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Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Igal Avidan

Sharon wartet auf die Zeit nach Arafat

Ein Sieg im israelischen Parlament über die Siedler
Angesichts des bevorstehenden Todes von Jassir Arafat herrscht in Israel große Anspannung. Zunächst aber platzte der Traum von Groß-Israel im israelischen Parlament an jenem Abend, als Premierminister Ariel Sharon eine klare Mehrheit für seinen einseitigen Rückzugsplan erhielt. Demnach werden bis Ende 2005 alle 21 jüdischen Siedlungen im Gazastreifen. Zum ersten Mal sollen jüdische Siedlungen im biblischen Land Israel evakuiert werden - und das nicht einmal im Tausch gegen ein Friedensabkommen.

Die Ironie der Geschichte und eine besonders bittere Pille für die Siedler ist, dass diese historische Entscheidung ausgerechnet von Sharon, dem "Vater der Siedlungen", kommt. Ohne die Stimmen der Opposition hätte Sharon keine Mehrheit für den einseitigen Rückzug gehabt. Denn fast die Hälfte der 40 Likud-Abgeordneten votierte dagegen, ebenso wie die vier Parlamentarier der Nationalreligiösen Partei, die noch der Koalition angehören. Sowohl die Arbeitspartei als auch die linke Yachad-Partei von Yossi Beilin, dem Initiator der Genfer Initiative, und die islamische Fraktion gewährten Sharon eine "jüdische Mehrheit" (die Siedler halten die arabischen Stimmen für ‚unkoscher').

Sharons Sternstunde war zugleich einer der Tiefpunkte in der Karriere des Ex-Premiers Benjamin Ne-tanjahu. Er war es, der im Kabinett für den Rückzug stimmte, nachdem er Sharon zu einer vierstufigen Räumung der Siedlungen gezwungen hatte. Aber einen Tag vor dem Votum im Parlament erhielt er die Ergebnisse einer neuen Umfrage, wonach eine große Mehrheit der Likud-Anhänger einem Rückzug nur nach einer Volksabstimmung zustimmen würden. Ohne ein Plebiszit wären sie gegen den Rückzug und für den Rücktritt Netanjahus aus der Regierung, falls diese die Räumung durchführt. "Bibi" rekrutierte drei weitere Likud-Minister sowie einige Parlamentarier und stellte kurz vor der Abstimmung Sharon ein Ultimatum: Entweder akzeptiere er eine Volksabstimmung, oder sie würden dagegen votieren und den Plan zum Scheitern bringen. Sharon sollte den Plenarsaal verlassen und mit ihnen im Flur vor den TV-Kameras feilschen.

Der dachte gar nicht daran. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und versuchte erfolgreich, seine große Aufregung zu verbergen. Bei der namentlichen Abstimmung fehlten Netanjahu, Bildungsministerin Limor Livnat, Gesundheitsminister Dani Nave, Landwirtschaftsminister Israel Katz und Juval Steinitz, Vorsitzender des Außen- und Sicherheitsausschusses des Parlaments. Das Drama in der Knesset erreichte seinen Höhepunkt. Das Wort von einem Putsch gegen Sharon machte die Runde.

Der 76-jährige Ex-General weigerte sich, mit den "Putschisten" überhaupt zu reden. Kurz zuvor hatte er wissen lassen, dass jeder Minister, der gegen ihn stimme, sofort entlassen werde. Nur kurz stand er auf, um seinen Fraktionskollegen Eli Aflalo zu begrüßen, der nach einer Operation im Rollstuhl und in ärztlicher Begleitung in den Plenarsaal kam, um seine Stimme für Sharon abzugeben.

