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Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Klaus Hurrelmann

Gesund bin ich, solange ich funktioniere

Der Körper ist ein Arbeitsinstrument
In allen westlichen Gesellschaften leben heute Frauen sieben Jahre länger als Männer. Die Unterschiede der Lebenserwartung der beiden Geschlechter sind in den vergangenen beiden Jahrhunderten immer stärker geworden. Um 1900 betrug der Abstand der Lebenserwartung nur drei Jahre. Männer wurden im Durchschnitt 45, Frauen 48 Jahre alt. Heute beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt für eine Frau schon fast 81 Jahre, für einen Mann 74. Wie kommen diese Unterschiede zustande? Sie bauen sich schrittweise über den gesamten Lebenslauf auf.

Schon bei der Geburt ist die Sterblichkeit von männlichen Säuglingen höher als die von weiblichen. In den anschließenden Lebensjahren, vor allem nach der Pubertät, sind erheblich mehr männliche Kinder von Unfällen betroffen als weibliche. Über den ganzen weiteren Lebenslauf hinweg ist die Unfallhäufigkeit der Männer größer als die der Frauen. Das gilt auch für das Risikoverhalten allgemein. Männer ernähren sich schlechter, treiben weniger Sport und konsumieren mehr Drogen. Sie betreiben Raubbau mit ihrem Körper. Auch die Selbsttötungsrate ist bei ihnen höher, und zwar vom Jugendalter an bis in die Seniorenzeit.

Dieses ist noch nicht das gesamte Bild, denn Män-ner sind über den ganzen Lebenslauf hinweg, mit Aus-nahme vielleicht des ersten Lebensjahrzehnts, stärker als die Frauen durch Krankheiten belastet, die zum Tode führen. Sie sind bei den wichtigsten Todesursachen in allen Fällen stärker betroffen als Frauen. Das gilt besonders bei Herzkrankheiten, Krebs, Hirnschlag, AIDS, Lungenkrankheiten und Diabetes. Und zu allem Überfluss meiden Männer auch medizinische und psychologische Hilfeleistungen. Vom Jugendalter an suchen sie erst bei ganz akuten Beschwerden einen Arzt auf. Frauen hingegen fühlen sich viel früher und viel häufiger krank und holen sich ärztliche oder andere professionelle Hilfe, übrigens auch persönliche Unterstützung im Freundes- und Familienkreis. Männer sträuben sich geradezu davor, frühzeitig Hilfe anzurufen. Sie neigen zum Verdrängen von Belastungen im körperlichen und psychischen Bereich, was zu einem Aufschaukeln von Krankheitssymptomen und schließlich dann eben zu einer höheren Sterblichkeit führen kann.

Während Männer Beeinträchtigungen und Be-schwerden am liebsten aus dem Bewusstsein verbannen wollen, sind Frauen geneigt, auch schon kleine Störungen als aussagekräftige Hinweise auf eine beeinträchtigte Gesundheit zu werden. Frauen sind kritischer und unzufriedener mit ihrem Gesundheitszustand als Männer, sie haben die größere Sensibilität und Empfindlichkeit, die oft sogar bis zur Überempfindlichkeit gehen kann.

Die kürzere Lebenserwartung der Männer hängt also ganz eindeutig mit ihrem Gesundheitsverhalten und ihrem gesamten Lebensstil zusammen. Gesundheit ist nach dem Verständnis der modernen interdisziplinären Forschung die ständige, im Lebenslauf immer erneut vorzunehmende Balance zwischen den Risiko- und den Schutzfaktoren im körperlichen und psychischen Bereich, aber auch in der sozialen und physischen Umwelt. Männer und Frauen sind dann gesund, wenn sie im Einklang mit ihrem Körper, ihrer Psyche und ihrer Umwelt leben, wenn sie Innen- und Außenanforderungen bewältigen und ihre Lebensgestaltung an die verschiedenen Anforderungen des Lebensumfeldes anpassen können.

Hier gehen die Männer im Vergleich zu Frauen ganz offensichtlich erheblich mehr Risiken ein, die ihre Gesundheits-Krankheits-Balance gefährden. Sie haben teilweise ein rücksichtsloses Verhalten ihrem Körper gegenüber. Das zeigt sich schon im Jugendalter, in dem sich die geschlechtstypischen Ziele des körperbezogenen Verhaltens deutlich herausbilden. Der Umgang mit dem eigenen Körper ist immer auch ein Ausdruck von Männlichkeit oder Weiblichkeit. Viele Männer betrachten ihren Körper funktional, als eine Art Leistungsmaschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn sie völlig aus dem Takt geraten ist. Sie betrachten ihren Körper häufig als einen inneren Gegner, der kämpft und besiegt werden muss, um übergeordnete, insbesondere auch berufliche Ziele zu erreichen. Gesundheit wird in diesem Sinne als Leistungsfähigkeit verstanden, mit dem Körper und Psyche der (be-ruflichen) Arbeit unterzuordnen sind. Ein solches instrumentelles Verhältnis zum Körper prägt sich im gesamten Gesundheitsverhalten aus. Viele Männer reagieren auf gesundheitliche Störungen erst dann, wenn ihre Arbeitsfähigkeit ernsthaft beeinträchtigt ist. Sie glauben, dass Disziplin und Arbeit für sich genommen eigentlich gesundheitsfördernd wirken. Sie suchen meist dann einen Arzt auf, wenn die Krankheit sich schon in einem fortgeschrittenen Stadium befindet. Hier schimmert das alte Muster durch, das immer noch in Erziehung und Sozialisation vorherrscht: Ein Mann ist Indianer, und ein Indianer kennt keinen Schmerz. Entsprechend sind Anspannungen und Belastungen im körperlichen und psychischen Bereich heroisch zu ertragen. Wenn Jungen vor Schmerzen weinen, dann riskieren sie ihren Platz in der männlichen Hierarchie. Frauen werden hingegen schon im Jugendalter dazu angehalten, mit ihrem Körper pfleglich und sorgsam umzugehen. Durch die monatliche Regelblutung werden sie immer wieder an ihren Körper erinnert und dadurch mehr oder weniger gezwungen, im Einklang mit ihren physiologischen Möglichkeiten zu leben. Sie sind es gewohnt, sich auf ihren Körper einzustellen und Rücksicht zu nehmen.

