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17 Stunden im Bundestag
Anatomie eines Sitzungstages
An jedem Sitzungstag wird im Reichstag
ein neues Puzzle zusammengesetzt. Der Plan sieht vor, dass am Ende
kein Teil fehlt und ein Bild entsteht.
Morgens um sechs zeigen alle Kräne nach Osten. Die Symbolik
des Bildes vermischt sich mit der gerade gewonnenen Erkenntnis,
dass Berlin auch still sein kann. "Kommen Sie rein", sagt der Mann
am Eingang Nord und zieht seine Uniformjacke an. "Ist doch kalt",
sagt er und knöpft die Jacke zu. "Und jetzt", sagt er und
streicht die Revers glatt, "kann's losgehen."
Zehn Stunden und vierzig Minuten früher stand die
Tagesordnung für den 29. Juni 2000 fest. Sieben
DIN-A4-Blätter, beidseitig bedruckt mit dem Raster eines
Sitzungstages. Zum 111. Mal in dieser Legislaturperiode tritt der
Deutsche Bundestag zusammen, von neun bis circa 23 Uhr. Das wird
also ein langer Tag, und ereignisreich soll er werden. Zwei Stunden
und fünfzig Minuten stehen jetzt noch für die
Vorbereitungen zur Verfügung, dann werden sie alle kommen
– die arbeiten wollen und die flanieren möchten. Sie
werden die Säle zum Debattieren benutzen und die Kuppel zum
Schauen besuchen, die Räume zum Arbeiten in Besitz nehmen und
die Besuchertribüne zum Beobachten füllen.
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Zwanzig Minuten nach sechs ist das nur eine Ahnung. Weiches
gelbes Licht malt Reflexe auf das Mauerwerk im Inneren des stillen
Hohen Hauses, später werden Menschen auf den großen roten
Sesseln in der Plenarsaalebene sitzen. [1] Jetzt ist niemand dort,
aber ein paar Meter weiter wird geputzt [2] , von irgendwoher
dringt das Geräusch eines Staubsaugers, im Restaurant
Käfer beginnt man das Frühstücksbuffet aufzubauen,
und eine Etage tiefer übernimmt in der Leitstelle
Sicherheitsdienst die neue Schicht ihre Arbeit. [3] Die
eingesetzten Männer und Frauen werden aufgeteilt – ein
Schwerpunkt an diesem Tag ist die Sitzung des
Spenden-Untersuchungsausschusses in der Katholischen Akademie. Da
wird es hoch hergehen, das wissen alle, nicht nur der Inhalte,
sondern auch der Journalisten wegen, für die nicht
genügend Platz da sein wird und die doch alle wissen wollen,
was Helmut Kohl aussagt. Und dann steht noch der Besuch des
NATO-Generalsekretärs an.
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Um sieben Uhr morgens kann man noch von ganz oben einen Blick in
den leeren Plenarsaal werfen, später werden hier die
Vorhänge geschlossen sein, damit man unten im Plenum in Ruhe
arbeiten, sich auf die unzähligen Tagesordnungspunkte
konzentrieren, beschließen, diskutieren, beraten,
anhören, fragen, in die Ausschüsse überweisen kann.
Ein leerer Plenarsaal am frühen Morgen hat etwas Erhabenes, so
wie die stille Stadt um sechs Uhr. Diese kleine kurze Ruhe vor der
Hektik, diese Zwischenzeit lässt den Wunsch entstehen, sich
hinzusetzen und einfach nur zu warten, wie sich Räume
füllen, Plätze beleben, was da passiert mit Orten und
Menschen. [4]
In der Präsidialebene beginnt man kurz nach sieben Uhr den
Raum 023 herzurichten. Hier wird zuerst die Kommission des
Ältestenrates für die Angelegenheiten der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten beraten.
Noch sind die Gänge ziemlich leer, noch stehen keine
Besucherinnen und Besucher vor dem Westeingang, um Einlass zu
begehren. Irgendwann zwischen sieben und acht läuten die
Glocken im Haus – zur Probe für die christliche
Morgenfeier im Andachtsraum. Irgendwann zwischen sieben und acht
werden auch die Klingeln getestet, die später das Signal zu
den Abstimmungen geben.
Unten im Foyer am Eingang Ost beginnen zwei Frauen ihre Arbeit
an der Garderobe, ein Zeitungsverkäufer sortiert sein
Tagesangebot und nimmt hinterm Verkaufstisch Platz.
