Online-Konferenz mit Prof. Dr. Meyer zu den Themen:
"Europa und Kirche" und "Soziales Europa"
Jörg Naumann
(Naumann.Weissbach@t-online.de) aus Langenweißbach
(Deutschland) fragte: |
Hinsichtlich der Kirchen ist
mir wichtig, dass sie einen Wertebezug und einen Kulturbezug
garantieren, der eine Geschichte von über 1000 Jahren in
Europa repräsentiert, einschließlich der Fehler und
essen, was daraus gelernt werden konnte.
Deshalb haben die großen Kirchen auch in Deutschland
öffentlich-rechtlichen Charakter, Zugang zu Schulen und
Universitäten als Bildungsträger und Wertevermittler, das
Recht zur Einziehung von Kirchensteuern in Verbindung mit dem
Staat, sowie Hilfe bei der Bewahrung der Baudenkmale. Kann dies in
einer Charta gesichert werden für alle Europäischen
Lander? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die besondere Stellung der Kirchen in
Deutschland, wie sie durch das Kirchenkonkordat begründet und
durch Art. 140 GG anerkannt ist, lässt sich sicher nicht
für die gesamte EU verbindlich machen. Gemeinsame
Überzeugung beider Konvente ist aber dass die EU nicht nur
Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, sondern auch und vor
allem Wertegemeinschaft ist. Die Grundrechtecharta ist der Versuch,
ein europäisches Wertemodell zu definieren. |
Irmhild Drießen-Desort
(iddks@gmx.de) aus Kassel (Hessen) fragte: |
Im Islam gibt es keine
Trennung von Kirche und Staat. Welcher Einfluß ergibt sich
daraus? |
Prof. Meyer antwortet: |
Der in der Türkei geltende Islam,
auf den die Frage wohl zielt, respektiert eine strenge Trennung von
Kirche und Staat (Laizismus, zurückgehend auf Ata
Türk). |
Irene Nickel aus Braunschweig
fragte: |
Herr Prof. Meyer, danke
für Ihre Antwort. Sehen Sie Gründe zu der Annahme, dass
die Art. 21 der Charta wirkungsvoller werden könnte als
Artikel 3 und 4 des Grundgesetzes? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ja, weil Art. 21 ein generelles
Diskriminierungsverbot enthält, das nicht auf einzelne
Merkmale beschränkt ist. |
Ortwin Zilkens
(ozilkensqweb.de) aus Köln (D) fragte: |
Inwiefern verändert sich
Ihrer Meinung nach der eben erwähnte Begriff des
"religiösen Erbes", der zweifellos auf die christliche kultur
des "Abendlandes" abzielt, nach einem möglichen Beitritt der
Türkei und inwieweit wir der EU- Bevölkerung
Mitspracherecht bei zukünftigen Beitritten
eingeräumt?
Vielen Dank O. Zilkens |
Prof. Meyer antwortet: |
Die Mitsprache der Bevölkerung
geschieht in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten durch Referenden. Das
"religiöse Erbe" beinhaltet nicht nur die christliche Kultur
des Abendlandes, sondern beispielsweise auch die jüdische.
