Deutscher Bundestag
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August 07/1999
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"Das erste Mal"

VON MICHAEL F. FELDKAMP

Der erste Bundestagspräsident Erich Köhler
Zum ersten Bundestagspräsidenten wurde am 7. September 1949 Erich Köhler gewählt.

Meistens erinnert man sich an das "erste Mal" sehr gerne, zumal wenn damit Traditionen begründet wurden, auf die mit Stolz zurückzuschauen es sich auch nach vielen Jahren immer noch lohnt. So etwas gibt es auch im Bereich der Politik und auch im Deutschen Bundestag. Dem "ersten Mal" in der Parlamentsgeschichte schenkte man bisher jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei können mit dem "ersten Mal" parlamentarische Usancen begründet werden, die geradezu epochal im Parlamentsalltag gewesen sein können und Wendepunkte markieren. Für die in Vorbereitung befindliche Neubearbeitung des "Datenhandbuchs des Deutschen Bundestages 1949–1999", bearbeitet von Peter Schindler, ist eine Rubrik aufgenommen worden, die dem "ersten Mal" in der Parlamentsgeschichte nachgeht. Das Kapitel lädt zum Blättern geradezu ein und hebt sich von den auf dem ersten Blick ernüchternden übrigen Zahlenreihen und Tabellen erfreulich ab.

Welcher Abgeordnete legte zum ersten Mal sein Mandat nieder? Wann wurde das erste konstruktive Misstrauensvotum eingebracht? Welches war das erste vom Bundestag verkündete Gesetz? Wer erhielt den ersten Ordnungsruf? Seit wann gibt es Kleine und Große Anfragen? Wer wurde erstmals von der Teilnahme an der Plenarsitzung ausgeschlossen und warum? Wann wurde erstmals die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers gestellt? Wann wurde einem Redner das erste Mal das Wort entzogen?

Das sind Fragen zu Ereignissen, die im jeweiligen Augenblick der 50­jährigen Geschichte des Deutschen Bundestages zwar die nötige Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit erheischten, aber heute teilweise vergessen sind. Viele Begebenheiten sind jedoch zugleich Meilensteine in der Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie, weshalb sie auch an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden.

Kommunisten im ersten Bundestag

Am 7. September 1949 konstituierte sich der erste Deutsche Bundestag. Alles was in dieser Sitzung geschah war neu. Dennoch konnte mit großer Souveränität diese Sitzung eröffnet und geleitet werden, denn bereits der erste Redner und Alterspräsident war Paul Löbe (SPD), der von 1920 bis 1924 und von 1925 bis 1932 Präsident des Reichstages der Weimarer Republik war. Er erhielt auch den ersten Beifall für seine Rede, als er ausdrücklich die Entsendung der Berliner Abgeordneten hervorhob, deren Mitwirkungsrecht im Bundestag aufgrund des Vier­Mächte­Status der Stadt bis 1990 eingeschränkt blieb. Trotz des wenig pathetischen, aber doch sehr feierlichen Moments erhielt Löbe überraschenderweise auch den ersten Zwischenruf. Er kam vom kommunistischen Abgeordneten Max Reimann, dessen Partei im ersten Bundestag saß, da die 5­Prozent­Klausel auf jedes Land einzeln gerechnet wurde und nicht wie später auf das gesamte Bundesgebiet Anwendung fand. Löbe hatte in seiner Rede das "Hitlersche Ermächtigungsgesetz" von 1933 als jenes Instrument gegeißelt, das "die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben" habe, als Reimann rief: "Wie viele Abgeordnete sitzen hier [gemeint war im Bundestag], die dafür gestimmt haben?" Tatsächlich gab es einige wenige Abgeordnete im ersten Deutschen Bundestag, die bereits im Reichstag der Weimarer Republik saßen und dort 1933, ohne die Folgen ermessen zu können, dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatten.

Pädagogische Akademie in Bonn
Konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 in der Pädagogischen Akademie in Bonn

Ebenfalls ein kommunistischer Abgeordneter, Heinz Renner, erhielt am 20. September 1949 den ersten Ordnungsruf durch den am 7. September 1949 gewählten ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler, weil dieser von einer "Hetze" deutscher Parteien sprach, als Bundeskanzler Adenauer – auch mit Blick auf die Sowjetunion – von "allen Völkern" die Mithilfe bei der Rückgabe von Gefangenen und Verschleppten verlangte.

