Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum zehnjährigen Jubiläum des Multikulturellen Zentrums in Dessau am 6. Juni 2003.
"Seit zehn Jahren besteht das Multikulturelle Zentrum in Dessau.
In dem Haus, welches ein Ort der Begegnung für Menschen ganz
unterschiedlicher Herkunft ist, arbeiten Männer und Frauen
für die Integration ihrer ausländischer
Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ein wesentlicher Teil
dieser Integrationsarbeit ist die Beratung, denn
selbstverständlich kennen sich viele Zuwanderer mit den
deutschen Gesetzen und Bestimmungen nicht oder nur sehr gering aus.
Deswegen brauchen sie Hilfe, Unterstützung und
Ratschläge, wie sie sich durch den teilweise doch sehr
unübersichtlichen Dschungel der deutschen Bürokratie
schlagen.
Das ist der eine Teil, den die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Multikulturellen Zentrums leisten. Und sie machen
dieses wichtige Angebot nicht nur Ausländern, die in Dessau
leben, sondern allen Zuwanderern, die sich in Sachsen-Anhalt
niedergelassen haben. Bürgerkriegsflüchtlingen,
Asylbewerbern, Russlanddeutschen, sogenannte
Kontingentflüchtlingen, Menschen, die schon seit DDR-Zeiten
hier leben oder aber nach der Wende nach Sachsen-Anhalt gekommen
sind und vielen anderen mehr: Ihnen allen steht das Multikulturelle
Zentrum offen. Ihre persönlichen Schicksale, ihre Sorgen, ihre
teilweise bitteren Erfahrungen bringen sie mit, in der Hoffnung,
Rat, aber möglicherweise auch Trost zu finden. Damit ist das
Multikulturelle Zentrum auch ein Ort der Begegnung und der
Verständigung geworden. Denn natürlich sucht man in der
Fremde Seinesgleichen, sucht man nach Menschen, die Ähnliches
erlebt haben und vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen. Das
Multikulturelle Zentrum ist ein sicherer Platz, wo sich Menschen,
die aus ganz unterschiedlichen Gründen zu uns gekommen sind,
ihre Lebensgeschichten erzählen.
Aber das multikulturelle Zentrum arbeitet nicht nur nach innen
gerichtet, sondern seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen
auch die Verständigung mit den Bürgerinnen und
Bürgern dieser Stadt, dieses Landes. Darin liegt der ebenso
wichtige, andere Teil der Integrationsarbeit. Um ein Zusammenleben
zwischen Deutschen und Ausländern zu organisieren, das frei
ist von Vorurteilen und geprägt ist von Respekt und Akzeptanz,
dazu braucht man Vermittler. Menschen, die sich in beiden
Kulturkreisen auskennen: In dem der Mehrheitsgesellschaft und in
dem des Zugewanderten. Sie sind es, die Brücken bauen und
für Verständnis auf beiden Seiten werben können.
Herr Minhel, einer der Gründer und seit einigen Jahren Leiter
des Multikulturellen Zentrums, gehört zu diesen Vermittlern.
Ich möchte ihm an dieser Stelle, stellvertretend für alle
anderen, die diese Funktion ebenfalls sehr engagiert ausüben,
ausdrücklich danken. Sie tragen mit ihrer Arbeit ganz
wesentlich dazu bei, dass Integration nicht nur eine Floskel
bleibt, sondern konkret wird. Dort, wo das Zusammenleben schwierig
ist, wo der Umgang miteinander nicht so gut funktioniert, wie man
es sich wünscht, dort greifen Sie ein, dort versuchen Sie zu
vermitteln und eine Lösung zu finden.
Konflikte zwischen, ich sage mal, Einheimischen und Zugewanderten
gibt es in dieser Stadt, in Sachsen-Anhalt, in der gesamten
Bundesrepublik, ja überall auf der Welt. Nirgendwo
funktioniert der Umgang zwischen der sogenannten
Mehrheitsgesellschaft und Zuwanderern völlig reibungslos.
Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Interessen, aber auch aus
unterschiedlichen Weltanschauungen ergeben, sind überhaupt
nicht zu vermeiden und sie sollten auch auf gar keinen Fall
verschwiegen oder unter den Teppich gekehrt werden. Eine
multikulturelle Gesellschaft bedeutet, in ganz alltäglichen
aber auch grundsätzlichen Fragen, immer wieder einen
Kompromiss auszuhandeln.