Außerdem darf nicht übersehen werden, dass bereits vor
der Erweiterung viele Anhänger des Islam in der
Europäischen Union leben. Politisch geht es um ihre
Integration und nicht um ihre Ausgrenzung. |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
Herr Prof. Meyer, Sie
sprachen von einer "offenen Formulierung wie in der Präambel
der polnischen Verfassung". Könnten Sie uns mitteilen, wie
diese Formulierung ungefähr aussieht? |
Prof. Meyer antwortet: |
Der polnische Text lautet etwa: Die
Verfassung berücksichtigt "die Werte derer, die an Gott als
Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte und Herrlichkeit
glauben, ebenso wie jener, die diesen Glauben nicht teilen, aber
diese fundamentalen Werte abgeleitet aus anderen Quellen
respektieren". |
Dr. Christoph Thiele aus
Hannover fragte: |
Bitte erlauben Sie eine
Nachfrage: inwieweit ist der Erhalt der Erklärung Nr. 11 in
jetziger Form im Rahmen eines Verfassungsvertrages
sichergestellt? |
Prof. Meyer antwortet: |
Das ergibt sich aus der nach meiner
Auffassung allein überzeugenden Auslegung der Präambel
und des Art. 10 der Charta. Das versuche ich in meinem
demnächst erscheinenden Chartakommentar - auch unter
Einbeziehung der Diskussion im ersten Konvent - näher zu
begründen. |
Thomas Wallenhorst aus
Köln fragte: |
Ihre Unterstützung
für die polnische Verfassungsformel ist ein tolles Ergebnis
dieser Chatrunde. Unterstützten Sie einen solchen Antrag, wenn
er in den Konvent eingebracht würde? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ich bin eher dafür, die polnische
Formel in die Auslegung der Präambel der Grundrechtecharta
hinein zu interpretieren. Ein Aufschnüren des
Präambeltextes würde mit Sicherheit die Initiative
auslösen, den von Roman Herzog mit entwickelten Begriff
"geistig-religiös" durch "spirituell" zu ersetzen. Ich bin
auch deshalb für die unveränderte Aufnahme der
Grundrechtecharta nebst Präambel in die Verfassung, weil der
2. Konvent seine anderen Aufgaben in den mächsten drei bis
vier Monaten unter großem Zeitdruck erfüllen muss. Er
sollte sich nicht als Reperaturwerkstatt des 1. Konvents
betätigen. |
Torsten Schubert
(torsten.schubert@gmx.de) aus Offenburg fragte: |
Ist die Frage eines
Kompetenzkataloges im Konvent endgültig vom Tisch? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ja, wenn Sie damit einen
abschließenden Katalog der geteilten Kompetenzen meinen. Erst
recht hat der Konvent einen Negativkatalog abgelehnt, in dem nach
Auffaössung einzelner Delegierter stehen sollte, was die EU
auf gar keinen Fall darf. |
Jürgen Erdmenger
(j.erdmenger@brutele.be) aus Brüssel (Belgien) fragte: |
Vielen Dank für Ihre
ermutigende Antwort. Im Hinblick auf die
Beschäftigungsfähigkeit wäre auch das Ziel
"lebenslanges Lernen" wichtig. Glauben Sie, daß auch dieses
Ziel eine Chance hat zur Aufnahme in Art.3 des Verf. Entwurfs? |
Prof. Meyer antwortet: |
Das ist einen Versuch wert. Lebenslanges
Lernen ist auch nach meiner Überzeugung ein ganz wichtiges
Mittel, um Beschäftigungsfähigkeit zu erlangen.
|
Irmhild Drießen-Desort
(iddks@gmx.de) aus Kassel (Hessen) fragte: |
Wie sehen Sie eine gemeinsame
europäische Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit
Doppelstaatsbürgerschaften?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Im Verfassungsentwurf (Art. 7 Abs. 1) ist
die Unionsbürgerschaft neben der nationalen
Staatsbürgerschaft vorgesehen, aber auch von dieser
abhängig. Im Strukturentwurf des Präsidiums vom Oktober
2002 war dafür der für die deutsche Diskussion wenig
hilfreiche Begriff der "doppelten Staatsangehörigkeit"
verwandt worden. |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
In Artikel 14 ist die Rede
von einem "Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer
Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen,
weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen
sicherzustellen". Ist nicht zu befürchten, dass religiös
fundamentalistische Eltern dies Recht benutzen, um ihre Kinder in
einer religiösen oder weltanschaulichen geistigen Monokultur
aufwachsen zu lassen? Und ihnen dadurch die geistigen Anregungen,
die durch Begegnungen mit Andersdenkenden möglich werden,
vorzuenthalten? Wie kann das Recht von Kindern auf vielfältige
Anregungen und Herausforderungen gewahrt werden? |
Prof. Meyer antwortet: |
Art. 14 der Charta ist eine Anerkennung
des Elternrechts, für die ich mich im 1. Konvent
persönlich eingesetzt habe. Dieses Recht darf allerdings nicht
mißbraucht werden. Das Mißbrauchsverbot steht in Art. 54
der Charta. Für Deutschland kommt hinzu, dass das Schulwesen
unter der Aufsicht des Staates steht (Art. 7 GG). |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
Soziale Ziele:
Sollte neben der Gleichstellung von Männern und Frauen die
Gemeinschaft nicht auch die Gleichstellung von Kirchenmitgliedern
und Konfessionslosen fördern? D. h. ein Verbot der
Diskriminierung wegen Zugehörigkeit oder
Nicht-Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in allen
EU-Staaten durchsetzen? Wie es ja festgelegt ist in der Richtlinie
2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines
allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der
Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, Amtsblatt nr. L
303 vom 02/12/2000 S. 0016 – 0022.
