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Oktober 10/2000
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Zusammenarbeit zwischen Koalition und Opposition

Heiße Drähte überbrücken Fraktionsgrenzen

Die Parlamentarischen Geschäftsführer räumen manchen Konflikt im Vorfeld aus

"Großer Streit im Bundestag", so lautet eine immer wiederkehrende Überschrift in den Zeitungen. Auch "heftiger Schlagabtausch im Parlament" gehört zu den beliebten Schlagzeilen. Sie verweisen auf eine wichtige Funktion der Volksvertretung: Regierungspolitik verbindlich vor der Öffentlichkeit begründen und die Alternativ-Entwürfe der Opposition für alle nachvollziehbar daran messen. Und umgekehrt. Personen und Politik treten in einen Wettbewerb, damit die Bürger sich ein klares Bild machen können. Aber der Streit der Meinungen um Möglichkeiten ist nur die halbe Wahrheit. Der Bundestag führt auch die Strömungen im Volk zusammen. Selbst wenn in der Redeschlacht die Fetzen fliegen, setzen sich die Politiker doch anschließend wieder zusammen, um zu sehen, wie es weitergeht.

Der bisherige PDS-Fraktionschef Gregor Gysi (links) und der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Peter Struck.
Der bisherige PDS-Fraktionschef Gregor Gysi (links) und der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Peter Struck.

Ein ausgeklügeltes Verfahren sorgt dafür, dass jeder seine Chance bekommt. Schließlich ist die Opposition von heute immer auch die Regierung von morgen. Große Entscheidungen von einschneidender gesellschaftlicher Tragweite erfordern ohnehin die Verständigung über die Grenzen von Koalitionen und Lagern hinweg. Ein Blick auf die Konturen der Zusammenarbeit hinter dem Pulverdampf.

Warum ist der Plenarsaal des Bundestages so gelungen? Weil er durch seine Sitzarchitektur drei Prinzipien auflöst, die scheinbar gar nicht zueinander passen wollen.

Prinzip Nummer eins lernt jedes Schulkind: dass Demokratie und Gewaltenteilung zusammengehören. Dass die Rechtsprechung und die Gesetzgebung zwei völlig verschiedene Gewalten darstellen und die Regierung als weitere Gewalt die Regeln der beiden anderen in tägliches Handeln exekutiert.

Die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft ist überfraktioneller Treffpunkt.
Die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft ist überfraktioneller Treffpunkt.

Dagegen die Beobachtung Nummer zwei: dass sich Regierung und Opposition gegenüberstehen, und dass die Übergänge zwischen Kanzler, Ministern und den Mehrheitsfraktionen fließend sind. Also nichts mit Gewaltenteilung.

Und dazu tritt als dritte Komponente: dass der Bundestag und die Bundesregierung in Gesetzen und Handlungen zwar die Geschicke der Bundespolitik bestimmen, dass aber die Länder bei vielen Fragen mitreden und entscheiden. Also auch hier kein reines Gegenüber zweier Seiten.

So sitzen die Abgeordneten in einem großen Halbrund nebeneinander und doch sich zum Teil auch gegenüber, nehmen an der Stirnseite die Regierungsmitglieder Platz, und doch nicht allein, nämlich daneben auch noch die Vertreter des Bundesrates. Und erst alle zusammen bilden das Ganze. Wenn Minister in der Debatte Zwischenfragen stellen wollen, müssen sie, sofern sie auch MdB sind, von ihrem Stuhl auf der Regierungsbank zu ihrem Platz in den Abgeordnetenreihen wechseln. Man achtet also darauf, dass die Funktionen der Gewalten nicht verwischen. Und gleichzeitig wird auf die Lager geachtet. Denn natürlich vertritt ein CDU-Mitglied des Bundesrates nicht nur die Interessen seines Bundeslandes. Er steht auch für einen Aspekt der Politik der Union, und deshalb kann seine Redezeit bei der Opposition verbucht werden. So ist in jedem Miteinander der Institutionen Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat auch stets ein Stück innerer Parteienwettbewerb angelegt. Das hält die Debatte lebendig. Und hinter jedem Streit steht die Möglichkeit zur Verständigung. So lebt die parlamentarische Demokratie in Deutschland: Konkurrenz und Kooperation sind ineinander verwoben.

Sitzung der Parlamentarischen Geschäftsführer: Hier werden die Weichen gestellt.
Sitzung der Parlamentarischen Geschäftsführer: Hier werden die Weichen gestellt.

