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Das Parlament
Nr. 23-24 / 01.06.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Karl-Otto Sattler

Europas Parlamentspräsidenten fordern mehr Einfluss für die Volksvertretungen und mehr Bürgerbeteiligung

Mehr Interesse an Politik durch E-Voting und Wahl-Lotterie?

Ein Gespenst geht um in Europa: In vielen Ländern sinkt die Wahlbeteiligung, und ein Ende dieses Abwärtstrends ist nicht abzusehen. Diese Tendenz macht natürlich vor allem den Parlamenten zu schaffen, deren politische Legitimation schließlich in der Stimmabgabe der Bürger wurzelt. Lange Zeit wurde die niedrige Quote mit einem Satz des Bedauerns an Wahlabenden kommentiert, und damit war diese leidige Angelegenheit bis zum nächsten Urnengang abgehakt. Nun aber wachen Politiker, Parteien und Wissenschaftler nach und nach auf; auch die Volksvertretungen selbst treibt diese Malaise inzwischen um.

Vor einigen Jahren wäre es noch nicht denkbar gewesen, dass ein internationaler Kongress von Parlamentspräsidenten wie jetzt in Straßburg beim Europarat die spürbar abnehmende Wahlbeteiligung zu einem seiner Themen macht. Peter Schieder (Österreich), Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Staatenbunds, sieht in dieser Entwicklung eines der zentralen politischen Probleme auf dem Kontinent: Die Volksvertretungen müssten "sich dem Rückgang der Wahlbeteiligung und dem mangelnden Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen Institutionen stellen".

Rund 50 Parlamentsvorsteher aus ganz Europa sowie einige Forscher suchten unter dem Motto "Das Europa der Bürger: Parlamente und Bürgerbeteiligung" nach Wegen aus dieser Misere. Eine wesentliche Aufgabe formulierte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse so: "Es muss gelingen, die Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente spürbar zu stärken und die Transparenz der Entscheidungen zu erhöhen." In der Tat hängt die politische Ausstrahlungskraft der Volksvertretungen entscheidend von ihrer Macht und ihrem Einfluss ab. Doch es läuft andersrum: Die Diskutanten im Palais d'Europe führten beredt Klage über den Kompetenzverlust der Parlamente.

Schieder benannte einige Phänomene dieser Verwerfungen zuungunsten der Abgeordnetenhäuser: Die wirtschaftliche Globalisierung und die Medienkonzentration bleiben nicht ohne Auswirkung, die terroristischen Bedrohungen haben die Position der Exekutive gestärkt, auf internationaler Ebene haben starke Länder und deren Regierungen das Sagen. Der österreichische Politiker nimmt auch den Europarat von Kritik nicht aus: In dessen Statut ist immer noch festgeschrieben, dass die mit Delegationen aus 45 nationalen Parlamenten bestückte Deputiertenkammer im Willensbildungsprozess des Staatenbundes lediglich eine beratende Funktion hat. So verlangt Schieder denn auch die Tilgung dieser Passage und ein größeres Gewicht für das Abgeordnetenhaus im Machtgefüge des Palais d'Europe.

Aus Sicht des italienischen Politik-Professors Philippe Schmitter ist "das Prestige der Parlamente generell gefallen". In vielen Ländern verzeichneten zudem die Parteien Mitgliederrückgänge. Die Bürger nähmen bei den Parteien, die alle zur politischen Mitte tendierten, nur sehr geringe Unterschiede wahr. In einem solchen Befund schwingt unausgesprochen die Frage mit, warum man sich unter diesen Vorzeichen für die eine und gegen die andere politische Formation entscheiden soll. Der Wissenschaftler aus Florenz: "Die Menschen verwenden ihre Stimme, um eine Politik zu verurteilen, und nicht, um für ein Programm zu stimmen." Ins Gewissen redete Borut Pahor, Präsident der slowenischen Volksvertretung, den Abgeordneten: "Der Ruf eines Parlaments hängt nicht von Presseberichten ab, sondern von dessen Arbeit."

Skeptisch zeigte sich Wolfgang Thierse bei seinem Auftritt vor dem Straßburger Auditorium gegenüber Volksabstimmungen als einem Instrument stärkerer Bürgerbeteiligung, weswegen sich der Bundestagspräsident auch entschieden gegen ein Plebiszit über die EU-Konstitution wandte. Es sei "kein Demokratiedefizit" zu erkennen, wenn über diese Verfassung in einem Parlament und nicht bei einem Referendum beschlossen werde. Nie zuvor, sagte der SPD-Politiker, hätten frei gewählte Parlamentarier "so unmittelbar an der Gestaltung des europäischen Primärrechts mitwirken" können. Entscheidend für die Identifikation der Bürger mit der EU werde sein, "ob die Verfassung in der Praxis tatsächlich zu mehr konkret erfahrbarer demokratischer Teilhabe führt". Und die, so Thierse, solle man nicht allein an der Existenz plebiszitärer Elemente messen. Dem Bundestagspräsidenten kommt es eben vor allem darauf an, die Parlamente auf nationalem und europäischem Niveau aufzuwerten.