Diese Art der Diskriminierung ist leider gerade in Deutschland ein
Problem. Im sozialen Bereich – Kindergärten,
Krankenhäuser, Heime für Alte und Behinderte u.a.m.
– haben kirchliche Einrichtungen in vielen Gebieten eine
Vormachtstellung als Anbieter von Arbeitsplätzen für
bestimmte Berufe, teilweise geradezu ein Monopol. Viele dieser
kirchlichen Einrichtungen stellen nur Arbeitssuchende ein, die
Mitglied einer bestimmten Kirche sind (teilweise auch: einer
Kirche, die zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen
gehört). Für Arbeitssuchende, die konfessionslos sind
oder Angehörige von religiösen Minderheiten, entstehen
daraus erhebliche Nachteile, teilweise faktische Berufsverbote.
Ähnliches gilt für Arbeitssuchende, deren Ansichten
und/oder private Lebensführung den Kirchen nicht genehm sind,
z. B. Befürworter einer liberalen Regelung des
Schwangerschaftsabbruchs, Menschen in eingetragener
Lebenspartnerschaft und wiederverheiratete Geschiedene.
Muss einer solchen Diskriminierung nicht Einhalt geboten werden?
Kann die Möglichkeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften,
Bewerber um einen Arbeitsplatz aus solchen Tendenzgründen
abzulehnen – oder Arbeitnehmer aus solchen Gründen zu
kündigen –, nicht auf Arbeitsplätze beschränkt
werden, wo die Arbeit überwiegend aus Religionsausübung
im engeren Sinne besteht, d. h. aus kultischen Handlungen und/oder
Verkündigung der Glaubenslehren nach innen und/oder nach
außen?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Was die Verfassung zur Lösung der
beschriebenen Probleme beitragen kann, steht in Art. 21 der Charta
(ausdrückliches Verbot der Diskriminierung z.B. wegen der
Religion oder der Weltanschauung). |
Annedore Braun aus Offenburg
fragte: |
Zum Thema Abbau von
Bürokratie: Gibt es bereits konkrete Schritte in diese
Richtung? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die Durchsetzung der Verfassungsartikel
ist eine wichtige Aufgabe nach Inkraftreten der Verfassung,
hoffentlich schon ab Ende 2005. |
Ortwin Zilkens
(ozilkens@web.de) aus Köln (D) fragte: |
Sehr geehrter Herr Prof.
Meyer
Wie würden Sie denn das Gebilde des Staatenverbundes mit den
alten Begriffen der Staatsrechtslehre am ehesten beschreiben? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die alten Begriffe passen nicht. Es ist
eine große Herausforderung an die moderne Staatsrechtslehre,
neue und überzeugende Begrifflichkeiten zu entwickeln. |
Udo Mielke
(udo.mielke@web.de) aus Heiligenhaus / Düsseldorf
(Deutschland) fragte: |
Ich würde mich freuen,
wenn der "Gottesbezug" in die Verfassung eingebracht werden
könnte. Als überzeugter Christ finde ich es wichtig, dass
sich die Politik einer höheren als nur einer menschlicher
Instanz unterordnet (so auch ein Auszug aus einem Buch von Heiner
Geißler, CDU). Welche Chancen sehen sie dafür / wie ist
ihre Einstellung dazu? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die Chancen sind gering. Ich könnte
persönlich mit einer offenen Formulierung wie in der
Präambel der polnischen Verfassung gut leben, weil so der
Respekt vor Andersdenkenden in der Form einer
verfassungsrechtlichen Neutralitätsklausel zum Ausdruck
kommt. |
Katja Laubinger aus Berlin
fragte: |
Es wird z.T. heftig
kritisiert, dass die Gruppe "Soziales Europa" die Kompetenzen der
EU im sozialen Bereich nicht ausweiten wolle und somit Rechte wie
das Recht auf Versammlungsfreiheit,das Recht auf Streik etc. im
Schlussdokument nicht angesprochen werden. Was ist Ihre Meinung
dazu? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die erwähnten Rechte werden durch
die Grundrechtecharta garantiert, und zwar durch Art. 12 und Art.