Dann kommen die ersten Abgeordneten, das Haus füllt sich.
[5 + 6] Draußen vor dem Eingang warten Kamerateams auf die
Ankunft jener, von denen sie Auskunft begehren werden, um die
Morgennachrichten zu füllen und die ersten Einstellungen zu
konservieren. [7] Aber jene, die kommen, haben es eilig. Sie
betreten die große Halle, schicken einen kurzen Gruß in
die Pförtnerloge, nicken dem Zeitungsverkäufer zu oder
kaufen noch schnell ein Blatt, manche geben ihre schweren Taschen
an der Garderobe ab und verschwinden dann über eine der beiden
breiten Treppen nach oben.
Um 8.35 Uhr kommt Gerhard Schröder, grüßt alle,
die im Raum stehen. "Wie schafft der das denn, immer so braun zu
sein", flüstert jemand. Kurz nach dem Bundeskanzler kommt
Wolfgang Schäuble, und dann für einige Minuten ein an
diesem Tag völlig unerwarteter Gast um 8.47 Uhr: Die Sonne.
Aber nur für drei Minuten.
Alle Saaldiener sind auf ihren Posten, um die ersten Fragen zu
beantworten und die ersten Aufträge zu erfüllen. Sie
haben ihre Einweisung für den Tag bereits hinter sich. Die
roten Sessel auf den Fluren der Plenarsaalebene sind besetzt. [9]
Von nun an werden sie fünfzehn Stunden lang kleine
Gesprächsrunden beherbergen oder Experten, die auf ihre
Anhörung warten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die letzte
Zuarbeiten für ihre Abgeordneten sortieren, Flaneure, denen
die Füße vom Flanieren brennen.
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Um neun Uhr ist der Plenarsaal gefüllt, der
Bundestagspräsident kommt und alle erheben sich von ihren
Plätzen. Die Besuchertribüne ist besetzt, und unten vor
dem Besuchereingang steht eine lange Schlange, die bis abends nicht
kleiner werden wird. [10] Sechs bis acht Besuchergruppen betreten
pro Stunde das Reichstagsgebäude, neugierig und
erwartungsvoll, die meisten von ihnen auf Einladung ihres
Abgeordneten. Sie wollen das ganze Programm: Auf der
Besuchertribüne mit Blick auf das Präsidium sitzen und
zuhören, was da geredet wird, in die Kuppel steigen, in einem
Fraktionssaal erfahren, was ihr Abgeordneter hier in Berlin so den
ganzen Tag treibt. "Hättest du das gedacht", sagt ein
älterer Mann vor der Besuchertribüne zu seiner Nachbarin,
"dass die hier den Beuys ausstellen im Reichstag? Is ja ´n
Ding." [11]
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Im Plenarsaal beginnt die Sitzung mit einer
Regierungserklärung von Gerhard Schröder zum Ausstieg aus
der Kernenergie [8] , im Foyer werden neue Drucksachen ausgelegt
für den Tag. [12] Alles muss gelesen, beraten, beschlossen,
überwiesen werden. Wer in Ruhe telefonieren will, steigt dem
Reichstag flink mal aufs Dach, hier weht einem der Wind um die
Ohren und der Himmel ist weit. [13] Die ersten Abstimmungen werden
eingefordert, [14] und wer den Plenarsaal mal kurz verlässt,
hat es immer eilig, schnell zu den anderen Orten zu kommen, an
denen zugearbeitet, aufgearbeitet, vorgearbeitet wird. [15] Im
Parlamentssekretariat laufen die letzten Vorbereitungen für
die Sitzung des Ältestenrates um 14 Uhr, im Nordflügel,
Saal 014 auf der Präsidialebene. [16]
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Im Plenum ist die Debatte zur Regierungserklärung
abgeschlossen, nun redet man über Energiepolitik und danach
wird es in mehreren Tagesordnungspunkten um Europa gehen. Im
Fernsehen laufen bereits die ersten Bilder aus dem
Untersuchungsausschuss, im Ältestenrat wird die Tagesordnung
für die kommende, die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause
beraten. Und dann muss man noch über die Vorbereitung der Tage
der offenen Tür im Reichstagsgebäude reden, die im August
stattfinden werden. Während der Ältestenrat tagt, sitzen
in anderen Räumen Arbeitsgruppen der Fraktionen und
Ausschüsse zusammen. Um 15 Uhr fängt der Unterausschuss
"Neue Medien" [17] an zu beraten, gleichzeitig beginnt man im
Vermittlungsausschuss zum Thema Steuerreform zu diskutieren. Hier
soll ein Kompromiss zwischen Bundestag und Bundesrat gefunden
werden, mit Spannung erwartet. Schon lange, bevor die Beratung
endet, baut sich ein Kamerateam vor dem Tagungsraum auf [18] und
wartet geduldig, bis Friedrich Merz von der CDU kommt, um Rede und
Antwort zu stehen. Da ist es 17.10 Uhr. Die Journalistin steigt
sicherheitshalber auf einen Metallkoffer, denn der Merz ist
groß, und sie müsste den Kopf fast in den Nacken legen,
um ihn zu befragen.
