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Claudia Heine
Die Politik ist den Bürgern voraus
Damals... vor zehn Jahren am 4. Februar: Der
Bundestag öffnet das Europawahlrecht für
EU-Ausländer
Mit "verordneten" Identitäten ist es so eine Sache. Erst
recht, wenn es sich um ergänzende handelt, wie im Fall der so
genannten Unionsbürgerschaft. Unionsbürger ist, so sagt
es der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union
von 1992, wer die Staatsbürgerschaft eines der
Mitgliedsländer besitzt. Die Formulierung von allgemeinen
Grundrechten und deren Präzisierung im Begriff der
Unionsbürgerschaft erweiterte die Vorstellungen einer
Europäischen Gemeinschaft erheblich. Der ursprünglichen
Idee eines gemeinsamen, stabilen Wirtschaftsmarktes wurde die Idee
eines "Europas der Bürger", einer europäischen
Identität entgegengesetzt.
Mit der Geburt der Unionsbürgerschaft 1992 wurden neue,
europa-spezifische Rechte definiert: Sie verlieh jedem
Unionsbürger das persönliche Grundrecht, sich im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, und dies ohne
Bezugnahme auf eine Wirtschaftstätigkeit. Sie gewährte
ferner diplomatischen und konsularischen Schutz durch die
Behörden eines jeden Mitgliedstaats, wenn das Land, dessen
Angehöriger man ist, in dem betreffenden Land nicht vertreten
ist. Mit ihr verband sich darüber hinaus ein Petitionsrecht
beim Europäischen Parlament und das Recht, sich an den
europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden (als
Ergänzung im Amsterdamer Vertrag 1997 enthalten). Vor allem
aber hatten Unionsbürger nun das Recht, im Land ihres
Wohnsitzes an Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen
Parlament teilzunehmen. Die erste Chance dafür bot sich am 12.
Juni 1994, als in der Bundesrepublik zum vierten Mal seit 1979 eine
Direktwahl zum Europaparlament stattfand.
Am 4. Februar 1994 hatte der Bundestag einer Änderung des
Europawahlgesetzes für Deutschland zugestimmt, das dann am 13.
März in Kraft trat. Neben den deutschen Staatsbürgern
waren nun auch 1,3 Millionen EU-Ausländer, sofern sie bereits
drei Monate in der Bundesrepublik lebten, an die Urnen gerufen.
Nicht nur für die Neu-Wähler, auch für die deutschen
und ausländischen Behörden bedeutete dies im Vorfeld
einen formalen Hürdenlauf. Denn die Wahlberechtigten waren
nicht automatisch in den entsprechenden Wählerregistern
gelistet. Dies musste bis spätestens zum 9. Mai beantragt
werden. Danach wurden, da die Wahlberechtigung nur für ein
Land galt, die Behörden in Frankreich oder Spanien informiert,
um die Betreffenden aus den dortigen Wahlregistern zu streichen.
Letztendlich meldeten sich nur 6,6 Prozent der in Deutschland
wohnenden Bürger anderer EU-Staaten zur Wahl an.
Verantwortlich dafür war nicht in erster Linie die knapp
bemessene Zeit zwischen Verabschiedung und erster Anwendung des
Gesetzes, wie manche Berichterstatter vermuteten. Denn auch bei der
Europawahl 1999 ließen sich nur 2,1 Prozent der
wahlberechtigten EU-Bürger in die Register eintragen. Dass
eine europäische Identität und ein Bewusstsein für
Gestaltungsmöglichkeiten im europäischen Rahmen nicht
allein durch Vertragswerke entsteht, sondern sich durch
Alltagserfahrungen erst allmählich entwickelt, wurde schon im
Zusammenhang der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht deutlich.
Die Euphorie der Europa-Befürworter, allen voran Bundeskanzler
Helmut Kohl (CDU) und der französische Staatspräsident
Francois Mitterand, stieß unter der Bevölkerung vieler
Länder auf Ängste, Skepsis und offene Ablehnung. In
Dänemark lehnte eine Mehrheit den Maastrichter Vertrag 1992 in
einem Volksentscheid ab; die norwegische Bevölkerung sprach
sich 1994 gegen einen Beitritt des Landes zur EU aus.
In der Bundesrepublik sorgte vor allem der Beschluss zur
Einführung des Euro für Unruhe. Während Helmut Kohl
den europäischen Einigungsprozesses zur "Schicksalfrage
für die Deutschen" machte und seine Bedeutung für die
Bundesrepublik als ein Land mit sehr vielen Nachbarn hervorhob,
deklassierte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber
(CSU) die EU als "Rindfleischgesellschaft" und äußerte
Angst vor einem "Herabsinken Bayerns zu einer europäischen
Provinz". Er verlangte einen radikalen Kurswechsel in Sachen
Europapolitik und meinte damit eine Verlangsamung des
Integrationsprozesses. Doch dafür war es längst zu
spät.
"Europa", zunächst von vielen als
ökonomisch-technokratisches Gebilde betrachtet, das mit der
eigenen Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun habe, wurde im Verlauf
eines Jahrzehnts zu einem wichtigen Bezugsrahmen für seine
Bewohner: Angefangen vom einheitlichen EU-Führerschein bis hin
zu dem Bewusstsein, sich an den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte wenden zu können, wie im Falle der
jüngsten Bodenreformurteile geschehen.
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