28. Dieses hat die Arbeitsgruppe "Soziales Europa" vorausgesetzt
und bestätigt. |
Erika Laermann
(erikalaermann@freenet.de) aus Krefeld (Deutschland) fragte: |
Bedeutet eine Einbindung des
christlichen Erbes in die Verfassung nicht gleichzeitig eine
Ausgrenzung anderer Religionsgemeinschaften und nicht christlicher
Menschen?. Die Verfassung soll doch für alle da sein und keine
kirchlichen (katholischen) Machtansprüche verfestigen. |
Prof. Meyer antwortet: |
Ich verweise auf meine früheren
Antworten. Die kirchlichen Interessen sollte man allerdings nicht
auf "Machtansprüche" reduzieren. Deshalb garantiert Art. 10
der Grundrechtecharta auch die innere oder korporative
Religionsfreiheit, eine Art Selbstverwaltungsrecht der
Kirchen. |
Hanne Hubert
(H.Hubert@gmx.de) aus 53757 St. Augustin (Deutschland) fragte: |
Verfassungsrechtler sagen,
dass ein Staatenbund aufgrund seiner Struktur (keine klare Trennung
von Legislative und Exekutive durch die Konstruktion von Rat und
Kommission) nicht verfassungsfähig sei - wie bewerten Sie die
Demokratisierung und Transparenz (Bürgernähe) der EU
unter diesen Bedingungen? |
Prof. Meyer antwortet: |
Die EU ist ein Staatenverbund, der sich
durch den Konvent um mehr Gewaltenteilung bemüht, aber auch um
mehr Demokratie und Transparenz. Glücklicherweise müssen
dabei keine Lehrbuchkriterien auf Punkt und Komma erfüllt
werden. |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
Schließt die
religiöse Neutralität der EU nicht Formulierungen wie "in
ihrer Verantwortung vor Gott" oder "in Ehrfurcht vor Gott" aus?
Solche Formulierungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn die
Existenz Gottes vorausgesetzt wird. So schließen sie ein
Bekenntnis zur Existenz Gottes ein.
Ein solches Bekenntnis wäre alles andere als religiös
neutral. Wäre es in einer Verfassung einer neutralen EU nicht
ebenso fehl am Platze wie ein Bekenntnis zum Atheismus?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Das ist die Auffassung einer großen
Mehrheit der Konventsdelegierten. Zum geistig-religiösen Erbe
Europas gehört eben auch die Tolerenz und der Respekt vor
Weltanschauungen wie Atheismus oder Agnostizimus. |
Thomas Wallenhorst aus Koeln
fragte: |
Sollte und wird es einen
Verfassungsartikel zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften vgl.
dem deutschen Art. 140 GG geben? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ich verweise auf meine Antwort zu Art. 53
der Grundrechtecharta. |
Dr. Christoph Thiele aus
Hannover fragte: |
Die Erklärung Nr. 11 zum
Amsterdamer Vertrag ist für die Kirchen, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften, gerade auch in Deutschland, von
grundlegender Bedeutung für ihren rechtlichen Status im
Hinblick auf das EU-Recht. Die jetzt vorgelegten
Artikelentwürfe 1 bis 16 des Verfassungsvertrages
berücksichtigen die Kirchen, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften nicht und verweisen auch unter dem
Aspekt der mitgliedstaatlichen Identität nicht auf das hierzu
zu rechnende Religionsverfassungsrecht der Mitgliedstaaten.
Wie wird der Konvent im Verfassungsvertrag die Anliegen
berücksichtigen und wie werden Sie sich dafür
einsetzen? |
Prof. Meyer antwortet: |
Art. 5 des vorgelegten
Verfassungsentwurfes stellt fest, dass die Grundrechtecharta
integraler Teil der Verfassung sein wird. Über Art. 53 der
Charta ist die Geltung von Art. 140 GG gesichert, wonach die
Rechtslage gemäß Erklärung Nr. 11 und
gemäß der insoweit im Wesöentlichen
übereinstimmenden Weimarer Reichsverfassung fortbesteht.