Wir haben es jüngst dieser Tage wieder am Beispiel von Frau
Ludin erlebt, die bis vor das Bundesverfassungsgericht gegangen
ist, um klären zu lassen, ob sie als Lehrerin in einer
deutschen Schulklasse das Kopftuch tragen darf. Hinter diesem
Konflikt verbergen sich ganz grundsätzliche Fragen, hier
prallen das Selbstverständnis einer gläubigen Muslimin
und das Neutralitätsgebot und die Säkularität der
Bundesrepublik aufeinander.
Konflikten dieser Art müssen wir uns stellen und sie
miteinander aushandeln. Wichtig ist, dass wir fair miteinander
umgehen, dass nicht der eine auf Kosten des anderen Emotionen
schürt. Hier sind auch wir Politiker gefordert: Wir
müssen sehr darauf acht geben, dass wir nicht Ängste
hochkochen oder Vorurteile bedienen, wenn zum Beispiel über
das Zuwanderungsgesetz verhandelt wird. Leider ist das Gesetz aus
formalen Gründen im Bundesrat gescheitert. Aber ich hoffe
sehr, dass ein Kompromiss zwischen Regierung und Opposition so bald
wie möglich gefunden wird, um endlich eine gesetzliche
Regelung für die Zuwanderung und für die - das ist
besonders wichtig! - Integration zu haben. Es ist doch sehr
ermutigend, dass alle gesellschaftlichen Kräfte, also Kirchen,
Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und andere,
ausdrücklich dieses Zuwanderungsgesetz befürworten.
Die Chance des Zuwanderungsgesetzes ist es, klare Regeln zu
verabschieden, die den Zuwanderern neue Möglichkeiten hier in
Deutschland eröffnen, ihnen aber auch Pflichten auferlegen.
Wenn wir Zuwanderung, die wir eh seit Jahrzehnten haben und die wir
in Zukunft dringend brauchen, klar und verständlich steuern,
dann bekennen wir uns endlich dazu, eine Zuwanderungsgesellschaft
zu sein. Dieses Bekenntnis ist auch notwendig, um all denen den
Wind aus den Segeln zu nehmen, die Ausländer nur zu
bereitwillig unter dem Aspekt der inneren Sicherheit, also im
Grunde als ein Sicherheitsrisiko, betrachten.
Ich möchte Ihnen kurz erläutern, warum es mir so wichtig
ist, dass wir uns gerade im Hinblick auf das Zusammenleben zwischen
Menschen unterschiedlicher Herkunft auf eine sehr respektvolle
Umgangsweise verständigen sollten.
Der Gewalt- und Konfliktforscher Professor Wilhelm Heitmeyer hat in
der Untersuchung "Deutsche Zustände" herausgefunden, dass es
in unserer Gesellschaft stark ausgeprägte ablehnende Haltungen
bestimmten Gruppen gegenüber gibt. Heitmeyer nennt sie
feindselige Mentalitäten. Danach sind 55 Prozent der Befragten
der Auffassung, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben.
Fast 28 Prozent meinen, dass Ausländer zurück geschickt
werden sollten, wenn die Arbeitsplätze knapp werden. Und ein
beunruhigender Beleg dafür, dass Rassismus noch immer in zu
vielen Köpfen steckt, zeigt folgende Zahl: 16 Prozent aller
Deutschen sind der Meinung, dass die Weißen zu Recht
führend in der Welt sind und für 14 Prozent gibt es
Gruppen in unserer Gesellschaft, die weniger wert sind als andere.
Dahinter steckt die menschenverachtende Ideologie der
Rechtsextremen von der Ungleichwertigkeit der Menschen.
Sie hier in Dessau wissen, wovon ich spreche. Vor fast genau drei
Jahren wurde Alberto Adriano von Rechtsextremen ermordet. Er war
Farbiger, stammte aus Afrika und lebte seit vielen Jahren in dieser
Stadt, mit seiner Frau und seinen Kindern. Er wurde brutal
misshandelt, eben weil seine Mörder offenbar in ihm Jemanden
sahen, der kein Recht auf Leben in Deutschland hat, der in ihren
Augen weniger wert war, weil er schwarz war. Verstehen Sie mich
nicht falsch: Dessau ist keine rechtsextreme Stadt oder gar eine
rechtsextreme Hochburg. Damit täte man den Bürgerinnen
und Bürgern von Dessau unrecht. Aber, und das hat mich
hellhörig gemacht, wie mir Vertreter des Multikulturellen
Zentrums sagten, haben es gerade Schwarzafrikaner immer noch schwer
in Dessau. Sie spüren eine gewisse Ablehnung, sie fühlen
sich nicht wohl in ihrer Haut und gehen auf Distanz. Das stimmt
nachdenklich, es sollte überprüft werden, wo die Ursache
für diese Distanz liegen könnte.