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Kurz zuvor ist im Bundestag die Aktuelle Stunde beendet worden.
Man hat begonnen, über eine Initiative zur Stärkung der
Ostseeregion zu reden. Um 17.20 Uhr ist es draußen vor dem
Besuchereingang voll und fröhlich. Ein russischer Musiker
besingt die Schönheit Moskauer Abende, Gruppenfotos werden
gemacht, Wetten abgeschlossen, wie viel Minuten es noch dauern
wird, bis man drin ist, im Reichstag. "Mensch, hoffentlich seh ich
mal den Schröder", sagt eine Frau. "Heute Abend im Fernsehen",
unken die anderen aus der Gruppe.
Im Nordflügel tagt der Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung, im Plenarsaal bittet ein
Redner die Abgeordneten, einem Antrag der Koalition zuzustimmen, da
ist es 17.33 Uhr. Wer einen Moment der Ruhe braucht, gönnt
sich einen Einblick ohne Ton in den Sitzungssaal des Bundestages,
sucht die Sichtachse, die direkt zum Rednerpult führt, ist auf
Augenhöhe mit dem, der da vorn spricht. Und auf dem Weg nach
oben, in die Kuppel, die man einmal am Tag wenigstens besucht haben
muss, gibt es noch einen kleinen Abstecher auf die
Besuchertribüne, wo an diesem Tag um 17.44 Uhr etwas passiert,
was vielleicht selten ist: Alle im Saal lachen. Den Anlass hat man
verpasst und um 17.46 Uhr wird schon zur nächsten Abstimmung
aufgerufen. Vor dem Besuchereingang fragt eine junge Frau einen
Abgeordneten, ob sie in seinem Büro ein Praktikum machen
könnte. Der gibt geduldig Auskunft, bevor er weitereilt.
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Um 18.30 Uhr ist die Kuppel des Reichstages immer noch gut
besucht, [19] Hobbyfotografen suchen nach den besten Plätzen
und im Restaurant wird für ein Candlelight-Dinner gedeckt. Im
Plenarsaal arbeitet man weiter die Tagesordnung ab. Gut drei
Stunden später wird er dann leer sein [20] , muss
aufgeräumt werden für den nächsten Tag, der wieder
sehr zeitig beginnen wird.
Langsam zieht ein wenig Ruhe ein ins Hohe Haus. [21] Ab und zu
fragt jemand draußen in den Gängen, wie es beim
Fußball steht. Immer noch 0:0, unten im Südflügel
ist ein Fernseher, da kann man auf dem Weg von A nach B schnell
einen Blick werfen, wenn das Elfmeterschießen beginnt. Und
dann gewinnt Italien und ist im Endspiel um die
Europameisterschaft. Die im Plenarsaal und in den vielen anderen
Räumen noch arbeiten, werden das erst später erfahren und
vielleicht sagen: Das Elfmeterschießen hätte ich aber
gern gesehen. Nun gut, so ist das an so einem Tag, der vollgepackt
ist mit Arbeit und Terminen und Erwartungen, dass es Ergebnisse
gibt – möglichst viele, möglichst gute.
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Und dann merkt man am Licht, dass sich der Kreis geschlossen
hat. Wieder fällt es warm und gelb in die nun leeren
Gänge. Der Tag ist zu Ende. Die ersten kommen zur Arbeit. Die
Stadt ist wieder still, das Café Meyerbeer gleich neben dem
Reichstag hat geschlossen, weit hinten liegt am Potsdamer Platz der
große SAT.1-Luftballon am Boden. Die Kranführer sind sich
nicht einig geworden. Die Kräne zeigen in verschiedene
Richtungen.
Kathrin Gerlof