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Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Udo Scheer

Stasi-Forschung gleicht mehr und mehr einem absurden Theater

Tagung der Akademie Tutzing: Neue Überprüfungen erforderlich

Lange Zeit galten Staatssicherheit, der Umgang mit Stasi-Verstrickung und Zersetzung als rein ostdeutsches Thema. Das änderte sich, seit sensationelle Enttarnungen von Spionen wiederholt das Ausmaß der geheimdienstlichen Unterwanderung der Bundesrepublik durch die DDR-Staatssicherheit sichtbar machen.

Bevor voraussichtlich Ende des Jahres die Auswertung der Rosenholz- und Sira-Dateien, öffentlich vorgestellt wird, lud die evangelische Akademie für politische Bildung Tutzing an den Starnberger See zu einer aktuellen Bestandsaufnahme über Stasi-Durchdringung, Stand und Grenzen der Forschung und möglichem politischen Handlungsbedarf.

Eine einführende Fragestellung ging dem Phänomen nach: Was machte den DDR-Geheimdienst in seiner Westarbeit derart erfolgreich? Hubertus Knabe, heute Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, stimmte nachdenklich, als er darüber sprach, mit welchen Praktiken die DDR-Auslandsspionage systematisch Schwächen der offenen Gesellschaft ausnutzte: Bis zu 100.000 Telefone in der Bundesrepublik und ihre per Richtfunk übertragenen Gespräche wurden abgehört und für Desinformation, Beeinflussung, Erpressung benutzt. Staatskritische junge Leute aus der Studenten- und Friedensbewegung wurden gezielt zu "Perspektiv-IM" aufgebaut. Einer dieser Studenten war der spätere DDR-Top-Spion in der Brüsseler NATO-Zentrale Rainer Rupp ("Topas"). Zudem verlegte sich die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) neben der "Romeo"-Methode seit den 70er-Jahren verstärkt auf das höchst effiziente Abschöpfen. Das Spektrum reichte von Alexander Schalck-Golodkowskis Kamingesprächen mit Franz Josef Strauß über den Fraktionsvorsitzenden der SPD in NRW Friedhelm Farthmann, der sich gern zu Jagdausflügen in die DDR einladen ließ, bis hin zu gutgläubigen westdeutschen Aktivisten der Städtepartnerschaften.

Zu einem weiteren dunklen Kapitel gehörte die Infiltration und Beeinflussung bundesdeutscher Parteien und Gruppierungen durch das MfS. Hubertus Knabe und Udo Baron vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin kritisierten deren bislang fehlende Eigeninitiative bei der Aufarbeitung. Ein Grund, weshalb mancher ihre politische Glaubwürdigkeit bis in die Gegenwart infrage stelle.

Exemplarisch am Beispiel der "Krefelder Initiative" als "Vorfeldorganisation der DKP" und der über die DDR-Staatssicherheit geförderten "Generale für den Frieden" belegte Udo Baron die subtile Beeinflussung von Teilen der westdeutschen Friedensbewegung und die Erfolge bei deren antiwestlichen Ausrichtung.

Ebenfalls über die bundesdeutschen Medien gelang es den DDR-Strategen erstaunlich erfolgreich, zur Verunsicherung in der westdeutschen Gesellschaft beizutragen. Dies geschah, so Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU, weniger durch IM in Redaktionen als durch Ausnutzung der freiheitlichen Medienlandschaft. Die Desinformationsabteilungen des ZK und des MfS lancierten Informationen, die ihre Wirkung aus schwer nachweisbaren Falschmeldungen entwickelten. Der Erfindungsreichtum reichte von falschen Zeugen für eine Giftgasproduktion der Bundesrepublik bis zu manipulierten Zeichnungen, die Bundespräsident Heinrich Lübke als KZ-Baumeister skandalisierten.