Wenn die Wähler dafür gesorgt haben, dass die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat verschieden sind, stoßen beide Häuser bei der Durchsetzung ihres jeweiligen politischen Mehrheitswillens schnell an Grenzen. Entscheidungen, für die das Grundgesetz geändert werden muss, brauchen ohnehin eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das prägt – und macht den Kompromiss zum Merkmal der Republik.

Es gibt viele Orte des Kompromisses im und um das Reichstagsgebäude in Berlin. Einer ist der Vermittlungsausschuss, in dem Vertreter von Bundestag und Bundesrat Gegensätze in Gemeinsamkeiten aufzulösen versuchen. Ein anderer ist der Ältestenrat, in dem sämtliche Bundestagsfraktionen vertreten sind und sich bemühen, das Erscheinungsbild des Parlamentes als Ganzes intakt zu halten und aufgewühlte Wogen wieder zu glätten. Und dann gibt es noch viele weitere Räume, wo der Blick aufs Türschild noch nichts davon preisgibt, was drinnen geleistet wird.

Zum Beispiel Raum 2010 im Bundestagsgebäude Unter den Linden. Hier treffen sich zweimal in der Woche die Organisatoren der Fraktionsarbeit. Sie heißen Parlamentarische Geschäftsführer (PGF) und sorgen wortwörtlich dafür, dass das parlamentarische "Geschäft" funktioniert. Gastgeber ist der SPD-Abgeordnete Wilhelm Schmidt, Parlamentarischer Geschäftsführer der größten Fraktion. Seine Aufgabe in einem Satz? "Ich bin Koordinator für alle Dinge." Wer sich bewusst ist, dass im Bundestag die Meinungskonflikte öffentlich ausgetragen werden sollen, der kann sich darauf einstellen, dass es auch bei der Vorbereitung mitunter hakt. Aber das ist Alltag: "Wir gehen mit dem Konflikt ganz normal um", berichtet Schmidt. Das bedeutet: Mal trifft man sich in der Mitte, mal gibt der eine nach, mal der andere. Denn die Mehrheit hat zwar gewichtigen Einfluss auf die Tagesordnung, kann der Minderheit aber nicht alles vorschreiben. Und wer eine Debatte über ein unangenehmes Thema verhindern will, bekommt es garantiert in Form einer Geschäftsordnungsdebatte dann doch auf den Tisch. Da ist es besser, wenn man sich koordiniert. Und so kann sich Schmidt, vom Naturell her "eher so ein verbindender Typ", nicht erinnern, in den PGF-Sitzungen jemals "so richtig Zoff" gehabt zu haben.

Wilhelm Schmidt, SPD.
Wilhelm Schmidt, SPD.
Hans-Peter Repnik, CDU/CSU.
Hans-Peter Repnik, CDU/CSU.
Katrin Göring-Eckardt, B'90/Die Grünen.
Katrin Göring-Eckardt, B'90/Die Grünen.
Jörg van Essen, F.D.P.
Jörg van Essen, F.D.P.
Heidi Knake-Werner, PDS.
Heidi Knake-Werner, PDS.

"Das läuft reibungslos", bestätigt Jörg van Essen, Schmidts Amtskollege bei der F.D.P.. Das Wichtigste aus seiner Sicht: "Der Opposition bleibt Raum zum Atmen." In der öffentlichen Wahrnehmung werden Beschlüsse zumeist allein der Regierung zugerechnet, auch wenn im Wege des Verhandelns wichtige Anliegen der Opposition mit aufgenommen wurden. Da ist es für van Essen besonders bedeutsam, durch die Gestaltung der Tagesordnung "als Opposition sichtbar zu sein". Deshalb nutzt er die PGF-Runde auch immer wieder für den Hinweis, dass die Regierung das Parlament nicht "unterbuttert". Gerade ein Regieren mit vielen Konsensrunden, in denen die Kompromisse außerhalb des Parlamentes gesucht und bereits öffentlich verbindlich erklärt werden, mache es dem Bundestag schwer, im Rahmen des vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahrens noch zusätzliche Vorstellungen zu entwickeln. "Das läuft liberalem Parlamentsverständnis zuwider", kritisiert van Essen.