Eine solche Forderung stößt bei den Abgeordneten zwischen Atlantik und Kaukasus gewiss auf offene Ohren. Schön klingt auch die Feststellung Peter Schieders, nationale und internationale Volksvertretungen sollten enger kooperieren. Indes sind mit der fortschreitenden europäischen Integration auch zunehmende Konflikte zwischen den parlamentarischen Ebenen programmiert. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der EU-Verfassung ist für Thierse "ein außerordentlicher Erfolg". Künftig werden die nationalen Abgeordnetenhäuser, sofern sich 30 Prozent der 25 Volksvertretungen in der EU auf einen solchen Schritt verständigen, Verstöße gegen die Subsidiarität geltend machen können - ein Aufbegehren, das sich dann nicht nur gegen die Brüsseler Kommission, sondern auch gegen das EU-Parlament als Teil der EU-Entscheidungsstruktur richtet.

Philippe Schmitter schlug bei der Straßburger Konferenz das Modell der "Gelben Karte" vor: Parlamente vom lokalen über das regionale bis zum nationalen Niveau sollten der jeweils nächsthöheren Instanz eine "Gelbe Karte" präsentieren können, um so im Falle einer unzulässigen Einmischung in das basisnähere Gremium eine Rechtfertigung für diesen Eingriff erzwingen zu können. Der italienische Forscher will dieses System nicht als juristisches Instrumentarium, sondern als verbindlich vereinbarten politischen Mechanismus verstanden wissen. Joao Bosco Mota Amaral, Präsident des portugiesischen Abgeordnetenhauses, mahnte internationale Deputiertenkammern und "besonders das EU-Parlament", die nationalen Volksvertretungen nicht zu missachten.

Mit Blick auf mehr Bürgerbeteiligung und auch auf eine Aufwertung der Parlamente werden große Hoffnungen auf moderne Technologien, auf das Internet und auf das E-Voting als elektronische Abstimmung vom heimischen Computer aus gesetzt. All das läuft unter dem Oberbegriff "E-Governance". Ene Ergma, Präsidentin des estnischen Abgeordnetenhauses, gerät schon fast ins Schwärmen über diese neuen Perspektiven: Die Arbeit in den Volksvertretungen werde vereinfacht und billiger, man könne die Parlamente der Bevölkerung näherbringen, die Demokratie werde transparenter, die Bürger könnten sich intensiver in den politischen Meinungsbildungsprozess einbringen. Max Binder, Vorsteher des Schweizer Abgeordnetenhauses, gab sich in Straßburg überzeugt, dass sich in seinem Land die Volksabstimmung via Internet in den nächsten zehn Jahren durchsetzen werde. Einige lokale Referenden seien bereits mit Hilfe auch des E-Votings abgewickelt worden. So könne man, hofft der eidgenössische Politiker, auch die Wahlbeteiligung steigern.

E-Governance noch unterentwickelt

Allerdings ist die "E-Governance" in Europa noch nicht weit gediehen, wie der Genfer Wissenschaftler Alexander Trechsel bei Untersuchungen ermittelte. Zwar seien inzwischen alle Regierungen im Internet vertreten, doch richteten sich diese Dienste oft mehr an die Wirtschaft und weniger an die Bürger. Die Qualität der Internetpräsentationen sei in den einzelnen Staaten recht unterschiedlich. Die Regierungen böten der Bevölkerung in erster Linie Informationen an, unterentwickelt hingegen seien die "interaktiven Kommunikationsformen". Trechsel: "Die Diskussionsforen, in denen sich die Bürger zu politischen Themen äußern können, werden derzeit kaum besucht."

Mit einem unkonventionellen Vorschlag zur Erhöhung der Wahlbeteiligung überraschte Philippe Schmitter die in Straßburg versammelten Parlamentspräsidenten, nämlich mit der Idee einer "Lotterie für Wähler": Jeder, der bei Urnengängen seine Stimme abgibt, erhält ein Los und hat so die Chance, einen Preis zu gewinnen. Worin dieser Preis bestehen soll, ließ der italienische Professor offen

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