Auch in Berlin, ausgerechnet in Kreuzberg, was doch der
"Multi-Kulti-Kiez" schlechthin ist, sind solche Phänomene zu
beobachten. Wissenschaftler des Zentrums Demokratische Kultur haben
herausgefunden, dass es in dem fusionierten Ost-West-Bezirk
Kreuzberg-Friedrichshain bedenkliche rechtsextreme und rassistische
Entwicklungen gibt. Und zwar nicht nur unter Deutschen, sondern
auch unter Ausländern. Vor allem Schwarze haben zu leiden: Sie
werden häufig in Cafes nicht bedient oder ganz generell als
Dealer oder Kriminelle abgestempelt. Auch viele Türken lehnen
Schwarze ab. Es scheint nach Ansicht der Sozialwissenschaftler eine
Hierarchie zu geben: Türken fühlen sich besser als
Araber, Polen sehen sich über den Türken stehend und
Schwarze sind ganz unten auf dieser Leiter angesiedelt.
Ein weiteres beunruhigendes Kapitel hat diese lokale Untersuchung
ergeben: In beiden Stadtteilen ist der Antisemitismus stark
vertreten, unter Deutschen wie unter Ausländern.
Sozialarbeiter berichten, dass das Wort Jude ganz
selbstverständlich zum alltäglichen Schimpfwort geworden
sei. Sie sehen, auch dort, wo, wie im westlichen Kreuzberg, seit
Jahrzehnten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Weltanschauung und
Religion zusammenleben, gibt es ungeheuer vielfältige Probleme
und Konflikte. Die lassen sich nur mit sehr viel Geduld und
Engagement lösen. Wir müssen aufeinander zugehen und
gemeinsam einen Weg einschlagen, der zu mehr Integration und zu
mehr Verständnis füreinander führt.
Deshalb bin ich auch sehr froh darüber, dass sich in den
vergangenen Jahren in Dessau ein gut funktionierendes Netzwerk von
Initiativen etabliert hat, das sich für Verständigung und
Respekt voreinander einsetzt und versucht, gegen Diskriminierung
und Gewalt vorzugehen. Dieses Netzwerk, diese Initiativen, in denen
sich Menschen jeden Alters engagieren, sind ungeheuer wichtig, auch
um oben beschriebenen feindseligen Mentalitäten entgegen zu
treten. Ich hoffe, sehr, dass dieses Netzwerk noch lange wirkt und
auch der politische Wille in der Stadt weiterhin besteht, es
finanziell wie ideell zu unterstützen.
Ich möchte an dieser Stelle, ich habe das schon mehrmals
getan, ausdrücklich mein Bedauern darüber
ausdrücken, dass der Verein Miteinander, der für
Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren eine sehr gute Arbeit
insbesondere zur Bekämpfung des Rechtsextremismus geleistet
hat, in seinen finanziellen Möglichkeiten so stark
eingeschränkt wurde. Diese politische Entscheidung auf
Landesebene, erlauben Sie mir die Wertung, halte ich für
falsch. Angesichts der auch im vergangenen Jahr laut
Verfassungsbericht wieder gestiegenen Zahl von rechtsextremen
Straf- und Gewalttaten müssen wir alle Anstrengungen
unterstützen, die sich explizit mit der Abwehr
antidemokratischer und rechtsextremer Einstellungen
beschäftigen.
Auch aus diesem Grund bin ich auch nach Dessau zum
Jubiläumsfest des Multikulturellen Zentrums in Dessau
gekommen. Denn die Arbeit dieses Zentrums ist ebenfalls ein
unverzichtbarer Beitrag für eine friedliche, von gegenseitigem
Respekt und gegenseitiger Anerkennung getragenen Gesellschaft, in
der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Prägung ihren
Platz finden sollen."
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