Diese Äußerung zeigt, dass in den PGF-Sitzungen nicht nur Konsens-Soße über die Themenplanung gegossen wird. Jeder hat seine eigenen Interessen. So ärgerte sich van Essen kürzlich, dass zwar SPD und Union leicht damit hätten leben können, einen schon vorliegenden F.D.P.-Antrag mit leichten Änderungen zum Gesetz werden zu lassen, nicht aber die Grünen. Die bestanden darauf, dass ein fast identischer Antrag ganz neu ins Verfahren eingebracht wurde. Was für die F.D.P. eine "kindische Hakelei" ist, bedeutet für die Grünen die immens wichtige Beachtung der "Kleiderordnung": Als kleinerer Koalitionspartner müsse man schon etwas genauer darauf achten, "wer zur Regierung gehört und wer nicht", erläutert die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Das sei "manchmal ein hartes Geschäft, in dem man auch hart bleiben muss". Doch sei die Art, in der die PGF zusammen arbeiteten, sehr konstruktiv, da jeder vom anderen wisse, mit welchen Interessen und Besonderheiten die jeweilige Fraktion zu den Themen stehe. Gut für die Lösung großer gesellschaftlicher Probleme ist es nach ihrer Überzeugung, dass am Anfang zumindest eine gemeinsame Problemanalyse steht. Die PGF-Arbeit garantiert, dass das auch geschieht.

Junge Politiker aller Fraktionen treffen sich im "Speisezimmer".
Junge Politiker aller Fraktionen treffen sich im "Speisezimmer".

Das Ergebnis, wie es sich in der wöchentlichen Tagesordnung niederschlägt, zeigt nach ihrer Ansicht sogar eher ein Mehr an Zusammenarbeit als in der Vergangenheit. Das hänge auch mit der Verständigungsbereitschaft unter den PGF zusammen. "Ich finde es richtig, dass wir kollegial miteinander umgehen", betont Göring-Eckardt: "Wenn wir uns inhaltlich streiten, müssen wir nicht auch noch persönlich Krach haben." Eine nette Bestätigung fand diese Feststellung, als jetzt der PDS-Vertreter Roland Claus aus der Runde ausschied, weil er Fraktionschef geworden war. Als Dankeschön für die gute Zusammenarbeit brachte er zwei Flaschen mit – natürlich Rotkäppchensekt, ein Ostprodukt. Und die Stimmung war kurze Zeit später auch entsprechend, wie sich Gastgeber Schmidt mit einem Schmunzeln erinnert.

Claus-Nachfolgerin Heidi Knake-Werner sieht eine deutliche Entwicklung zur Normalität, was die Mitsprachemöglichkeiten ihrer Fraktion anbelangt. Natürlich sind die "guten Zeiten" der Parlamentsdebatten in den morgendlichen Kernzeiten nicht endlos dehnbar. Und so passiert es der PDS immer wieder, dass ihre Themen, die von den anderen Fraktionen als nicht so drängend empfunden werden, erst in den Abendstunden aufgerufen werden. Wenn die Opposition in ihrer ganzen Breite keine Chance habe, in einen Ideenwettbewerb einzutreten, mache das die Opposition arm, und damit werde auch der parlamentarische Prozess arm, gibt Knake-Werner zu bedenken. Gleichzeitig betont sie aber auch: "Es bewegt sich etwas." So freute sie sich, dass die PDS kürzlich wieder statt einmal fünf zweimal vier Minuten Redezeit zugeteilt bekam. Und so macht ihr die PGF-Aufgabe insgesamt Spaß, auch wenn sie die Erfahrung gemacht hat: "Da wo abgestimmt wird, wird knallhart abgestimmt."

Und doch entspricht es nach den Erfahrungen von Hans-Peter Repnik, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, den seit langem geübten Gepflogenheiten, im Konsens zusammenzuarbeiten. "Einen Teil gibt die Geschäftsordnung vor, den anderen gebietet die Vernunft", fasst Repnik zusammen. Das ist zum einen die Möglichkeit seiner Fraktion, auch Themen, die der Regierung unangenehm sind, per Aktueller Stunde auf die Tagesordnung zu bringen. "Oder wir richten Fragen an die Bundesregierung und entwickeln dann aus der Fragestunde eine Aktuelle Stunde." Daneben lassen sich parlamentarische Initiativen, die in den diversen Ausschüssen zur Beratung anstehen, durch das so genannte "Aufsetzungsrecht qua Zeitablauf" zur Auseinandersetzung nutzen. Danach muss eine Vorlage auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn seit ihrer Verteilung mindestens drei Wochen vergangen sind. Die ist zuletzt etwa geschehen beim Thema Ökosteuer, das nach Meinung der Mehrheit eigentlich nicht zur aktuellen Aussprache geeignet schien, durch den Willen der Minderheit aber dann doch ausführlich zur Sprache kam.

