saaldiener, die Plenarassistenten, sechs hölzerne, schwarze und nummerierte Abstimmungsurnen in den vorderen Teil des Plenarsaales. Hat sich der gut gefüllt, eröffnet der amtierende Bundestagspräsident unter zustimmendem Blickkontakt mit den zwei neben ihm sitzenden Schriftführern die namentliche Abstimmung.
Das Sortieren der benutzten Karten erfolgt in vier Schritten.
|
|
|
|
Noch fehlen die wichtigsten Utensilien für eine Abstimmung: die Abstimmungskarten, mit denen die Abgeordneten ihr Stimmverhalten dokumentieren. Für jeden der 668 Volksvertreter hat die Bundestagsverwaltung 100 solcher Plastikkarten drucken lassen: 40 Rote (als "Nein"-Stimme), 40 Blaue (für "Ja") und 20 Weiße (Enthaltung). Die Karten sind 8 mal 4,5 Zentimeter groß, etwa 0,3 Millimeter dick und ähneln den üblichen Bank-Cards. Auf jeder dieser Karten sind links der Name und die Fraktion des Abgeordneten aufgedruckt. Damit nicht nur die Farbe das Stimmverhalten signalisiert, steht auch noch ein "Ja" beziehungsweise "Nein" oder "Enthaltung" auf der Karte. Rechts oben befindet sich der so genannte "Bar-Code" mit der "Ident-Nummer" des Abgeordneten. Wie beim Supermarkt der Preis der Ware können mithilfe eines elektronischen Lesegeräts über die Ident-Nummer später rasch sowohl Teilnahme wie persönliches Abstimmungsverhalten des Abgeordneten entschlüsselt und auf das amtliche Sitzungsprotokoll übertragen werden. Die Abstimmungskarten befinden sich in vier großen Stimmkarten-Fächern, die in der Lobby an der Westseite des Plenums angebracht sind. Aus ihrem jeweiligen Namensfach versorgen sich die Abgeordneten vor den Abstimmungen rechtzeitig und ausreichend mit Stimmkarten. Bei besonders bedeutsamen Abstimmungen oder etwa der Wahl des Bundeskanzlers müssen die Abgeordneten ihrem Stimmkartenfach noch zusätzlich einen so genannten "Stimmausweis" entnehmen, der sie bei den Schriftführern, die neben den Urnen stehen, zur Stimmabgabe legitimiert.
Hat der Präsident den Wahlgang eröffnet, gibt es rasch ein Gedränge um die sechs Wahlurnen. An jeder von ihnen nehmen zwei vom Obmann der Schriftführer vorbestimmte Schriftführer aus unterschiedlichen Fraktionen Aufstellung. Ihre Aufgabe ist es, auf einen korrekten Wahl- oder Abstimmungsgang zu achten.
|
Nach Ende der Abstimmung werden die verriegelten Urnen in den Auszählraum gebracht. |
Nach einem prüfenden Blick ins Rund und der Frage, ob alle ihre Stimmkarten abgegeben haben, schließt der Präsident die Abstimmung. Mit einem Schieber verriegeln die Schriftführer die Abstimmungsurnen, so dass keine Karte nachträglich eingeworfen werden kann. Danach werden die Urnen von Parlamentsdienern in den dicht neben dem Plenarsaal liegenden Auszählraum gebracht.
Dort, an einem großen, runden und hellen Holztisch, warten schon neun und mehr Schriftführer. Ihre Aufgabe ist es, korrekt und schnell das Abstimmungsergebnis zu ermitteln. Dazu werden die Urnen nacheinander auf der Tischplatte ausgeschüttet. Der bunte Haufen aus roten, blauen und weißen Abstimmkarten wird nun nach Farben sortiert. Wie Croupiers in Spielkasinos ihre Jetons ordnen die Schriftführer die Plastikkarten der Abgeordneten farblich getrennt auf eigens dafür gebauten Zählbrettern in 20iger-Päckchen. So können rasch die Zahlen für Ja- und Nein-Stimmen addiert und die Zahl der Enthaltungen ermittelt werden. Das Ergebnis wird vom Obmann der Schriftführer in das Protokoll über die Abstimmung eingetragen und von weiteren drei Schriftführern aus den anderen Fraktionen bestätigt. Mit diesem Protokoll eilt ein Schriftführer zurück zum amtierenden Bundestagspräsidenten in den Plenarsaal, der dann umgehend das Abstimmungsergebnis dem Hohen Haus bekannt gibt. Gewöhnlich dauert die Auszählung kaum mehr als fünf Minuten. Eine Zeitspanne, auf die die Schriftführerinnen und Schriftführer stolz sind.
|
Kaum mehr als fünf Minuten brauchen die Schriftführer für die Auszählung. |
Für das Tagungsbüro ist die Arbeit mit der namentlichen Abstimmung noch nicht beendet. Denn jetzt werden die nach Ja, Nein und Enthaltung sortierten Abstimmungskarten in eine große Ledertasche befördert und – zusammen mit einem Doppel des Abstimmungsprotokolls – zu den Parlamentsrechtlern des Parlamentarischen Dienstes gebracht. Dort wird per Laser-Lesegerät festgehalten, welcher Abgeordnete an der Abstimmung teilgenommen und wie er gestimmt hat. Das Ergebnis wird im offiziellen Plenarprotokoll des Sitzungstages veröffentlicht. So kann jeder Interessierte nachlesen, wie "sein" Abgeordneter in einer bestimmten Frage abgestimmt hat.
Sind die Listen erstellt, werden die Abstimmungskarten wieder in die Fächer der einzelnen Parlamentarier eingeordnet und damit in den "Abstimmungskreislauf" zurückgegeben. Diesem Zweck dienen auch besonders ausgezeichnete "Sonderurnen", die am Rande des Plenarsaales aufgestellt sind und in die die Abgeordneten nicht benutzte Abstimmungskarten zur Rückeinordnung werfen.
Worauf alle Beteiligten besonders stolz sind: Noch nie wurde eine namentliche Abstimmung angefochten. Es geht eben nichts über eine sorgfältige Planung und Durchführung.
Sönke Petersen