Die Politik der Kommunisten, die bis 1953 im Bundestag vertreten waren, erschien den demokratischen Parteien von Anfang an als eine Politik der Destruktion und Provokation. Sie hatten sich schon im Parlamentarischen Rat gegen das Grundgesetz und gegen einen "westdeutschen Staat" ausgesprochen, der nach ihrer Meinung nur die "Spaltungspolitik" der westlichen Alliierten betreiben würde. Auch im Bundestag suchten die kommunistischen Abgeordneten die Konfrontation mit den bürgerlichen Parteien. Wenn ihre Abgeordneten den ersten Zwischenruf wagten, den ersten Ordnungsruf erhielten und ihnen zum ersten mal das Wort entzogen wurde, weil sie sich zu einem Gegenstand äußerten, der längst durch Abstimmung erledigt war (30. September 1949), so verwunderte das den zeitgenössischen Beobachter kaum und demonstriert auch in der Nachlese nach 50 Jahren den festen Willen der KPD, die Arbeit des Bundestages zu unterminieren.

"Bundeskanzler der Alliierten"?

Besonders durch die ausführliche Schilderung in den Erinnerungen von Konrad Adenauer ist der erste Sitzungsausschluss nachhaltig in die Frühgeschichte des Bundestages eingegangen und geradezu unvergessen geworden. Adenauer hatte im November 1949 in zähen Verhandlungen mit dem amerikanischen, britischen sowie französischen Hohen Kommissar für Deutschland an dem so genannten "Petersberger Abkommen" mitgewirkt, dass einige Erleichterungen in den Beziehungen zwischen Besatzungsmächten und Westdeutschland bringen sollte. So wurde die politische Vision formuliert, die Bundesrepublik als ein "friedliebendes Mitglied in die europäische Gemeinschaft" eingliedern zu wollen. Ferner sollten etliche – nicht jedoch alle – Industriebetriebe vor einer weiteren Demontage befreit werden und zugleich mit Unterstützung durch den Marshall­Plan der Wiederaufbau in Deutschland vorangetrieben werden. Adenauer hatte dieses in seiner Regierungserklärung am 24. November 1949 erläutert, als in der Debatte, die sich bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages hinzog, die SPD durch verschiedene Redner deutlich machte, dass die Alliierten offensichtlich ein Interesse hätten, Adenauers "autoritäres Regime" zu stützen. Folgerichtig lehnte die SPD das Petersberger Abkommen ab. Adenauer konterte unter Hinweis auf die Erleichterungen in der Demontage, dass die SPD offensichtlich "eher die ganze Demontage bis zu Ende gehen" lassen wolle, als die mit dem Abkommen ermöglichten Erleichterungen anzunehmen. In der hitzigen Debatte erschallte vom linken Flügel an Adenauer die Frage: "Sind Sie noch ein Deutscher?", als der SPD­Partei­ und ­Fraktionsführer Kurt Schumacher sich dazu verleiten ließ, spontan "Der Bundeskanzler der Alliierten!" auszurufen.

Steuermarke
Das erste verkündete Gesetz war das Gesetz für die Schaffung einer Abgabe "Notopfer Berlin", die der vom Krieg, der Besatzungsherrschaft und der Blockade-Politik gebeutelten Stadt Berlin zugute kommen sollte.

Damit unterstellte Schumacher unterschwellig, Adenauer habe eher die Interessen der Alliierten im Blick als die der Deutschen. Bundeskanzler Adenauer sollte als Marionette der Alliierten demaskiert werden. Bundestagspräsident Köhler reagierte mit einem Ordnungsruf, doch die Regierungsparteien beantragten gemäß § 61 der Geschäftsordnung die sofortige Unterbrechung der Plenarsitzung und eine Einberufung des Ältestenrates, der sich dieser Sache annehmen sollte. Nach Absprache im Ältestenrat wurde Schumacher für die Zeit von 20 Sitzungstagen von der Teilnahme an den Verhandlungen des Bundestages ausgeschlossen. Die gegen drei Uhr morgens unterbrochene Bundestagssitzung wurde erst um sechs Uhr wieder fortgesetzt.