An der Regierungsbank: der stellvertretende Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion Rainer Brüderle (links) bei Finanzminister Hans Eichel.
An der Regierungsbank: der stellvertretende Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion Rainer Brüderle (links) bei Finanzminister Hans Eichel.

Manchmal, so Repnik, reiche es bereits aus, auf die Möglichkeiten hinzuweisen, um Bewegung in Richtung Einvernehmen auszulösen. Als letztes Mittel bleibe stets die Geschäftsordnungsdebatte. Da lasse sich dann auch inhaltlich etwas ins Plenum bringen, und in gewisser Weise könne die Opposition die Regierung auch "vorführen", indem sie nachweist, wie unangenehm ihr bestimmte Vorgänge, Pläne oder Ereignisse sind. Repnik: "Das ist ein Schwert, und natürlich wird es stumpf, wenn man es zu häufig verwendet; deshalb setzen wir es nur ganz gezielt ein."

Meistens ist es auch nicht nötig, weil die Verständigung im Handumdrehen klappt: Mindestens dreimal sehen sich die PGF während Sitzungswochen in der eigenen Runde oder im letztlich die Tagesordnung beschließenden Ältestenrat. Daneben nutzen sie das Telefon zur schnellen Vorklärung, und bei unvorhergesehenen Entwicklungen rauft man sich auch schon mal am Rande des Plenums zusammen. Außerdem hat jede Fraktion leitende Mitarbeiter dafür benannt, täglich, oft sogar mehrmals täglich Kontakt zu halten. Repnik: "Wir tragen als Regierung wie als Opposition gemeinsam Verantwortung dafür, dass die demokratischen Abläufe seriös vonstatten gehen."

PGF-Kollege Schmidt bestätigt dies gerne: "Das hat sich eingespielt." Schließlich bringt Schmidt großes Verständnis für die Anliegen Repniks mit: "Wir waren ja selbst mal Opposition und wissen, welche ganz normalen Zwänge damit verbunden sind." Gemeinsam bemüht sich die Runde oft genug, nicht nur langfristig geplante Projekte ins Plenum zu tragen, sondern auch aktuell in der Öffentlichkeit diskutierte Themen zu den besten Zeiten zu debattieren. Orte der Verständigung gibt es viele: Die Flure vor den Ausschussräumen zum Beispiel, das Bundestagsrestaurant oder die Cafeteria. Manchmal reicht ein Cappuccino, und es "klemmt" weniger bei der Abwicklung der Tagesordnung.

CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz (rechts) und Rezzo Schlauch.
CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz (rechts) und Rezzo Schlauch.

Eine wichtige Adresse liegt zudem wenige Schritte vom Ost-Eingang des Reichstagsgebäudes entfernt: die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft, im Abgeordneten-Jargon kurz "PG" genannt. Gepflegtes Ambiente, gute Speisen – manchmal geht Politik auch durch den Magen: Die eine oder andere interfraktionelle Initiative hat ihre Wurzeln in der "PG". Nicht zu vergessen sind die Parlamentarischen Abende, die Interessenverbände, Landesvertretungen, Medienhäuser und andere Organisationen im Dunstkreis des Regierungsviertels veranstalten. Sie sind ein beliebter Anlass für zwangloses Zusammentreffen außerhalb der üblichen Schlachtordnungen.

Der Austausch gilt nicht nur den aktuellen Themen und Problemen. Manches Treffen führt Ideen zusammen, die weit über den Tag hinaus reichen. Schon fast legendär ist in dieser Hinsicht die in Bonn entstandene "Pizza Connection", in der sich junge Abgeordnete von Union und Grünen über langfristige gesellschaftliche Einschätzungen austauschen. Viel mehr ist nicht zu erfahren. Denn Sinn dieser Treffen ist es ja gerade, unbeobachtet von der Öffentlichkeit die Gedanken schweifen lassen zu können. Nur eines ist jetzt herausgesickert: Seit dem Wechsel von der Bonner Edel-Pizzeria "Sassella" zum etwas versteckt gelegenen Berliner Restaurant "Das Speisezimmer" steht auf der Menükarte der "Pizza Connection" keine Pizza mehr. Aber darum war es letztlich auch nie gegangen.

Gregor Mayntz

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0010/0010006
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