Rede von Prof. Dr. Rita Süssmuth zur Ausstellungseröffnung
Anläßlich der Eröffnung der Ausstellung der Kunst-am-Bau-Konzepte für das Reichstagsgebäude und der Ergebnisse des Vergabeverfahrens für die Innenhöfe des Paul-Löbe-Haus/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus führte die damalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth am 9. Oktober 1998 aus:
Gestern hat der Kunstbeirat der 13. Wahlperiode seine letzte Sitzung abgehalten. Damit scheint mir der Zeitpunkt gekommen, dass wir uns Rechenschaft geben über den im Laufe einer Legislaturperiode zurückgelegten Weg. Es ist ein Weg, der gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Kunstbeirat, mit den Kunstsachverständigen und den Künstlern, den Architekten sowie den Vertretern der Bundesbaugesellschaft und der Bundestagsverwaltung zurückgelegt wurde. Mein Dank gilt Ihnen allen, und nicht zuletzt auch dem Büro für Kunst und Kultur, das innerhalb einer kurzen Frist diese Ausstellung hat organisieren können.
Am Anfang dieses Weges standen die guten Erfahrungen, die der Deutsche Bundestag mit der Entwicklung eines Kunstkonzeptes für den neuen Plenarbereich in Bonn gemacht hatte. Es gelang in Bonn, in jenen Dialog von Architektur und Kunst einzutreten, der der eigentlichen Idee der "Kunst am Bau" in ihrem besten Sinne zugrundeliegt. Nicht weniger als ein vergleichbar beeindruckendes Gesamtkunstwerk von Architektur und Kunst soll hier in Berlin entstehen. Die Herausforderungen allerdings sind, gerade was das Reichstagsgebäude anbetrifft, ungleich größer, da die vorhandene historische Bausubstanz kompliziertere Rahmenbedingungen setzt. Für eine abschließende Wertung der Kunst-am-Bau-Maßnahmen des Deutschen Bundestages ist es jedoch noch zu früh, da wir vorerst mit Skizzen und Projekten vorlieb nehmen müssen. Zur Zeit ist also vorrangig die Phantasie des Betrachters herausgefordert, sich die Bezüge zwischen Architektur und Kunst, zwischen Kunst und Politik in den ausgestellten Werken zu erschließen.
Ein Kunstwerk jedoch, das mir besonders am Herzen liegt, kann heute schon vorgestellt werden. Es ist dies jenes Kunstwerk, das ursprünglich im Kunstkonzept für den Plenarsaalbereich in Bonn vorgesehen war und das nunmehr in Berlin im Reichstagsgebäude seinen Platz finden wird: das Bronzeobjekt "Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys. Ich danke dem Leihgeber, dem Institut für Auslandsbeziehungen, und insbesondere Ihnen, Herr Prof. Adriani, für Ihre erfolgreiche Vermittlung, dass in so großzügiger Weise dieses Werk als Dauerleihgabe für das Reichstagsgebäude zur Verfügung gestellt wurde. Sie werden sich noch der heftigen und bedauerlicherweise oft unsachlich geführten Auseinandersetzungen über die Aufstellung dieses Werkes von Joseph Beuys im Deutschen Bundestag in Bonn erinnern.
Für mich waren diese Auseinandersetzungen immer ein Beweis für die künstlerische Qualität der Arbeit von Joseph Beuys: Joseph Beuys gehört eben nicht zu jenen Künstlern, die man zwar kunsthistorisch würdigt, von denen man sich aber bald abwendet und die Aufmerksamkeit anderen Themen und Künstlern zuwendet. Sein Weltentwurf zielt auf die Mitte unserer Existenz. Daher bewegt, ja provoziert er die Menschen auch heute noch. In Abwandlung eines Sinngedichtes von Gotthold Ephraim Lessing ließe sich sagen: Künstler wollen weniger erhoben, doch fleißiger diskutiert sein. Diese Wirkung erzielen die Arbeiten und Ansichten von Jospeh Beuys bis heute - und was ließe sich Besseres als Würdigung seines Werkes feststellen? Das Werk von Joseph Beuys verdient daher unser Engagement, denn es bestärkt uns in unserem Willen zur selbstverantwortlichen Gestaltung unserer Welt in Freiheit und Mündigkeit.
