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Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Udo Scheer

"Ich dachte zum Schluss, dass ich schuld bin!"

Stasi-Traumata noch viele Jahre nach dem Mauerfall

Auch wenn die Auseinandersetzung mit der Geschichte der beiden deutschen Diktaturen inzwischen ganze Bibliotheken füllt, bleibt sie im gesellschaftlichen Bewusstsein doch weitgehend ausgespart. Ritualisiertes Gedenken im Wechsel der Jahrestage, spektakuläre Enthüllungen, mitunter kurze Betroffenheit genügen, doch bald steht wieder anderes auf der Tagesordnung.

Schon deshalb kommt dem Buch "Das späte Gift" über eines der abgründigsten Kapitel nachwirkender DDR-Diktatur doppelte Berechtigung zu. Der Sozialpsychologe Stefan Trobisch-Lütge dokumentiert darin nicht nur die seelische Schädigung und die nachwirkende Traumatisierung von Opfern der SED-Repression, sondern auch die Therapien erschwerende Isolation Betroffener in der Gegenwart.

Der Autor berichtet, was Menschen, die Bespitzelung, Verfolgung, Haft und Psychoterror durchlebt haben, heute empfinden: "Fast alle Betroffenen, mit denen wir sprachen, haben die Wiedervereinigung vor allem als Vereinigung mit den Tätern erlebt." Die paralysierende Drohung ihrer einstigen Vernehmer - "Uns wirst Du niemals los" - finden sie bestätigt in sehr genau registrierter Täterfaszination der Gesellschaft, in den Täter-Memoiren auf Bestsellerlisten und Rentenerhöhung für ehemalige Stasi-Mitarbeiter.

Das Buch zeigt, wie seelische Verletzungen neu aufbrechen, besonders wenn die erhoffte Anerkennung eigenen Leids durch die Öffentlichkeit und im persönlichem Umfeld ausbleiben. Wenn dazu die behördliche Bewilligung einer Frührente bedingt: "Ich darf nicht gesund werden, um meinen Versorgungsanspruch nicht zu verlieren", dann muss dies Betroffenen völlig irrwitzig erscheinen. Vielfach, so belegt Trobisch-Lütge, münden derartige Gegenwartserfahrungen in Resignation, Selbstisolation, in nach innen gerichteten Aggressionen, in Beziehungsstörungen und in Suchtgefährdungen.

Ein Häftling: erinnert sich: "Ich wurde bis zum Äußersten drangsaliert. Immer musste man damit rechnen, dass wieder etwas passiert. Ich hatte zu niemandem außer zu meinen Vernehmern Kontakt. Wenn ich aus der Einzelzelle geführt wurde, ging das rote Licht an, um zu verhindern, dass ich andere Häftlinge zu sehen bekam. Irgendwann war mir alles egal. Als ich hörte, ich kriege zwei Jahre, war ich richtig erleichtert. Ich dachte zum Schluss, dass ich schuld bin. Ich muss etwas Verbotenes getan haben."

Während Oppositionellen meist bewusst war, dass ihre Aktionen zu Bespitzelung, Diskriminierung, Berufsverbot und Verhaftung führen konnten, so waren die eigentlichen Opfer vor allem jene, die scheinbar zufällig, etwa wegen sogenanntem "asozialen Verhalten", in die Fänge der Staatssicherheit gerieten. Nicht zu wissen, warum einem das Leben zerstört wurde, führte vielfach zu massivsten Traumatisierungen.

In mehreren Beispielen aus seiner Therapiepraxis belegt der Autor das perfide Vorgehen psychologisch geschulter MfS-Vernehmer, mit dem sie gezielt Reue, Minderwertigkeitsgefühle, Selbsthass bei den ihnen ausgelieferten U-Häftlingen hervorriefen. So gelang es einem Vernehmer, nach dem Suizid der Mutter eines Inhaftierten in ihm massive Schuldgefühle zu wecken: Er habe ihr mit seiner Inhaftierung so viel Schande bereitet, dass sie keinen anderen Ausweg sah

Vor allem der Sozialpsychologe, Bürgerrechtler und Schriftsteller Jürgen Fuchs setzte sich im Wissen um die besondere Situation politisch Traumatisierter vehement für den Aufbau einer Beratungsstelle für Verfolgte des DDR-Regimes ein. Stefan Trobisch-Lütge war von Anfang an dabei. Hier fasst er seine inzwischen zehnjährigen psychotherapeutischen Erfahrungen zusammen. Dieser Teil seiner Arbeit versteht sich vor allem als Sachbuch für Therapeuten, Mitarbeiter von Opferverbänden und Sozialbehörden, aber auch für Angehörige und Betroffene. Zugleich erhält der Leser durch zahlreiche Fallbeispiele einen Einblick in die öffentlich bislang kaum wahrgenommenen Spätfolgen von Diktatur und Repression.

Für die therapeutische Arbeit werden zunächst die Tücken für Helfer aufgezeigt, die sich aus den Erwartungshaltungen und Verhaltensmustern politisch Traumatisierter ergeben können. Der Autor macht deutlich, wie schmal der Grat zwischen aufzubauendem Vertrauen und unkritischem Solidarisieren ist, wie leicht sich Forderungshaltungen oder Abwehrreaktionen in den Betroffenen so verstärken, dass eine Therapie unmöglich wird. Nicht selten, so die Erfahrung des Autors, suchen stark Traumatisierte unterschwellig die Bestätigung: Keiner kann mir helfen. Aus dieser besonderen Problemlage heraus entwickelt der Autor für Fachkollegen ein mehrstufiges Therapiekonzept.

Das Buch führt eindringlich vor Augen, dass fast 15 Jahre nach dem Ende der DDR der "Kampf um die Seelen" längst nicht beendet ist.

Stefan Trobisch-Lütge

Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung.

Psychosozial-Verlag, Gießen 2004;

171 S., 19,90 Euro

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