Über Art. 52 der Charta gilt auch der einschlägige Art. 9
der Europäischen Menschenrechtskonvention für alle
Mitgliedsländer einschließlich der Bundesrepublik
Deutschland. |
Thomas Wallenhorst aus
Köln fragte: |
Vielen Dank für Ihre
Antwort, Prof. Meyer. Gestatten Sie mir die Nachfrage:
Mögliche Chancenlosigkeit ist doch kein hinreichendes
Argument, sich nicht für den Gottesbezug einzusetzen. WAs ist
denn Ihre Meinung als konventsmitglied? Ein Argument gegen eine
solche Formulierung ist stets der der Exklusivität
gegenüber Anders- oder Nichtgläubigen. Deutschland ist ja
eines der praktischen Beispiele: Sehen Sie in der Bundesrepublik
Deutschland diesen "emotionalen" Ausschluss von der Verfassung
durch die vocatio dei gegeben? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ich berufe mich nicht in erster Linie auf
Chancenlosigkeit, wie sie allerdings durch die Beratung des ersten
Konvents belegt ist. Wichtiger ist mir der Respekt vor der
entgegenstehenden Verfassungsauffassung einer großen Mehrheit
der derzeitigen und der künftigen Mitgliedstaaten der EU. |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
Beschlussfassung mit
qualifizierter Mehrheit im Sozialbereich
Eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit sollte auf jeden
Fall zugelassen werden, wenn es um Mindeststandards der sozialen
Sicherheit geht. Die einzelnen Staaten sollten aber die
Möglichkeit behalten, auf ihrem Staatsgebiet höhere
Standards zu schaffen bzw. beizubehalten. Ist das
gewährleistet?
Im Bereich Kündigungsschutz und Arbeitnehmermitbestimmung gibt
es jedoch Gründe für die Gemeinschaft, zurückhaltend
zu sein bei der Festlegung von Mindeststandards. Es ist zu
bedenken, dass hohe Standards unter Umständen dazu führen
könnten, dass Arbeitssuchende gar nicht erst eingestellt
werden. Was halten Sie von dem Vorschlag, in der Verfassung dadurch
Rechnung zu tragen werden, dass eine größere Mehrheit
erforderlich gemacht wird als bei den Mindeststandards der sozialen
Sicherheit?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Die Bedenken gegen zu hohe
Mindeststandards halte ich nicht zuletzt im Hinblick auf die neuen
Beitrittsländer für überzeugend. Was die
Mehrheitsfrage angeht, engagiere ich mich dafür, in allen
sensiblen Bereichen eine besonders große Mehrheit von etwa 75%
an die Stelle der Einstimmigkeit zu setzen. Sonst könnte
künftig eine Mehrheit von 99% der vertretenden
Bevölkerung im Falle eines Widerspruchs z.B. von Malta nicht
ausreichen. |
Torsten Schubert
(torsten.schubert@gmx.de) aus Offenburg fragte: |
Sehr geehrter Herr Prof.
Meyer,
gibt es Bestrebungen, möglicherweise von Seiten Frankreichs,
zu einer stärkeren Koordinierung der Sozialpolitik auf
europäischer Ebene? Wie ist Ihre Haltung dazu?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Die Sozialpolitik gehört nach dem
vorliegenden Entwurf der Verfassung (Art. 12) eine geteilte
Zuständigkeit. Deshalb stößt eine stärkere
Koordinierung an die Grenze nationaler Kompetenzen. |
Hanne Hubert
(H.Hubert@gmx.de) aus 53757 St. Augustin (Deutschland) fragte: |
Präferiert der Konvent
derzeit die Idee eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates
Europa? |
Prof. Meyer antwortet: |
Keins von beidem. Die alten Schubladen
der Staatsrechtslehre haben ausgedient. Die EU ist nach der
zutreffenden Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein Gebilde
eigener Art, das man als "Staatenverbund" bezeichnen
könnte. |
Oliviero Angeli
(o_angeli@hotmail.com)
aus Berlin fragte: |
Sehr geehrter Herr Prof.
