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Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Detlev Lücke

Aufgewachsen in Ruinen, mit dem Graubrot in der Hand

Mangel war der Begleiter der Nachkriegskinder, unter dem sie nicht allzu sehr litten
Früher seien die Sommer schöner gewesen, und in den Wintern gab es mehr Schnee. Wer dieses als Älterer sagt, wird gern der erinnernden Schönmalerei geziehen. Vielleicht aber beruhen diese Feststellungen nur auf einer schärferen Wahrnehmung aus den Zeiten des Nachkrieges, als die heißen, trockenen Sommermonate Schutz boten vor den trostlosen Winterwochen, in denen es nichts zu heizen und wenig zu essen gab. Als die Berliner beispielsweise ihren schönen Tiergarten beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben war, in ihren Kanonenöfen verfeuerten, um es wenigstens ein bisschen warm zu haben.

Die Großmutter bedeutete dem Enkel, ins Schlafzimmer zu gehen. Dort lag der Großvater fest im Bett und konnte nicht mehr sprechen. Wenn er etwas von der Großmutter wollte, die meist im Garten war, pfiff er auf der Trillerpfeife. Die war ihm vertraut, weil er bis Kriegsende als Turnlehrer gearbeitet hatte und wegen seiner Lust zum Hauen von den Schülern Strippser genannt wurde. Ich folgte dem Rat der Großmutter und betrat ängstlich das Zimmer. Der Gefürchtete zeigte wortlos auf ein kleines Vertiko am Fenster. Sein Finger richtete sich auf eine Schublade. Die sollte ich aufziehen. Der Finger machte eine kranartige Bewegung. Ich sollte herausnehmen, was in der Lade lag. Es war ein in Stanniolpapier eingewickeltes Päckchen. Der Finger befahl mir: Auspa-cken. Im Stanniol lag ein schmaler Riegel Schokolade. Ich hatte bis zu diesem Tag, als ich sechs Jahre alt war, noch keine Schokolade gesehen, geschweige denn gegessen. Der Großvater signalisierte mir schweigend, die vier Stückchen zu nehmen. Sie schmeckten süß wie bitter und hingen mir am Gaumen. Sie hatten den Großvater in einem Paket erreicht, das ihm alte Freunde aus dem Tessin geschickt hatten.

1948 beschränkte sich unsere Nahrung vor allem auf undefinierbares Graubrot und eine wöchentliche Schüssel klumpiger Marmelade aus Obst und Tomaten. Meine Mutter zog Kerben in das Brot, damit keiner mehr als die vorgeschriebenen Scheiben essen konnte. Einübung von Gerechtigkeit in Zeiten des Mangels. Die Marmelade holte sie in dem kleinen Lebensmittelladen von Fräulein Schulz und Fräulein Schröder, der sich im Erdgeschoss unseres Hauses befand, das als einziges in der Straße die Bombenangriffe überstanden hatte.

Die beiden älteren Fräuleins bekamen ebenfalls ein Paket, aus den USA. Die darin enthaltene Packung Wackelpudding überließen sie meiner Mutter, die uns das ungewohnte Geschenk zubereitete. Ich hatte meine Schüssel in kürzester Zeit geleert, während mein Bruder den Löffel in den Pudding steckte und wieder herauszog und ableckte. Das ging den ganzen Nachmittag so. Meine Mutter schrie ihn an, wenn er nicht mit dieser Leckerei aufhöre, werde sie ihm sein Schälchen wegnehmen. Er wolle doch auch morgen noch was von dieser schönen Sache haben, meinte er.

Haben wir in dieser Zeit irgendetwas für unser späteres Leben gelernt? Schwer zu beantworten. Haben wir den Zusammenhang von Werten und Konsum begriffen? Man vermisst nichts, was man nicht kennt. Das Wort Konsum wurde auf der ersten Silbe betont und stand für einen ziemlich leeren Laden, über dessen mit Holz verkleideter Schaufensterscheibe Konsum in dunkelroten Buchstaben angeschrieben stand.