In der Kantine appellierte währenddessen Oppositionsführer Shimon Peres an die arabischen Parteien, nicht gegen Sharon zu stimmen, weil sie so den Rück-zugsplan torpedieren würden. Das Letzte, was diese allerdings wollten, war Sharon unter die Arme zu greifen, aber eine Räumung von Siedlungen wollten sie keinesfalls verhindern. Erst als sie sich der Stimme enthielten und die Nationalreligiösen Sharon eine Frist von zwei Wochen gewährt hatten, bröckelte die Front der "Putschisten". Einer nach dem anderen betraten sie den Saal und stimmten mit versteinerten Mienen für Sharon - Netanjahu als letzter. Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses - 67 dafür, 45 dagegen, sieben Enthaltungen - pilgerten zahlreiche Parlamentarier zu Sharon und gratulierten ihm, während Bibi im Flur vor laufenden TV-Kameras erklärte, er wollte lediglich eine Spaltung des Volkes und der Partei verhindern und werde innerhalb von zwei Wochen sein Amt als Finanzminister niederlegen. Geglaubt hat ihm niemand.

Acht Tage später siegte Sharon erneut, diesmal bei der Abstimmung über die Entschädigung für die geräumten Siedler. Wieder gelang es ihm mit den Stimmen der Opposition und gegen die Likud-Rebellen, den Siedlern, die freiwillig gehen, großzügigen finanziellen Ausgleich zu gewähren. Die Abstimmung über den Jahresetat 2005 musste Sharon jedoch verschieben, weil die Arbeitspartei dem Haushalt nicht zustimmen wollte.

Freuen konnte sich Sharon hingegen über den Wahlsieg von George W. Bush, zu dem er ein wenig beigetragen hatte. Während seines letzten Besuchs in Washington im April fand Sharon keine Zeit für eine Begegnung mit John Kerry. Dass er Kerrys jüdischen Bruder im Sommer in Jerusalem traf, half dem Präsidentschaftskandidaten nur wenig. Sharon hat alles darauf gesetzt, seine Politik mit Bush zu koordinieren, und wurde belohnt: Sharon war ein angesehener Gast im Weißen Haus, welches Jassir Arafat stets versperrt blieb. Als erster amerikanischer Präsident äußerte Bush seine Zustimmung zu einer künftigen Annexion der großen Siedlungsblöcke durch Israel. In seiner Rede vom 14. April sagte Bush, dass in jedem Abkommen die veränderte "territoriale Wirklichkeit" berück-sichtigt werden müsse. Diese Formulierung wurde als Duldung der israelischen Siedlungsblöcke in der Westbank interpretiert. Gleichzeitig wiederholte er sein Bekenntnis zur Gründung eines lebensfähigen und territorial kontinuierlichen Palästinenserstaates. Ob dieses Ziel mit der praktischen Anerkennung der Siedlungen vereinbar ist, bleibt abzuwarten.

Sharon weiß, wie sehr Israel von den USA abhängig ist, vor allem in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und den internationalen Beziehungen. "Bush? Kerry?", schrieb ein israelischer Kommentator, "God bless America, und bei der Gelegenheit auch Israel." Und Amerika unter Bush wird sowohl Sharons Rückzugsplan als auch seine Terrorbekämpfung uneingeschränkt unterstützen, ihn mit keinerlei neuen Friedensinitiativen belasten. Washington wird den Rückzug der israelischen Truppen aus Gaza mitfinanzieren, vorausgesetzt, die Gaza-Siedler würden nicht in die Westbank ziehen. Zwar sagte Außenminister Colin Powell, dass Israel die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder mit dem Ziel aufnehmen solle, weitere Siedlungen in der Westbank zu räumen und ein Endabkommen zu unterzeichnen. Dies sei ein zentrales Ziel des Weißen Hauses, betonte er. Aber Powell wird dem neuen Bush-Kabinett wahrscheinlich nicht mehr angehören.

