Deutscher Bundestag
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Dezember 12/1999
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essay

Nach dem Jahreswechsel 2000:

Es bleibt spannend im Deutschen Bundestag

Von Wolfgang Thierse

Traditionell stehen im Blickpunkt der Jahreswende der Rückblick auf das vergehende Jahr und der Ausblick auf das kommende, das entgegen allgemeiner Ansicht das letzte des 20. und nicht das erste des 21. Jahrhunderts ist.

1999 war für den Bundestag Umzugsjahr, Jubiläumsjahr und Jahr reformpolitischer Turbulenzen. 1999 nahm die Bundeswehr erstmals seit ihrer Gründung an einem Auslandseinsatz teil, an einem Krieg ­ die sicherlich schwerste und quälendste Entscheidung, die die Abgeordneten des Bundestages zu treffen hatten.

Koalition und Opposition haben im September 1998 die Rollen gewechselt. Alle Fraktionen hatten sich in ihren neuen Rollen zu bewähren. Das Urteil, wie ihnen das jeweils gelungen ist, bleibt den Wählerinnen und Wählern überlassen.

Berlin 2000

Neue Rollen, neue Herausforderungen, neuer Parlamentssitz, neue Grundsatzfragen und große Erwartungen der Bürger bestimmen die Arbeit des Parlaments. Dabei bewähren sich die demokratischen Verfahrensweisen und der Föderalismus. In den öffentlichen Angelegenheiten gibt es keine abschließende Wahrheit. Deshalb ist es notwendig, Sachverhalte von allen Seiten zu betrachten, deshalb streiten wir öffentlich um richtige und mehrheitsfähige Lösungen, deshalb gibt es immer wieder neue und oft erfolgreiche Versuche, jenseits politischer Differenzen im Grundsätzlichen gemeinsame Lösungen anzustreben, wie es Oppositions­ und Regierungsparteien zum Jahresende in Sachen Rentenreform angekündigt haben.

Gemeinsame Lösungen von Bund und Ländern entstehen im Zusammenspiel zwischen Bundestag und Bundesrat. Das Grundgesetz sorgt dafür, dass bei den zustimmungspflichtigen Gesetzen Bund und Länder politische Problemlösungen aushandeln, Kompromisse suchen. In der Öffentlichkeit werden solche Kompromisse häufig kritisiert. Demgegenüber muss festgehalten werden: Kompromisse haben unschätzbare Vorteile. Sie sichern Kontinuität und die Einbeziehung möglichst vieler Interessen und Meinungen. Sie führen die Gesellschaft zusammen.

Das ist bei vielen Reformanstrengungen nicht möglich gewesen. Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die Wiedereinführung vorher abgeschaffter Elemente des Kündigungsschutzes, eine stufenweise Steuerreform, die Lasten gerechter verteilt, indem sie Arbeitnehmern und Familien mit Kindern (Kindergeld) netto deutlich mehr von ihren Einkommen belässt, sind politische Kurswechsel, die nach heftigen Debatten ­ und auch einigen Unentschiedenheiten ­ schließlich mit Mehrheit in Kraft gesetzt werden müssen.

Es stimmt demnach also nicht, dass Regierungswechsel in Deutschland folgenlos seien; es stimmt auch nicht, dass im Deutschen Bundestag “nur geredet” würde. Es wird in harter alltäglicher Arbeit gestritten, um gute Lösungen gerungen und entschieden ­ also gehandelt.

Es wurde auch ausgiebig gefeiert: Der Abschied von Bonn im Juli ­ der Deutsche Bundestag machte deutlich, dass er allen Grund sieht, Bonn für die 50 Jahre als provisorische Hauptstadt zu danken. Die Eröffnung des früheren, modern und hell um­ und ausgebauten Reichstagsgebäudes in Berlin am 19. April war dem vorausgegangen. Im Mai wurde das Grundgesetz 50 Jahre alt, im September jährte sich die erste Sitzung des Deutschen Bundestages zum 50. Mal. Bei dieser Gelegenheit besuchten Parlamentspräsidenten aus aller Welt den Deutschen Bundestag in Berlin und dokumentierten, dass Deutschland 54 Jahre nach dem Weltkrieg ein geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft ist. Die Bilanz dieser 50 Jahre Demokratie in Deutschland ist gut. Die Festigung der Demokratie, das hohe Wohlstandsniveau und die wiedergewonnene deutsche Einheit zeigen das. Auch das kann nicht an einer Volksvertretung liegen, die nur redet. Die positive Entwicklung ist das Werk vieler: Arbeiter, Lehrerinnen, Ingenieure, Wissenschaftlerinnen, Unternehmer und eben auch der Regierungen und Parlamente von Bund und Ländern.

