Dirk Klose
Zeugnis für Mitleid und Stärke
Eine große Edition der Gedichte Gertrud
Kolmars
Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Gertrud Kolmar war 48
Jahre alt, als sie am 27. Februar 1943 im Rahmen der so genannten
Fabrikaktion verhaftet und weniger Tage später nach Auschwitz
deportiert wurde. Dort ist sie bald nach der Ankunft ermordet
worden. Zum Zeitpunkt der Verhaftung lebte die aus einer
großen Familie und einem wohlhabenden Elternhaus stammende
Dichterin schon seit längerem in denkbar einfachen
Verhältnissen: Die meisten Angehörigen hatten Deutschland
längst verlassen, das schöne Haus in Finkenkrug im Norden
Berlins musste bald nach dem Novemberpogrom von 1938 geräumt
werden. Gertrud Kolmar zog mit ihrem Vater, demzuliebe sie auf eine
mögliche Emigration verzichtet hatte, in ein "Judenhaus" im
Berliner Bezirk Schöneberg, das bald mit ebenfalls
entwurzelten jüdischen Menschen überfüllt war.
Schon vor 1933 war man in literarisch interessierten Kreisen auf
die Dichterin aufmerksam geworden; nach 1933 brach diese
hoffnungsvolle Lebensphase jäh ab und engte sich mehr und mehr
auf die Jüdischen Kulturvereine ein, wo sie allerdings schon
bald - neben Nelly Sachs - als bedeutendste weibliche Stimme unter
den jüdischen Autoren in Deutschland gewürdigt wurde.
Über mehrere Lesungen gibt es Kritiken und Zeitzeugen, die
sich unisono positiv über sie äußerten. Die
Literaturkritik ist sich heute weitgehend einig, Gertrud Kolmar
zusammen mit Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs zu den
großen deutsch-jüdischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts
zu zählen.
Stil und Ausdruck
Was die Zeitgenossen und bald nach 1945 auch Literaturkenner und
Verleger so besonders ansprach, waren die sprachliche Kraft und die
Ausdrucksvielfalt ihrer Gedichte. Gertrud Kolmar hat fast alle ihre
Gedichte in großen Zyklen zusammengefasst, deren Oberthemen
anfangs eher eine lockere, in der Zeit der politischen
Bedrängnis dann aber mehr und mehr eine feste Klammer wurden.
In zwei Schaffensphasen ist dieses Werk entstanden - mehrere Zyklen
in den Jahren 1917 bis 1920, dann zwischen 1927 und 1937 die
sprachgewaltigen Zyklen wie "Das preußische Wappenbuch",
"Weibliches Bildnis" oder "Das Wort der Stummen", mit denen sie
Aufmerksamkeit und Anerkennung fand. Ebenfalls in diese zweiten
Schaffenszeit fallen Prosaarbeiten wie der Roman "Die jüdische
Mutter", dessen verstörend hoffnungslos endende Handlung das
Heraufkommen der totalitären Herrschaft signalisiert.
Nach dem Krieg hat es nicht an Bemühungen gefehlt, ihr Werk
bekannt zu machen. Der Verleger Peter Suhrkamp hatte sich schon
bald nach 1945 für sie eingesetzt, ebenso der Schriftsteller
Hermann Kasack. Ihre rechtzeitig emigrierte Schwester und deren
Mann hatten die Texte, die sie erhalten hatten, zur Verfügung
gestellt und beratend bei mehreren Editionen zur Seite gestanden.
In den 60er- und dann wieder in den 80er-Jahren sind mehrere
verdienstvolle Ausgaben erschienen, die gleichwohl das Gefühl
einer gewissen Zufälligkeit weckten, weil einfach zu vieles
noch nicht beachtet schien.
Seit wenigen Monaten liegt nun aber eine Edition vor, die allen
kritischen Ansprüchen gerecht wird und endlich einen
Gesamtüberblick erlaubt. Der Göttinger Wallstein Verlag
hat eine dreibändige Werkausgabe herausgebracht, die von der
Literaturwissenschaftlerin Regina Nörtemann besorgt wurde. Die
Edition enthält im ersten Band die Gedichte der frühen
Schaffenszeit, in einem zweiten (dem umfangreichsten) Band die
großen Zyklen von 1927 bis 1937; im dritten Band
ausführliche editorische Kommentare, Bibliografie sowie eine
kenntnisreiche Biografie zur Autorin.
Preußische Wappen
Die frühen Gedichte vermitteln eine ungewöhnliche
Sensibilität für die Natur, für historische
Persönlichkeiten und Gleichnisse. Aber schon die
"Preußischen Wappen" von 1927 - mal in strengem Reim, mal in
ausufernden Sätzen - sind rauhe, harte Verse, die Stadt und
Land jeglichen Glorienschein nehmen, dafür die Härte
ahnen lassen, unter der der Staat zusammenwuchs. Wenig beliebte
Tiere wie Kröten und Reptilien sind ihr Gleichnis für
Trauer und für trotzige Selbstbehauptung in einer inhumanen
Welt. Und mehrfach klingt schon vor 1933 die Klage über die
Bedrohung jüdischer Menschen an.
Gertrud Kolmars Cousin Georg Benjamin, Bruder von Walter
Benjamin und Ehemann der späteren DDR-Justizministerin Hilde
Benjamin, war bald nach dem Reichstagsbrand 1933 verhaftet und in
ein KZ eingeliefert worden. Durch ihn war sie über den Terror
des NS-Regimes informiert, wie das Gedicht "Der Misshandelte"
zeigt: "In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht./Ich stehe
an der Wand und schlafen darf ich nicht". Und in "Anno Domini 1933"
nimmt sie Pogrome, Deportation und Mord vorweg:
"Du krumme Nase, Levi, Saul,
hier, nimm den Blutzins und halt's Maul.
Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb,
die Leute zogen mit, er blieb.
Gen Abend trat im Krankenhaus
der Arzt ans Bett. Es war schon aus. -
Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich
im dritten, christlich-deutschen Reich."
Angesichts der verlegerischen Großtat, die eine solche
Edition darstellt, ist zu wünschen, dass das Werk Gertrud
Kolmars endlich einen größeren Leserkreis erreicht, ganz
im Sinne des von der Herausgeberin zitierten Paul Celan, der
für große Dichtung den Begriff der Flaschenpost
gebrauchte, die eines Tages an das "Herzland" der Leser
gespült wird.
Regina Nörtemann
Gertrud Kolmar. Das lyrische Werk.
Drei Bände (234, 360 und 432 Seiten).
Wallstein Verlag, Göttingen 2003; 98,- Euro
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