In diesen turbulenten Zeiten ist der israelische Premier nicht nur auf politische Freunde, sondern ironischerweise auch auf seinen Intimfeind aus der Zeit des Libanonkrieg 1982 angewiesen: Jassir Arafat. Sharon sagte sogar, es wäre besser, wenn Arafat damals in Beirut ums Leben gekommen wäre. Seit dreieinhalb Jahren sperrt er den 75-jährigen Palästinenserführer in seinem Hauptquartier in Ramallah ein, weil Arafat Terroranschläge indirekt unterstützte und Gewalt gegen Israelis mitfinanzierte. Gebetsmühlenartig erklären israelische Politiker seit Jahren Arafat für "irrelevant". Sharons Rückzugsplan gründet auf der Prämisse, dass Israel keinen legitimen palästinensischen Gesprächspartner habe.

Aber Arafat lebt noch, und die israelischen Medien spekulieren täglich, ob er Blut- oder Darmkrebs habe oder vielleicht Probleme im Verdauungstrakt. Nach dem Selbstmordanschlag am Carmel-Markt in Tel Aviv sagte Juval Steinitz, ein Doktor für Philosophie: "Arafat war, ist und wird für immer und ewig verantwortlich sein. Arafat stellte eine Realität des Terrors her, und auch wenn er sich nicht in der Region befindet, hat diese Realität eine Eigendynamik". General Jossi Kupferwasser vom militärischen Geheimdienst stellte im Parlament drei mögliche Szenarien im Zusammenhang mit Arafat vor: 1. Er kommt zurück und arbeitet weiter - nichts ändert sich in der Palästinenserbehörde. 2. Er ist krank und kehrt nicht zurück. In diesem Fall würden die Terrororganisationen ihre Waffen nicht niederlegen, ein Bürgerkrieg wäre aber ausgeschlossen. 3. Wenn er stirbt wird die alte Garde der Fatah gemeinsam mit der Interimsgeneration versuchen, die Regierung und Wirtschaft zu reformieren und die Sicherheitsorgane zu einigen. Radikale Gruppen, die die Reformen ablehnen, werden versuchen, den Terror zu verstärken. Die Pragmatiker um Abu Mazen werden hingegen versuchen zu zeigen, dass Israel einen Partner für Verhandlungen hat.

Mit dem eventuellen Tod Arafats wird auch das israelische Argument zu Grabe getragen werden, man habe keinen palästinensischen Gesprächspartner und müsse daher seine Grenzen einseitig bestimmen. "Mit dem Verschwinden Arafats würde ein Ende des Konflikts möglich", sagte der Leiter des militärischen Geheimdiensts, General Aharon Se'evi. Mit Arafats möglichen Nachfolgern, die den Terror immer ablehnten, allen voran dem ehemaligen Premierminister Mahmud Abbas (Abu Mazen), hat Sharon keinerlei Probleme. Außenminister Silvan Shalom fädelt bereits einen Kompromissvorschlag ein: Der einseitige Rückzug soll demnach verschoben werden, bis sich eine neue palästinensische Führung im Amt etabliert und die Kontrolle über den Gazastreifen vertraglich absichert. Eine derartige Einigung würde den Rücktritt Netanjahus und einen Machtkampf im Likud verhindern. Soll Israel daher rasch Verhandlungen mit der palästinensischen Führung mit dem Ziel aufnehmen, die Grenzen des künftigen Staates Palästina einschließlich der in Jerusalem festzulegen und das Flüchtlingsproblem zu lösen?

Dazu sieht Sharon wenig Anlass. Zum einen fordert er auf der Grundlage der "Road Map" eine Reform der Palästinenserbehörde (vor allem die Auflösung der zahlreichen Sicherheitsorgane) und eine aktive Bekämpfung des Terrors. Erst dann wird Israel Verhandlungen mit Arafats Nachfolger aufnehmen. Darüber hinaus kann Sharon davon ausgehen, dass Bush während der Vorbereitungen des einseitigen Rückzuges keine weiteren Forderungen stellen wird, zum Beispiel die Räumung der illegalen Vorposten in der Westbank. Amerikanischer Druck in Richtung weiterer Evakuierungen von Siedlungen, würde Sharon argumentieren, werde unweigerlich seine Regierung zu Fall bringen.

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