Zwei weitere bemerkenswerte Erfolge der Arbeit des Kunstbeirates lassen sich bereits jetzt feststellen: In einer Zeit, in der die Abschaffung der Kunst-am-Bau-Regelung diskutiert wurde, hat der Deutsche Bundestag für das Reichstagsgebäude sogar über das Maß der üblichen Regelung hinaus drei Prozent der Bausumme für Kunstwerke zurückstellen lassen. Und der Deutsche Bundestag hat Wort gehalten: Allen Empfehlungen und Forderungen zum Trotz, in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit vorrangig im Bereich von Kunst und Kultur zu sparen, wurde die ursprünglich getroffene Regelung, das vereinbarte Budget für alle drei Bauprojekte im Spreebogenbereich zur Verfügung zu stellen, aufrechterhalten.
Auch wenn, wie ich vorhin erläuterte, viele Ergebnisse dieser vierjährigen Arbeit zur Zeit noch lediglich Skizzen- und Projektcharakter haben, so können sie sich in ihrem Gesamtzusammenhang schon jetzt im doppelten Sinne des Wortes sehen lassen: In diesen vier Jahren wurde ein stimmiges Gesamtkonzept entwickelt, das alle drei Bauprojekte umfaßt und das jedem der Bauprojekte ein auf seine Architektur hin orientiertes Kunstprofil verleihen wird und doch zugleich die Bezogenheit der Gebäude aufeinander sichtbar werden läßt.
Darüber, wie dieses Kunstprofil beschaffen sein soll, hat es lebhafte, ja kontroverse Diskussionen im Kunstbeirat und nicht zuletzt in der Öffentlichkeit gegeben. Fragen wurden aufgeworfen wie diese: Sind genügend deutsche oder nicht doch zu wenig internationale Künstler vertreten? Kommen Ost und West zu ihrem Recht? Welche Rolle darf die politische Vergangenheit eines Künstlers spielen? Dominieren die Etablierten und das allseits Bekannte? Sind vielleicht die Jungen noch nicht erfahren genug, Raum und Architektur souverän zu besetzen? Alle diese Fragen wollten intensiv diskutiert werden. Und dennoch wird niemand behaupten können, es hätten sich abschließende Antworten finden lassen. Insofern soll das hier vorgestellte Kunstkonzept auch nicht den Versuch darstellen, die eine und allein geeignete Lösung für "Kunst im Parlament" zu bieten. Vielmehr ist dieses Konzept das immer offene Ergebnis einer Reihe von Entscheidungen, von wohlüberlegten Entscheidungen gewiß, aber nicht unangreifbaren. Es ist mithin auch eine Einladung zur Diskussion über das vorgestellte Kunstkonzept selbst, aber auch über die angemessene Rolle der Kunst in einer Demokratie im allgemeinen und im Gebäude ihrer zentralen Entscheidungsinstanz, dem Parlament, im besonderen.
Ich möchte diesen für Diskussionen offenen Charakter unseres Kunstkonzeptes an einem Beispiel erläutern. So wird die eine oder andere wichtige künstlerischer Position, Epoche oder Stilrichtung, die in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik Deutschland oder der ehemaligen DDR eine bedeutende Rolle gespielt hat, keine Berücksichtigung finden. Doch der Kunstbeirat hat sich bewußt dafür entschieden, kein museales Konzept zu entwickeln, sondern den heute gültigen Kunstströmungen und den heute vielversprechenden Künstlern eine Chance zur Verwirklichung ihrer Ideen zu bieten. Ein solches Kunstkonzept, das sich an der durchaus geschichtsträchtigen Zeit der Entstehung der Gebäude orientiert, erscheint mir angemessen, einmal, weil ja auch die Architektur der Gebäude, die in ein Kräfteparallelogramm mit den Kunstwerken eingebunden sein soll, nur Ausdruck ihrer Zeit sein kann, zum zweiten aber, weil es nicht die Aufgabe eines Parlamentes sein sollte, einer Nationalgalerie Konkurrenz zu machen. Durch diesen konzeptionellen Ansatz legen wir Parlamentarier Zeugnis ab vom kulturellen Selbstverständnis unserer Zeit. Wir richten unseren Blick bewußt nicht vorrangig auf das, was einst künstlerische Geltung hatte und - natürlicherweise - nicht auf das, was noch verborgen im Schoße der Zukunft liegt.