Zum Erfolgsrezept gehört ohne Zweifel die europäische Integration, die zuvörderst ein Friedenswerk ist, aber eben auch eine Union der erfolgsorientierten europäischen Zusammenarbeit auf immer mehr Gebieten.

Am Ende des Jahres 1999 zeichnen sich einige positive Entwicklungen ab: Die Nettoeinkommen steigen durch Steuerreform und erneute Kindergelderhöhung; Arbeit wird billiger, weil die Lohnnebenkosten deutlich gesenkt worden sind und wenn die geplante Unternehmenssteuerreform das Parlament passiert haben wird. Banken und Konjunkturforscher sagen höheres Wirtschaftswachstum voraus; die Arbeitslosigkeit sinkt.

Dass aber im Jahr 2000 paradiesische Zustände eintreten, ist nicht zu erwarten: Die materiellen Nachteile Ostdeutschlands sind auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer noch nicht beseitigt; die Arbeitslosigkeit ist noch nicht besiegt; die Gesundheitsreform, die ebenfalls zur Begrenzung der Beiträge und Senkung der Lohnnebenkosten beitragen soll, ist noch nicht in Kraft, die soziale Verpflichtung des Eigentums lässt nach, weil im Zuge der Globalisierung die nationalstaatliche Regelungsmacht kleiner wird und internationale Wirtschafts­, Beschäftigungs­ und Steuerpolitik noch nicht entsprechend entwickelt ist. Die Informationsgesellschaft, in die wir uns in hohem Tempo verwandeln, kann die Spaltung in Arm und Reich, in informationstechnologische “Haves” und “Have­Nots” weiter verschärfen. Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt mit den Mitteln der Industriegesellschaft zu gewährleisten, wird kaum gelingen, die Auseinandersetzung über die Reform des Sozialstaats wird also weitergehen. Bildung und Ausbildung bleiben in der Diskussion. Es wird also auch in Zukunft interessant und spannend bleiben im Deutschen Bundestag.

Wir sollten uns in einem einig bleiben: Dass wir Deutsche am Ende dieses Jahrhunderts, in dem wir so viel Schlimmes angerichtet haben, mit allen unseren Nachbarn in Frieden leben, dass wir erstmals in Grenzen leben, denen nicht nur wir selbst, sondern auch alle Nachbarn zustimmen, ist ein ­ unverdientes ­ historisches Glück. Durch Friedenspolitik, Politik guter Nachbarschaft diesen Zustand zu bewahren, bleibt gemeinsame Verpflichtung. Für den inneren Frieden haben wir durch harte, alltägliche, demokratische Arbeit selbst zu sorgen.

Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse (SPD), im Herbst 1943 in Breslau geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach Abitur, Lehre und Arbeit als Schriftsetzer studierte er ab 1964 an der Berliner Humboldt­Universität und arbeitete dort bis 1975 als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik. Thierse war 1975/76 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR und von 1977 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bis Ende 1989 parteilos, unterschrieb er Anfang Oktober 1989 beim Neuen Forum und trat Anfang Januar 1990 in die SPD/DDR ein, deren Vorsitzender er zwischen Juni und September 1990 war. Thierse war von März bis Oktober 1990 Mitglied der Volkskammer und ist seit Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Bis Oktober 1998 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD­Fraktion. Wolfgang Thierse, stellvertretender Vorsitzender der SPD, ist seit Oktober 1998 Bundestagspräsident.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9912/9912004
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