Meyer,
Glauben Sie nicht, dass eine ausdrückliche Berufung auf das
christliche Erbe Europas in der künftigen europäischen
Verfassung die Beitrittsverhandlungen mit der Turkei erschweren
könnte? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ja, der von Ihnen erwähnte Vorschlag
ist in der Anfangsphase des Herzog-Konvents tatsächlich von
einzelnen Delegierten gemacht und dann aufgegeben worden. Der
Versuch, die Türkei gewissermaßen durch die Verfassung
aus der EU heraus zu definieren, ist also gescheitert. Die noch
offene politische Entscheidung hat sich also nicht durch den
Verfassungstext erledigt. |
Dr.Jürgen Erdmenger
(j.erdmenger@brutele.be) aus Brüssel (Belgien) fragte: |
Besteht eine Chance, daß
die von der Gruppe "Soziales Europa" vorgeschlagenen Ziele, die
bisher in Art. 3 VerfE nicht berücksichtigt sind, dort noch
aufgenommen werden? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ja, als Mitglied der Arbeitsgruppe
"Soziales Europa" bemühe ich mich sehr darum. Deshalb werde
ich z.B. die Aufnahme des Zieles "soziale Marktwirtschaft" zusammen
mit vielen anderen Delegierten beantragen. |
Hanne Hubert
(Hanne.Hubert@gmx.de) aus 53757 St. Augustin (Deutschland)
fragte: |
Sie sprechen in Ihren
Antworten von einer "europäischen Verfassung". Beinhaltet
für Sie dieser Begriff auch die in einer demokratischen
Verfassung notwendige Stärkung des europäischen
Parlaments als Legislative? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ja, das EP wird künftig an allen
Gesetzgebungsverfahren der EU mitentscheidend beteiligt sein. Das
gilt z.B. auch für die in den Haushalt einzustellenden
Ausgaben (mehr als 40 %) für die Landwirtschaft. |
Annedore Braun aus Offenburg
fragte: |
Ich gehöre zum
Leitungsteam eines örtlichen Diakonischen Werkes.Wir haben
derzeit ein ESF-Projekt. Das Antragsverfahren, der Verteilungsmodus
und die Nachweispflichten sind sehr(!)aufwendig. Im Grunde
können sich das nur große Träger leisten. Wird das
so bleiben? Man hat den Eindruck die Bürokratie braucht
Beschäftigung. Es klingt leider etwas polemisch, aber ich
wollte mich kurz fassen. |
Prof. Meyer antwortet: |
Den Wunsch nach Bürokratieabbau in
der EU unterstütze ich voll und ganz. Er kommt in der
Grundrechtecharta mit Nachdruck in Art. 41 zum Ausdruck (Recht auf
eine gute Verwaltung). |
Irmhild Drießen-Desort
(iddks@gmx.de) aus Kassel (Hessen) fragte: |
Was ist unter
"geistig-religiösen" Erbe zu verstehen?
Warum unterscheidet sich die deutsche Übersetzung von
anderen? |
Prof. Meyer antwortet: |
Es handelt sich um die Übersetzung
des französischen Begriffes "spirituel". Das bedeutet aber
auch, dass der Begriff nicht eingeengt als "religiöses" Erbe
verstanden werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH
müssen der Interpretation alle 11 vorliegenden und
gleichermaßen zu berücksichtigenden Sprachfassungen
zugrunde gelegt werden. Nach meiner Auffassung handelt es sich
danach um eine Anerkennung der religiösen Neutralität der
EU, wobei die Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag keinen
Widerspruch bildet. Sie ist eine ausdrückliche Anerkennung
religiöser und auch nichtreligiöser Vereinigungen. |
Wallenhorst aus Köln
fragte: |
Der Herzog-Konvent hat m.E.
die Frage nach dem Gottesbezug nicht wirklich beantwortet, sondern
umgangen. Ausserdem ist die Charta keine Präambel. Meine
Frage: Wie verhalten Sie sich zum Vorschlag von Prof. Kirchhof:"In
Verantwortung vor Gott, den Menschen und der Schöpfung gibt
sich die EU folgende grundordnung." Finden Sie das exklusiv? |
Prof. Meyer antwortet: |
Der Herzog-Konvent hat die Frage nach dem
Gottesbezug gründlich diskutiert und festgestellt, dass es
diesen bisher nur in den Verfassungen von drei der 15
Mitgliedsländer gibt: Neben Deutschland noch Irland und
Griechenland. Damit handelt es sich aber nicht um eine "gemeinsame
Verfassungsüberlieferung", wie sie der Konvent zu formulieren
hatte. Nach der äußerst kontroversen Debatte im
Herzog-Konvent hat der Vorschlag von Prof. Kirchhof deshalb keine
Chancen, nicht zuletzt bei den Delegierten aus mehreren romanischen
Ländern. |
Hanne Hubert
(Hanne.Hubert@gmx.de) aus 53757 St. Augustin (Deutschland)
fragte: |
Wie steht der Konvent zu
einer Veinheitlichung der Sozialstandards in der EU als
Möglichkeit
a) die europäischen Arbeitsmärkte anzugleichen;
b) eine Vorreiterrolle für globale Mindeststandards zu
spielen?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Die Vereinheitlichung von Sozialstandards
wird es nach meiner Auffassung mangels Kompetenz der EU nicht
geben. Ich könnte mir aber durchaus Empfehlungen für
soziale Mindesstandards vorstellen. Dadurch würde dem Gedanken
eines Korridors Rechnung getragen, der die unterschiedlichen
Möglichkeiten der einzelnen Mitgliedsländer
Rücksicht nimmt. |
Katja Laubinger
(klaubinger@hotmail.com) aus Berlin (Deutschland) fragte: |
Meine Frage bezieht sich auf
die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure (z.B der
Sozialpartner) in die EU-Entscheidungsfindung. Von verschiedenen
Seiten wird angeregt zivilgesellschaftlichen Akteuren ein
Anhörungsrecht vor der Kommission einzuräumen, wenn diese
initiativ wird. Auch die Kommission hat dies in ihrem Weissbuch
"Good Gouvernance" vorgeschlagen. M.E. ist dies zu
begrüßen, da zivilgesellschaftliche Akteure (wie Amnesty
International) große Teile der Bevölkerung
repräsentieren. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag und wie
sehen Sie die Chancen dafür im Konvent?
