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Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Ursula Homann

Der alltägliche Antisemitismus

Wolfgang Benz zu brisanten Fragen

Wer hat dies nicht schon erlebt? Man befindet sich in einer bunt gemischten Runde, die Gespräche plätschern dahin, und plötzlich macht jemand eine flapsig abfällige Bemerkung über Juden oder Israel. Wird der oder die Betreffende daraufhin angesprochen, heißt es oft, eigentlich habe man nichts gegen Juden, aber man werde doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen.

Dabei handelt es sich durchweg nicht um einen plumpen, offenkundigen Antisemitismus, wie er in rechtsextremistischen Hetzparolen zum Ausdruck kommt, sondern um jene häufig anzutreffende Haltung, die jede Judenfeindschaft empört von sich weist und dabei zugleich geprägt ist von antisemitischen Stereotypen, Klischees und Geschichtsklitterungen.

Was aber hat es mit diesem ganz alltäglichen Antisemitismus auf sich? Wie kann man seine Ursachen und Wirkungen erkennen? Antworten auf diese Fragen findet man in der neuen Studie von Wolfgang Benz, der als Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung wie kaum ein anderer dazu berufen ist, sich über das hochexplosive Thema zu äußern, das immer noch aktuell ist, - nicht nur wegen der Skandale, die mit den Namen Möllemann und Hohmann verbunden sind.

Latenter Antisemitismus, gepflegt als stiller Vorbehalt, als gerauntes Vorurteil und als Feindbild in schweigendem Einvernehmen, ist laut Benz ein Alltagsphänomen, dessen Dimensionen mit Meinungsumfragen ausgelotet werden, das sich aber der Wahrnehmung im einzelnen eher entzieht. Oftmals wird bei antisemitischen Vorfällen ein bestimmter Mechanismus in Gang gesetzt: Auf die Entgleisung folgt Empörung, dann kommt es zu Solidaritätsbekundungen durch Parteifreunde und gute Bekannte. Hoch angesehene und als korrekt eingestufte Personen geben sich uneinsichtig, fühlen sich moralisch in ihrem Selbstwertgefühl bedroht und versuchen, sich zu rechtfertigen, was wiederum schnell in Schuldzuweisungen an Juden ausarten kann.

Benz analysiert nicht nur spektakuläre Entgleisungen von Politikern, Medienleuten und Schriftstellern; er nimmt auch die zahlreichen Briefe, die in den letzten Jahren beim Zentralrat der Juden in Deutschland eingegangen sind, kritisch unter die Lupe. Diese Briefe zeigen tief verwurzelte Ressentiments, die meistens in einem aggressiven Ton vorgebracht werden und die in ihrer Gesamtheit ein nicht gerade positives Bild vom geistigen Zustand unserer Gesellschaft vermitteln.

Benz erläutert genau und umfassend, was alles zum Wesen des Antisemitismus gehört. Er unterscheidet dabei vier Grundarten: den christlichen Antijudaismus, den Rassenantisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstand und im Holocaust mündete, den sekundären Antisemitismus, der sich aus Gefühlen der Scham und der Schuldabwehr speist - nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, und den Antizionismus.

Man dürfe, mahnt der Autor, Judenfeindschaft weder dramatisieren noch schön reden oder bagatellisieren. Dieses Phänomen in all seinen Ausprägungen entziehe sich zwar jeder rationalen Diskussion und sei weitgehend resistent gegenüber Aufklärung. Aber das sei kein Grund zur Resignation. Vielmehr müsse man sich um Prävention und Prophylaxe bemühen.

Zudem seien nicht nur antisemitische Handlungen, sondern auch antisemitisches Denken und Reden zu bekämpfen. Vor allem sollten sich Nicht-Juden klar machen, dass die jahrhundertelange Erfahrung von Feindseligkeit und Hass die Juden wachsam und miss-trauisch gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung gemacht hat.

Benz zeigt auch, wo Israelkritik in Judenfeindschaft übergeht, nämlich immer dann, wenn mit stereotypen antijüdischen Vorstellungen hantiert wird. Ferner nimmt er Parlamentsdebatten über Antisemitismus aufs Korn, die nicht selten vor fast leeren Rängen stattfinden, und tadelt jene, die wissenschaftliche Erkenntnisse über Judenfeindschaft missachten, wie es etwa der ehemalige Bundeskanzler Kohl getan hat, als er die Studie des renommierten Antisemitismusforschers Alphons Silbermann über die Verbreitung judenfeindlicher Ressentiments "absurd" nannte.

Eloquent und engagiert trägt er Ansichten und Analysen vor. Der vielseitigen und materialreichen Studie, aus der man interessante und brisante Einzelheiten erfährt und die manche Fragen klären hilft, wünscht man viele aufmerksame Leser.

Wolfgang Benz

Was ist Antisemitismus?

Verlag C.H.Beck, München 2004; 256 S., 14,90 Euro

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