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Februar 01/1999
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"Nur aus der Erinnerung wächst die Kraft für die Zukunft"

von Gerd Appenzeller

Die Nachkriegsgeschichte Berlins kennt zwei Daten, die für die historische Bedrohung der Stadt und ihre Abhängigkeit stehen, und zwei weitere, mit denen sich Momente des Glücks und des Jubels verbinden. Der 17. Juni 1953, der Beginn des dann blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes in Berlin und in der DDR, und der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus, sind die von dunklen Wolken überlagerten zeitgeschichtlichen Wegmarken, mit denen sich schmerzhafte Erinnerungen verknüpfen. Der 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel, und der 20. Juni 1991, der Tag, an dem der Bundestag die Verlagerung des Regierungssitzes nach Berlin beschloß, sind die zwei befreienden Momente, die in den Geschichtsbüchern der Stadt verzeichnet bleiben werden. Die beiden Tiefpunkte der 50 Nachkriegsjahre wären ohne die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR nie traurige Wirklichkeit geworden. Aber auch der glückliche Moment des Mauerfalls wäre ohne die Sowjetunion, diesmal jedoch, weil sie stillhielt, nicht möglich gewesen. Bewirkt wurde er aber durch die Deutschen in der DDR, und nur durch sie. Und daß sich in den Abendstunden des 20. Juni 1991 dann doch noch nach langem Ringen eine Mehrheit für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin fand, auch das haben die Deutschen sich alleine, nur sich selbst zuzuschreiben.

Die Jahre ab 1990 waren gerade für Berlin Jahre des beständigen emotionalen Auf und Ab. Phasen, in denen geradezu eine goldgräberhafte Stimmung in der Stadt herrschte, wurden abgelöst von Perioden tiefer Depression. Die Gefühle schwankten zwischen der Illusion, zum Nabel der Welt zu werden, und der schieren Hoffnungslosigkeit, es würde wohl nie etwas aus dieser Stadt. Dem Freudenausbruch "Jetzt wird alles gut, die Bonner kommen!" folgten prompt die Meldungen über Firmenschließungen, steigende Arbeitslosigkeit und immer neue Haushaltslöcher. Nach dem Umzugsbeschluß aber machten sich alle positiven Erwartungen an dem Kommen des Parlamentes fest. Und auch, falls 1999 nicht das Jahr werden sollte, in dem sich die wirtschaftliche Entwicklung endgültig zum Besseren wendet, so werden doch die Wahl des Bundespräsidenten im Mai und davor die erste Sitzung des Bundestages im April Tage sein, an denen die Berliner spüren: Es ist geschafft.

G. Appenzeller
GERD APPENZELLER, Jahrgang 1943, ist seit 1. Januar 1999 Re daktionsdirektor des Berliner Tagesspiegel. Der gebürtige Berliner hat sein journalistisches Handwerk "von der Pike auf" gelernt: Nach abgeschlossenem Volontariat zunächst als Lokalredakteur tätig, wechselte er 1970 als Chef vom Dienst zum Südkurier nach Konstanz, wurde dort 1977 stellvertretender Chefredakteur und 1988 Chefredakteur. Appenzeller arbeitete als freier Fernsehjournalist beim Südwestfunk und bei der Deutschen Welle und war u.a. in Großbritannien, den USA, Südafrika, Namibia, Peru und Israel tätig.

Viel ist, und das durchaus zu Recht, in den vergangenen Jahren gerade aus Bonner oder, wie man in Berlin zu sagen pflegt, aus westdeutscher Sicht gesagt worden über Ruppigkeiten, Unfreundlichkeit, bürokratisches Beharrungsvermögen, Unflexibilität der Menschen in dieser Stadt. Vieles daran mag ja wahr sein. Die Bereitschaft zu selbstkritischer Hinterfragung dessen, was man tut und wie man sich gibt, hat in der Stadt indes durchaus zugenommen. Aber in einem sind sich die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, beider Teile der geeinten Stadt, ziemlich einig: Es ist ein Glücksfall, daß das Parlament kommt, nicht nur als historische Chance, sondern auch und vor allem als belebender Impuls für die Stadt.

Die Menschen freuen sich darauf, sie hoffen, daß aus jenen, die schon lange hier wohnen, und denen, die als neue Bürger der Stadt begrüßt werden können, die Mischung aus Aufbruchswillen und Abgeklärtheit erwächst, die man braucht, um in halbfertigen Räumen, zwischen Pfützen und aufgerissenen Bürgersteigen, im Stau oder in überfüllten U-Bahn-Wagen den Glauben an das gute Ende nicht zu verlieren. Berlin wird, man muß nur daran glauben. Ohne die Zuwanderung von Menschen aus ganz Europa wäre die Stadt nicht zu der Metropole gewachsen, die sie bereits vor 1933 war. Und auch nun wird die Stadt wieder erst ganz lebendig, voller strahlender Attraktivität sein, wenn die Völker der Welt nicht nur auf dieses Berlin schauen, sondern nach Berlin kommen. Die Republik, die von hier aus regiert werden wird, ist die Republik, die als verläßlicher Partner ihren Platz in der Welt gefunden hat. Aber sie ist größer geworden und knüpft wieder ganz räumlich an die guten Enden der Geschichte an, die es in Deutschland auch gegeben hat. Freilich: Nirgendwo kann man schwerer die dunkle Seite der Historie verdrängen als in der Stadt, in der ihre Zeugnisse unübersehbar sind. Aber auch das hat sein Gutes, da, wie wir alle wissen, nur aus der Erinnerung die Kraft für die Zukunft wächst.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9901/9901004
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