Zu meiner Einschulung im Spätsommer 1948 lagen auf unseren Schulbänken für jeden Neuen ein Apfel, eine blaue Pflaume und ein Brötchen aus weißem Mehl. Für den, der nichts hat, sehr viel und des Merkens würdig. Die große Schultüte war bis zum Rand mit Zeitungspapier ausgestopft, nur die oberste Schicht bestand aus Bonbons, vor allem aus so genannten Maiblättern, grün, klebrig und sauer. Die Sorte kannte ich, weil sie uns schon einmal von einem Russenpanzer heruntergereicht worden waren. Der kam mir riesig vor, wie ich so mit meinen Freunden Ernst-Rüdiger Edel und Helga Rusch davor stand. Unser Spielplatz waren die Ruinen der zerstörten Mietshäuser, auf die Brandbomben gefallen waren, so dass nur die schwarzen Fassaden stehen geblieben waren. Wenn wir über die dahinter liegenden Schuttberge stiegen, stießen wir manchmal auf kleine Gärten, die entweder die Zerstörung überstanden hatten oder von irgendwelchen Überlebenden, die wir nicht kannten, angelegt worden waren. In ihnen wuchsen blaue Trauben und herrliche Äpfel, von denen wir uns reichlich bedienten. Paradiese des Wachstums im Geruch verkohlter Häuserbalken.

Heinrich Böll hat einmal von diesen Paradiesen geschrieben, die die Kölner Trümmerlandschaft seinen Söhnen um 1950 herum bot. Zu Recht bezeichnete er sie als Stätten für Abenteuer, von denen unsere Eltern zu ihrem Glück wenig wussten. Diese Ruinen waren steinerne Zeugen der Nachkriegsanarchie, in ihnen verschwand manches Kind auf Nimmerwiedersehen. Ich erinnere mich, wie ich mit Ernst-Rüdiger Edel durch die völlig zerstörte Listemannstraße lief, wo nicht einmal die Keller mehr zum Wohnen taugten und aus denen plötzlich ein Mann mit einem langen Messer auftauchte. Vielleicht hatte er nur Karnickelfutter aus dem fetten Boden geschnitten. Wir liefen schnellstens weg und kamen vor unser Haus mit dem Schrei: "Der Kindermörder, der Kindermörder!" Idylle und Katastrophe wohnten in jenen Jahren eng beeinander.

Ende 1948 zogen wir nach Berlin. Dort gab es in der Schule so genannte Schwedenspeisung, dicke weiße Bohnen und eine unvergleichliche Schokoladensuppe, deren Geschmack derjenige, der sie gegessen hat, nicht vergessen wird. Wir kamen mit Kochgeschirren und großen Töpfen mit Deckeln zum Unterricht, um von den Kostbarkeiten auch noch die übrige Familie zu erfreuen. Erst 1949, nach Gründung der DDR, hörte der Spaß für die Ostberliner auf. Jetzt gab es Brühnudeln und Blutwurst, und die Teilnehmer an der Schulspeisung reduzierten sich rasch. Im Osten wurden die ersten HO-Läden gegründet, in denen man markenfrei einkaufen konnte. Schnell sang der Volksmund: "Tschia, tschia,tschia,tscho, Käse gibt es im HO, anstehn musste bis nach Halle, wennde dran kommst, ist der Käse alle." Der Mangel wurde als Basis frecher Texte zum kulturellen Phänomen. Ein Begleiter bis zum Ende der DDR, als nach deren Überwindung vielen endlich der Weg ins Konsumparadies offen zu sein schien und die Werbung aus dem Westfernsehen sich in den Regalen der Kaufhallen materialisierte. Hatte es doch schon vorher geheißen: Ex Oriente lux, ex Okzidente luxus. Markenfetischismus vernebelte Gehirne und machte Zungen stumpf.

Sattessen ist für einen Hungrigen ausreichender Genuss. Für mich bedeutete das 1948 an einem Wintertag ein Glas heiße Milch, ein Butterbrötchen und eine Bockwurst. Für den Gourmet eine gewagte Kombination, für mich damals ein nicht zu überbietendes Festessen. Erich Kästner hat diese Sensorien der Mangelgesellschaft in seinem Tagebuch "Notabene 1945" beschrieben, als ihn sein neuer Freund, der amerikanische Sanitätsfeldwebel Andy, besucht: "Bevor er sich's am Tisch gemütlich macht, kramt er aus, was er mitgebracht hat: Kaffee, Zigaretten, Schokolade, Zahnpasta, illustrierte Zeitschriften und, in Feldpostformat, Romane, Kurzgeschichten und sonstige Lektüre. Dabei freut er sich so zurückhaltend wie möglich. Wir freuen uns viel ungenierter. Falsche Töne gibt es nicht."

Diese von Kästner geschilderte Lust hat der Ostler häufig beim Empfang eines so genannten Westpakets empfunden. Ob ihn diese Erinnerung sehnsüchtig macht, entzieht sich momentan noch der Bewertung. In Zeiten hemmungslosen Konsums ist die Erinnerung sowieso ein eher seltener Gast.

Detlev Lücke ist leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".

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