Die Grundidee der Integration von Kunst und Architektur bei Kunst-am-Bau-Maßnahmen läßt nur in begründeten Ausnahmefällen zu, dass Künstler berücksichtigt werden, die nicht auf Räume und Architektur bezogen arbeiten. Als weitere Vorgabe kommt hinzu, dass das vorgesehene Budget zu maßvoller Beschränkung zwingt, es also unabdingbar ist, jene Künstler zusammenzuführen, die miteinander und mit den Architekten in ein fruchtbares Zwiegespräch treten. Insofern wird mancher Künstler genannt werden können, der von seinem künstlerischen Rang oder seiner kunsthistorischen Bedeutung her hätte Berücksichtigung finden müssen - und gleichwohl aus einer Reihe von jeweils verschiedenen Erwägungen heraus dennoch keinen Auftrag erhalten hat.
Die Verwirklichung dieser Vorstellungen legt allerdings eine Verpflichtung nahe: Der Kunstbeirat sollte sich dafür einsetzen, in den Gebäuden des Deutschen Bundestages ein Forum zu schaffen, das fortwährend eine lebendige Begegnung von Kunst und Politik ermöglicht. Es darf nicht sein Bewenden dabei haben, mit lediglich einer einmaligen Anstrengung die Gebäude künstlerisch auszugestalten. Ausstellungen junger Künstlerinnen und Künstler, Gesprächsforen, Dichterlesungen und dergleichen Veranstaltungen mehr müssen diesen wunderbaren Rahmen, den die Kunst-am-Bau-Werke für die Arbeit des Parlamentes bieten werden, mit Leben füllen. Auf diese Weise könnten in Zukunft Kultur und Politik einander nähergebracht werden, zu gegenseitiger Anregung, auch in kontroversen Begegnungen oder provokativen Zumutungen.
Eine Frage wird gleichwohl immer wieder aufgeworfen werden: Darf ein Parlament sich überhaupt Kunst in diesem materiellen, d.h. finanziellen Umfange leisten? Da die Bundesrepublik Deutschland sich nicht nur als Rechts- und Sozialstaat, sondern auch als Kulturstaat versteht, kann diese Frage für den Bereich ihres zentralen Entscheidungsorganes, des Parlamentes, wohl nur bejaht werden.
Das Parlament eines demokratischen Staates wird daher nicht darauf verzichten dürfen, seine historische, geistige und ethische Prägung erkannt und ausgedrückt zu finden in jenen Werken der Kunst, die Teil seiner legitimen Selbstdarstellung sind. Freilich wird sich das Parlament bei seinen Entscheidungen für bestimmte Künstler, Kunstrichtungen und Kunstwerke nie einer einhelligen Zustimmung in der Öffentlichkeit sicher sein. Das kann es nicht, und das soll es auch nicht, da die streitbare Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk einen Teil seines Wesens ausmacht. Ich lade also alle Bürgerinnen und Bürger zu einer engagierten Auseinandersetzung mit den vorgestellten Kunstkonzepten ein, also auch zum Streiten - über die einzelnen Kunstwerke oder über das kulturpolitische Engagement des Deutschen Bundestages - Streiten allerdings im Rahmen einer gebotenen Streitkultur. Über dieses Streiten sollte gleichwohl nicht das Sich-Erfreuen an gelungen Entwürfen und anregenden Kunstwerken in den Hintergrund treten. Sich-Erfreuen und Streiten, zu beidem lade ich ein.
Dann werden Sie sich leicht von dem überzeugen können, was ich einmal über das immer fruchtbare Verhältnis von Kunst und Politik in Abwandelung eines Verses von Goethe formuliert habe: Politik und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, und haben sich, eh man es denkt, gefunden.