Bundestag unter Besatzungsherrschaft

Die erste Große Anfrage, damals noch "Interpellation" genannt, kam am 8. November 1949 von der F.D.P.­Fraktion und bezog sich auf einen baldigen Abschluss der Entnazifizierung durch die alliierten Besatzungsmächte. Die Anfrage wurde jedoch noch vor ihrer Behandlung von der Tagesordnung wieder abgesetzt.

Der Bundestag war von Anfang an das Gesetzgebungsorgan in der Bundesrepublik. Doch zahlreiche Gesetze bedurften nicht nur einer Zustimmung durch den Bundestag, sondern in den ersten Jahren seines Bestehens auch noch eines Genehmigungsverfahrens durch die Alliierten. Das am 2. Dezember 1949 zuerst verabschiedete Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen wurde nicht das erste verkündete Gesetz. Dieses war vielmehr die Schaffung einer Abgabe "Notopfer Berlin", die der besonders vom Krieg, der Besatzungsherrschaft und Blockade­Politik gebeutelten Stadt Berlin zugute kommen sollte.

Der europäische Einigungsprozess

Bereits im ersten Sommer seines Bestehens wurde der Bundestag zur ersten Sondersitzung am 6. Juni 1950 zusammengerufen. Diese musste unglücklicherweise schon nach 42 Minuten wegen der Erkrankung von Bundeskanzler Adenauer auch noch unverrichteter Dinge beendet werden. Statt dessen wurde am 15. Juni 1950 der Bundestag erneut einberufen, um eine in der Geschichte geradezu epochale Entscheidung herbeizuführen. Auf der Tagesordnung stand der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat. Da Adenauer von Anfang an einer der Motoren des europäischen Einigungsprozesses war, schien seine Anwesenheit in der Tat unverzichtbar zu sein für die Debatte um die Frage des Beitritts der Bundesrepublik. Denn dieser Schritt ermöglichte es der Bundesregierung auch in der Außenpolitik neue Wege zu öffnen. Bisher war es der Bundesregierung nur mit Genehmigung der Alliierten erlaubt, zu fremden Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Im Europarat aber konnte die Bundesregierung diese Bestimmung umgehen und wenigstens mit den Mitgliedstaaten des Europarates in Kontakt treten. "Angesichts der Wichtigkeit dieser Abstimmung" wurde wegen des Beitritts der Bundesrepublik zum Europarat zum ersten Mal eine namentliche Abstimmung im Bundestag vorgenommen. Von den 378 Abgeordneten wandten sich 151 gegen den Beitritt. Dahinter verbarg sich nicht nur eine reine "Euro­Skepsis" – gerade die SPD wandte sich mit ihrer Ablehnung vielmehr gegen die außenpolitische Westorientierung der Regierungsparteien und insbesondere ihres Bundeskanzlers Adenauer, weil sie damals befürchtete, dadurch die Wiedervereinigung zu behindern.

Mandatsniederlegung und ­aberkennung

Schon am 15. September 1949, acht Tage nach Konstituierung des Bundestages, reichte der erste Abgeordnete seinen Mandatsverzicht ein. Kein Geringerer als der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. Theodor Heuss war wenige Tage zuvor (am 12. September 1949) zum Bundespräsidenten gewählt worden und musste gemäß Artikel 55 GG auf seinen Bundestagssitz verzichten.

Die erste Mandatsaberkennung erfolgte drei Jahre später, am 23. Oktober 1952. Der abgeordnete Dr. Fritz Dorls kam 1949 als unabhängiger Abgeordneter über die Landesliste der Deutschen Reichspartei (DRP) in den Bundestag, doch trat er 1950 der Sozialistischen Reichspartei (SRP) bei. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der SRP festgestellt und deren Auflösung verfügt hatte, wurde Dorls das Mandat aberkannt. Die Zahl der Abgeordneten verringerte sich von 421 auf 420, während bei der Mandatsniederlegung von Heuss das Abgeordnetenmandat über die Landesliste nachbesetzt werden konnte.

