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Debatte
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Wortlaut der Reden

Hans Martin Bury, SPD Wolfgang Mischnick, FDP >>

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Frage aufgreifen, die Willy Brandt am 20. Dezember 1990 im Berliner Reichstagsgebäude an uns gerichtet hat. Lassen Sie sie mich sinngemäß umformulieren: Ist jemand in diesem Hohen Haus, der nach dem 5. April 1966 geboren worden ist? -- Da das offensichtlich nicht der Fall ist, möchte ich als jüngstes Mitglied des Deutschen Bundestages

(Heiterkeit -- Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

unsere Debatte aus der Perspektive der jungen Generation konkretisieren.

Welches sind die entscheidenden Argumente der Berlin-Befürworter? -- Glaubwürdigkeit und Symbolik. Beide Gedanken greifen zu kurz, weil sie nur vergangenheitsgerichtet sind. Berlin ist Hauptstadt des geeinten Deutschland. Die Entscheidung über den Sitz von Parlament und Regie

rung hat der Einigungsvertrag -- auch mit Zustimmung fast aller Berlin-Befürworter -- ausdrücklich offengehalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind also in unserer Entscheidung in jeder Hinsicht wirklich frei, und zwar nicht nur formal, sondern auch auf Grund unserer geschichtlichen Entwicklung. Denn Geschichte ist nicht statisch, sondern dynamisch. Und die Vorstellung von der Funktion Berlins, die manche hier konservieren, stand im Verbund mit einem Deutschland in den Grenzen von 1937.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr! -- Widerspruch des Abg. Peter Kittelmann [CDU/CSU])

In der Grenzfrage haben wir geschichtliche Entwicklungen akzeptiert. Das hat unserer Glaubwürdigkeit nicht geschadet, im Gegenteil!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des

Bündnisses 90/GRÜNE)

Die jungen Generationen verbinden mit der parlamentarischen Demokratie Bonn, das vom westdeutschen Provisorium zur gesamtdeutschen Politikwerkstatt geworden ist, und zwar mit europäischer Perspektive. Diese Perspektive kommt mir in unserer Diskussion zu kurz.

Alle haben begrüßt, daß die deutsch-deutsche Grenze gefallen ist. Wir dürfen aber jetzt nicht stehenbleiben und uns selbstgerecht zurücklehnen. Die deutsche Einigung ist für mich nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Und ein grenzenloses Europa, ein Europa der Regionen, braucht keine nationalstaatlichen Machtzentren alter Prägung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Entgegen allen Beteuerungen laufen wir heute Gefahr, auf das Auslaufmodell »Nationalstaat« zu setzen und den europäischen Zug der Zeit zu verpassen.

Einige wenden zu Recht ein, daß wir uns nicht allein auf Westeuropa konzentrieren dürfen. Auch ich messe einer Osteuropapolitik große Bedeutung bei. Doch die Lokomotive wird in Straßburg und Brüssel aufs Gleis gesetzt und nicht in Berlin. Deutschland kann und Deutschland soll hier nicht im Alleingang agieren, sondern im europäischen Verbund.

Ein weiterer Aspekt, um den wir uns wenigstens heute nicht herummogeln dürfen, sind die Kosten eines Umzugs. Ich bin immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert worden: »Wer die Kosten in den Vordergrund stellt, hat keine Grundsätze.« -- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben in den letzten Tagen von Vertretern großer Jugendverbände einen Brief bekommen, in dem die deutschen Beiträge zur Linderung von Hunger und Elend in der Welt aufgelistet worden sind. Der Vergleich der Kosten eines Umzugs mit diesen Zahlen ist für uns alle beschämend.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des

Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/GRÜNE])

Wer die Kosten in die Diskussion einbezieht, hat vielleicht andere Grundsätze, aber sicher keine schlechteren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn egal, ob der Umzug 50 oder 100 Milliarden DM kostet: Wir reden über Geld, das wir gar nicht haben. Niemand hier hat im Verlauf der ganzen Debatte gesagt, wie wir es aufbringen wollen. Wieder wird ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft gezogen. Es ist unverantwortlich, wie hier mit einer Politik für die Vergangenheit die Handlungsspielräume der Zukunft eingeengt werden sollen. Die finanzielle und psychologische Belastbarkeit der Menschen in der Bundesrepublik ist nicht unbegrenzt. Ich bitte Sie, diesen Punkt angesichts wachsender Wohnungsnot, fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten und struktureller Probleme auch in den alten Ländern nicht zu unterschätzen.

Lassen Sie uns auf die wesentlichen Herausforderungen der Politik zurückkommen! Wir brauchen keinen neuen Parlaments- und Regierungssitz. Die junge Generation entwickelt ein Selbstbewußtsein, das ohne

den Hang zu Symbolen nationaler Größe und Repräsentanz auskommt. Eine Entscheidung für Bonn ist eine Entscheidung für die Zukunft.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/GRÜNE])

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Wolfgang Mischnick das Wort.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_025
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