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Das Parlament
Nr. 40 / 27.09.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Karlheinz Lau

Ein traumatisches Erlebnis

Das Thema Vertreibung bleibt virulent
Die bis heute wichtigste Dokumentation über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist vom Vertriebenenministerium der Bundesrepublik zwischen 1953 und 1962 herausgegeben worden. Das fünfbändige Werk wurde von Theodor Schieder wissenschaftlich bearbeitet. Es sind oft erschütternde Berichte von Augenzeugen über ihre Erlebnisse, handelt es sich doch um eine Dokumentation der eigenen Verluste und Leiden.

Seit 2000 wird dieser - offiziellen - deutschen Publikation eine Dokumentation aus staatlichen polnischen Archiven gegenübergestellt. Verantwortlich dafür sind der Deutsche Hans Lemberg und der Pole Wlodzimierz Borodziej. Ziel dieser Arbeit ist eine Gegenüberstellung der deutschen und der polnischen Perspektive mit einer erneuten Reflexion über die Vertreibungen (siehe auch "Das Parlament" vom 3. Mai 2004).

In Deutschland ist eine große Zahl von Berichten und Erinnerungen über Flucht und Vertreibung erschienen. Bekannte Namen wie Gräfin Dönhoff oder Christian von Krockow sind zu nennen, aber auch zahlreiche weniger bekannte Autoren wie die ostpreußische Pfarrersfamilie Terpitz. Der Behauptung kann nicht zugestimmt werden, dass es ein ausgeblendetes und vernachlässigtes Thema war. Sicher stand es lange nicht im Vordergrund des Interesses; erst die Vorgänge auf dem Balkan, Dokumentationen im Fernsehen und auch die aktuellen Debatten um ein Zentrum gegen Vertreibungen haben eine breite Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert.

Auch das Buch von Günter Grass über den Untergang der "Wilhelm Gustloff" muss nicht als ein Durchbruch für das Thema gelten, wie häufig behauptet wird, allenfalls als eine Überraschung für Teile des linken Spektrums. Erwähnt werden muss auch der von Klaus Bachmann und Jerzy Kranz herausgegebene Band über die Vertreibungsdebatte in Polen.

Das Buch von Liste ist der sehr persönliche Bericht über die Flucht seiner Familie aus Niederschlesien in die neue Heimat südlich von Magdeburg. Als Bauern erhielten sie in der damaligen Ostzone Bodenreformland. Die Familie war auf einem Pferdefuhrwerk 15 Monate, vom 26. Januar 1945 bis 1. April 1946, unterwegs. Die einzelnen Etappen werden auf einer beigefügten Karte nachgezeichnet, was für das Verständnis des Berichtes sehr hilfreich ist. Zahlreiche Fotos, abgelichtete Dokumente und Kohlezeichnungen des Verfassers illustrieren die Texte. Die Einteilung der jeweils kurzen Kapitel folgt den einzelnen Quartierstationen.

Die Flucht vor der Front wurde am Ende zur Vertreibung aus der Heimat. Nach Bekunden des Autors, Jahrgang 1934, waren diese Ereignisse immer wieder Gesprächsthemen in der Familie, was Liste schließlich motivierte, aus seinen persönlichen Erinnerungen nach 54 Jahren dieses Tagebuch über die Flucht aus Schlesien und den Neuanfang in der SBZ zu beginnen. Dabei überrascht das starke Erinnerungsvermögen an viele Einzelheiten; ohne Austausch mit Verwandten und Freunden wäre das kaum möglich gewesen. Er berichtet detailliert über schreckliche Erlebnisse und Erfahrungen von flüchtenden Menschenmassen inmitten einer gnadenlosen Militärmaschinerie von Deutschen oder Sowjets, und das bei bitterer Kälte.

Die Kapitulation beendete die tägliche Angst vor dem Tod, bedeutete aber weiter Ungewissheit vor der Zukunft. Eine Rückkehr nach Schlesien war seit Sperrung der Neißebrücken für Deutsche durch Polen nicht mehr möglich. Hundertfach sind diese Umstände in unzähligen Berichten geschildert worden.

Der junge Liste war wie viele Altersgenossen auch das Produkt der NS-Erziehung als Pimpf und Hitlerjunge. Die Vorstellungen des Jungen kamen dann aber mehr und mehr ins Wanken durch die konkreten Erfahrungen, die er auf dem Treck sammeln musste. Das Buch bietet eine Geschichte der damals alltäglichen Erfahrungen von unten, die der Autor aus der Distanz von über 50 Jahren rekonstruiert. Aus dieser späteren Perspektive hat er allgemein politische und militärische Lageberichte hinzugefügt.

Interessant sind auch die Erfahrungen, die die Flüchtlinge als Neubauern in der Magdeburger Börde sammeln mussten. Allerdings wurde nicht so ganz deutlich, dass es sich um die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands handelte. Auch hätte man deutlichere Reflexionen zu der bis heute kontrovers diskutierten Frage gewünscht, wie die Vertreibungen der Deutschen bewertet werden müssen: waren sie ein Verbrechen an unschuldigen Menschen, waren die Vertriebenen die letzten Opfer des von Deutschland verantworteten Krieges, oder war der Verlust der Ostgebiete die gerechte Strafe für die Verbrechen, die im Namen Deutschlands an Polen, Russen und anderen Völkern begangen wurden?

Unabhängig davon: das Buch muss als Beispiel dafür gelten, dass Flucht und Vertreibung auch 60 Jahre später ein traumatisches Erlebnis für viele Betroffene geblieben sind. Das ändert auch keine noch so gelungene materielle Eingliederung, wie mancher Zeitgenosse meint.

Hans-Joachim Liste

Unsere Flucht vor der Front.

Vertreibung und Neuanfang

Militzke Verlag, Leipzig 2004; 288 S., 18,- Euro

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