Entlassung von Ministern, Vertrauensfrage, Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung

Anders als nach der Weimarer Verfassung sollten durch das Grundgesetz die Regierung und insbesondere der Bundeskanzler gestärkt werden und nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum aus dem Amt entlassen werden können. Hingegen hatte das Grundgesetz dem Bundestag ermöglicht, die Entlassung von einzelnen Bundesministern zu beantragen. Ein solcher Antrag richtete sich erstmals gegen den Bundesminister für Wirtschaft, Ludwig Erhard (CDU), der mit der Einführung der "Sozialen Marktwirtschaft" in der Bundesrepublik wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands hatte. Erhard hatte öffentlich den Beschluss des Bundestages kritisiert, den Brotpreis weiterhin durch Subventionen zu stützen. In seiner ihm eigenen Art hatte Erhard dazu mit Blick auf die Abgeordneten formuliert: "Hier waren wieder einmal Hysteriker als Wirtschaftspolitiker am Werk." Die Oppositionsparteien nutzten diese ihrer Meinung nach ungeziemende und saloppe Äußerung, um Erhards Entlassung zu fordern.

Mißtrauensvotum
Zum ersten Mal wurde am 27. April 1972 auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt durchgeführt.

Erhard blieb im Amt, ja er wurde später sogar Bundeskanzler. In dieser Eigenschaft wurde gegen ihn am 8. November 1966 das erste Vertrauensfrage­Ersuchen gestellt, das mit 255 gegen 246 Stimmen durch den Bundestag angenommen wurde. Erhard wollte sich zwar zunächst "unter gar keinen Umständen" dieser Vertrauensfrage stellen, doch dankte er drei Wochen später als Bundeskanzler ab.

Das konstruktive Misstrauensvotum zählt zu den großen Errungenschaften des Bonner Grundgesetzes. Es trägt zur Stabilisierung der Regierung bei, da diese nur mit einer klaren Parlamentsmehrheit durch eine neue Regierung abgelöst werden kann. 1972 regierte eine Koalition aus SPD und F.D.P.. Durch Fraktionswechsel einzelner Abgeordneter wegen der "Ostverträge" konnte die Regierung Willy Brandt (SPD) statt wie bisher über 254 nur noch über 249 stimmberechtigte Abgeordnete verfügen, während die Opposition von 242 auf 247 Stimmen gewachsen war. Das Kräfteverhältnis im Bundestag hatte sich somit verschoben. In der Gewissheit, zwei F.D.P.­Abgeordnete auf ihre Seite zu ziehen, benutzte die CDU/CSU­Fraktion die Gelegenheit, Bundeskanzler Brandt das Mißtrauen auszusprechen und Rainer Barzel (CDU) als aussichtsreichen neuen Bundeskanzler vorzuschlagen. In der geheimen Abstimmung am 27. April 1972 stimmten jedoch statt der erforderlichen 249 Abgeordneten nur 247 für den Antrag der CDU/CSU. Damit war das erste Mißtrauensvotum gescheitert.

Die Regierung Brandt hatte jedoch in entscheidenden Fragen aufgrund der Patt­Situation keine regierungsfähige Mehrheit mehr. Willy Brandt stellte deswegen am 22. September 1972 erstmals die Vertrauensfrage als Bundeskanzler, die erwartungsgemäß nicht die erforderliche Mehrheit fand. Daraufhin schlug mit Brandt der erste Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vor, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Die zweite Parlamentsauflösung wurde auf gleiche Weise von Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 in die Wege geleitet, nachdem die sozialliberale Koalition in die Brüche geraten war. Die von Kohl gestellte Vertrauensfrage war umstrittten, da die CDU/CSU­F.D.P.­Mehrheit stabil war.

Willy Brandt stellt die Vertrauensfrage als Bundeskanzler
Willy Brandt stellte am 22. September 1972 erstmals die Vertrauensfrage als Bundeskanzler.

Die erstmaligen Anwendungen besonderer Parlamentseinrichtungen und ­verfahren spiegeln nicht nur die Anfänge, sondern auch die wechselvolle Geschichte des Bundestages in seinen letzten 50 Jahren wieder. Sie sind freilich nur Ecksteine im parlamentarischen Alltag und in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Sie geben kaum Auskunft, wie oft eine Geschäftsordnungsbestimmung tatsächlich Anwendung fand, sie geben auch keine Auskunft über Regierungskrisen und andere markante Wendepunkte in Parlamentsalltag und Politik. Doch sind die erstmaligen Anwendungen von geschäfts­ordnungsmäßigen Verfahren oder von Rechten, die durch das Grundgesetz dem Bundestag garantiert werden, heute selbstverständlich gewordene Schritte eines demokratischen Reifeprozesses, der sich in der Bundesrepublik in den letzten 50 Jahren erfolgreich vollzogen hat.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9907/9907052
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