|
Prof. Meyer antwortet: |
Grundsätzlich unterstütze ich
den Vorschlag. Ob er in der Form einer mündlichen
Anhörung oder in der Form der Gelegenheit zu schriftlichen
Stellungsnahmen ungesetzt wird, ist nach meiner Auffassung
zweitrangig. Die künftige Verfassung wird jedenfalls die
Bedeutung der Zivilgesellschaft und ihres miberatenden Votums
herausstellen. Insoweit verweise ich auf den vorgesehenen Art. 34
zur "partizipatorischen Demokratie". |
Irene Nickel
(IreneNickel@web.de) aus Braunschweig (Niedersachsen) fragte: |
Ein Vorschlag zu Artikel 2
des Entwurfs – „Werte der Union“ – zum
ersten Satz:
Wäre es nicht gut, unter den „Werten“ auch die
Sozialstaatlichkeit zu nennen? Das ist doch auch ein wichtiger
Wert!
|
Prof. Meyer antwortet: |
In der Sache stimme ich Ihnen zu.
Allerdings sollte man den Begriff Staat deshalb vermeiden, weil die
EU kein Staat oder gar Superstaat ist. Deshalb engagiere ich mich
zu Art. 2 für die Aufnahme des Wertes der sozialen
Gerechtigkeit und zu Art. 3 für die Aufnahme des Zieles der
sozialen Marktwirtschaft. |
Kathrin Schnurrer aus
Frankfurt (Oder) fragte: |
Sehr geehrter Herr Prof.
Meyer,
welche Rolle spielen die Kirchen der Beitrittsländer in der
Vorbereitung der europäischen Verfassung? Ich denke hier vor
allem an die katholische Kirche in Polen, für die die
Invocatio Deo ja eine sehr wichtige Voraussetzung für den
Beitritt zur EU darstellt.
Vielen Dank, K. Schnurrer |
Prof. Meyer antwortet: |
Die Kirchen sind ein wichtiger Teil der
Zivilgesellschaft, die mit dem Konvent zusammenarbeitet. Nach
meiner Information ist die Invocatio Dei keine Voraussetzung
für den polnischen Beitritt aus der Sicht der katholischen
Kirche in Polen. Denn die polnische Verfassung stützt sich
ausdrücklich auch auf die Überzeugung der polnischen
Bürgerinnen und Bürger, die sich der Invocatio Dei
persönlich nicht anschließen. |
Peter Misik, Peter Sedlacek
(misik@botschaft-slowakei.de) aus Berlin (Deutschland) fragte: |
Wie stehen Sie zum Vorschlag,
das Referendum über die Europäische Verfassung in
Deutschland aufzurufen? Befürchten Sie nicht, dass auch die
Frage des "Gottesbezuges" eine wichtige Rolle in diesem
Zusammenhang spielen könnte? |
Prof. Meyer antwortet: |
Ich bin grundsätzlich für ein
Referendum, weil dadurch die Legitimität der Verfassung
erhöht und ihr Inhalt im Vorfeld des Referendums besser
bekannt gemacht würde. Befürchtungen wegen der Frage des
"Gottesbezuges" habe ich nicht, weil diese nach meiner
Überzeugung durch den Grundrechtekonvent unter dem Vorsitz von
Roman Herzog überzeugend beantwortet worden ist. |
Quelle:
http://www.bundestag.de/dialog/Konferenzen/2003/eu_konvent_trans