Besonders in den 80er-Jahren sattelten Journalisten auf ein von DDR-Ideologen geschickt geschöntes DDR-Bild drauf. So machte die spätere Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks Luc Jochimsen ahnungslos gelenkt die DDR zu einem reinen Frauenparadies und empfahl sich für weitere Aufträge. Das MfS war hochzufrieden. Es konnte sich auf kritische akkreditierte Korrespondenten konzentrieren. Doch wer damals ohne langen Löffel mit dem Teufel aß, muss heute kaum mit lästigen Fragen rechnen. 650 einer von Staadts Forschungsgruppe erarbeiteten 1.100-seitigen Studie über "Die rundfunkbezogenen Aktivitäten des MfS", werden vorerst unter Verschluss gehalten. Nach dem erweiterten Kohl-Urteil vom Juni 2004, das ein Auskunftsverbot über Amtsträger, Personen der Zeitgeschichte und Dritte verfügt, hatten sich Hausjuristen der Funkhäuser dafür ausgesprochen, personenbezogene Zusammenhänge, damit auch IM-Verstrickungen, für die Öffentlichkeit zu sperren. Was als couragierter Versuch einer Vergangenheitsklärung begann, könnte zur Freude der Vergangenheitsvertuscher in einer peinlichen Farce enden.

Ebenfalls längst nicht ausgeleuchtet ist das Feld der Wirtschaftskriminalität. Reinhard Buthmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Birthler-Behörde, streifte dieses "noch immer verminte Gelände" mit einem Kurzabriss über das Schalck-Imperium Kommerzielle Koordinierung (KoKo)

Unter den 1.500 Bundesbürgern, die zuletzt für den DDR-Geheimdienst aktiv waren, fanden sich weniger als erwartet in Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft, Militär und Geheimdienst. Stattdessen operierten viele äußerst effektiv an "Scharnierstellen".

Zu dem Ergebnis gelangte Helmut Müller-Enbergs, seit 2003 Leiter der Forschungsgruppe "Rosenholz". Spekulationen, die Amerikaner hätten Teile von Akten mit deutschen Bezügen vorsätzlich zurückgehalten, wollte er nicht bestätigen. Vielmehr seien offenbar aus Unkenntnis Informationen über HVA-Spione wegen nicht zuordenbarer Staatszugehörigkeit zurückgehalten, aber auf Anfrage nachgereicht worden. Das, so Müller-Enbergs, werde wahrscheinlich eine Kernaussage der Ende des Jahres zu erwartenden Auswertung. Eine zweite Kernaussage: Mit weit mehr als 10.000 führte die HVA eine überraschend hohe Zahl an DDR-Bürgern als Inoffizielle Mitarbeiter mit Kontakten und Aufträgen in der Bundesrepublik. Die heutige Tätigkeit dieses Personenkreises ist bislang kaum bekannt. Allein dieser Fakt legt neue Überprüfungsanträge im öffentlichen Dienst, Ämtern und Behörden in ganz Deutschland nahe. Und hier ist Eile geboten. Denn nach derzeitigem Gesetz sind Überprüfungen nur noch bis zum 31. Dezember 2006 zulässig.

Was also bleibt nach 13 Jahren Stasi-Forschung zu konstatieren? Antworten darauf versuchten der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag Dieter Wiefelspütz und der Historiker Hubertus Knabe. Ihre Bilanz fiel ernüchternd aus. Obwohl, so Wiefelspütz, die Staatssicherheit Teil der gesamtdeutschen Geschichte und Gegenwart ist, bleibt sie ein Minderheitenthema, auch im Bundestag. Er rechne damit, dass die Ausstattung für die Bildungsarbeit der Behörde gekürzt und sie perspektivisch zu einem Archiv herabgestuft werde. Das wäre ein fatales Signal angesichts wachsender Demokratieverdrossenheit, besonders im Osten.

Nach dem verheerenden Kohl-Urteil zum Umgang mit Stasi-Akten, so Hubertus Knabe, gleiche die Stasi-Forschung einem absurden Theater. Mit der derzeit vorgeschriebenen Schwärzungsorgie für herausgegebene Akten seien sie für die Diktatur-Forschung nahezu unbrauchbar. Wissenschaftler und Journalisten würden entmündigt. Nutznießer sind jene, die die Machenschaften des MfS und das Wesen der Diktatur verharmlosen. "Wir können uns nur wundern", sagte Wiefelspütz, wozu das Kohl-Urteil bereits benutzt werde. Er könne sich vorstellen, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz neu gefasst werden müsse.

Weshalb dazu hochgradiger Handlungsbedarf besteht, brachte ein Teilnehmer auf den Punkt: "Wenn die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie nivelliert werden, wie kann dann die Zukunft der Demokratie gesichert werden." Diese Frage besteht über Tutzing hinaus. Udo Scheer

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