Die Muster von Erziehung und Sozialisation stützen sich auf traditionelle gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Männer gelten in unserer Gesellschaft als das starke Geschlecht, und das heißt, sie werden als leistungsfähig und machtvoll und damit auch automatisch als gesund wahrgenommen.

Der Preis für diese Wahrnehmung ist: Männer dürfen nicht krank werden. Zugespitzt lässt sich deswegen sagen, dass die soziale Rollenvorstellung von Mann und Männlichkeit in unserer Kultur per se einen Risikofaktor für die Gesundheit darstellt. Denn die traditionellen Rollenmuster bekräftigen Männer darin, über erste Krankheitssymptome hinwegzusehen und sie mit Entschiedenheit zu ignorieren.

Männer halten ihren Körper für einen Besitz, mit dem sie wuchern können. Sie sind verärgert, wenn ihr Körper nicht funktioniert, sie sind bereit, den Körper zu trainieren, wenn sie sich davon soziale Vorteile versprechen, aber sie nehmen ihren Körper eigentlich als Bestandteil ihres Wesens voll wahr. Am Ende des Lebens summiert sich diese Kombination aus Verdrängung und Ignoranz zu der höheren Todesrate.

Forschungen an männlichen und weiblichen Ju-gendlichen, die die Universität Bielefeld seit einigen Jahren durchführt, zeigen: Die Differenz der Geschlechter, auch und gerade ihre gesundheitlichen Unterschiede, sind nicht genetisch programmiert und festgeschrieben. Biologische Faktoren legen das Geschlecht nur auf einer spezifischen Ebene fest, ermöglichen aber erhebliche Einflüsse durch Eigenaktivität und Umweltimpulse. Weiblichkeit und Männlichkeit werden gelebt und gewissermaßen auch individuell hergestellt, in dem ein Mann oder eine Frau mit der physiologischen Ausstattung, der körperlichen Konstitution, dem angelegten Temperament und den psychischen Grundstrukturen individuell arbeitet und diese mit der sozialen und physischen Umwelt in eine Einheit bringt. Die jeweilige individuelle Ausgestaltung dieses Wechselverhältnisses ist es, welche die Persönlichkeit definiert und die Gesundheitsdynamik bestimmt. In diese Dynamik gehen die Kerndimensionen von Männlichkeit und Weiblichkeit ein, die nun einmal angelegt und angeboren sind - durch kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben jedoch, insbesondere die Vorstellungen vom Mannsein und vom Frausein, werden die inneren Erfahrungen und Körper und Psyche sehr stark beeinflusst.

Männergesundheit ebenso Frauengesundheit kann deswegen nicht allein durch genetische oder körperbezogene Faktoren erklärt werden. Vielmehr gehen die gesellschaftlich geprägten Rollenmuster der beiden Geschlechter voll ein. Die Fixierung der Männer auf die Berufsrolle, die in unserem Kulturkreis spätestens seit der Industrialisierung vorherrscht, unterstreicht die instrumentalistische Haltung dem eigenen Körper und der Gesundheitspflege gegenüber, die Männer an den Tag legen. Demgegenüber ist die Doppel- und Dreifachbelastung durch Beruf, Haushalt und Kindererziehung, die immer typischer für Frauen wird, nicht nur allein von Nachteil. Die Mehrfachbelastung scheint auch Mehrfachgestaltungsmöglichkeiten mit entsprechender Flexibilität der Lebensführung mit sich zu bringen. Frauen sind nicht wie Männer auf eine Berufsrolle fixiert, sondern können auch Erfahrungen und Erfolge durch einen Wechsel ihres Lebensmittelpunktes erzielen. Sie können vorübergehend die Berufsrolle verlassen, um die Mutterrolle zu übernehmen, ohne dabei in irgendeiner Form gesellschaftlich geächtet zu werden. Demgegenüber sind Männer einzig und allein darauf angewiesen, Erfolg im Beruf nachweisen zu können und damit die gesellschaftlich erwartete Position zu erfüllen und die finanzielle Absicherung einer Familie zu gewährleisten. Männer kannten Macht und Einfluss, Anerkennung und Aufmerksamkeit, zugleich aber sind sie in der modernen Konkurrenzgesellschaft auf Gedeih und Verderb auf Erfolg angewiesen. Die traditionellen drei "K" der Frau waren Kinder, Küche und Kirche, heute ist als viertes "K" die Karriere hinzugekommen. Die drei "K" des Mannes sind, spöttisch gesprochen, Konkurrenz, Karriere und Kollaps. Ein Scheitern im Beruf ist für einen Mann auch ein Scheitern im Leben, weil es wenige Ausweichfelder für die Selbstbetätigung und die Selbstbestätigung gibt. Die Beeinträchtigung der Männergesundheit ist also soziologisch gesehen ein gesellschaftlicher Konstruktionsfehler. Erst wenn Männer vom Familienleben, vom häuslichen Kontext und von der Kindererziehung nicht mehr ausgeschlossen werden und sich der breit gefächerten Anforderung von Berufs- und Privatbereich, von Haushalt und Kinderhaben stellen, können sie ihre Gesundheitsbilanz verbessern.

Klaus Hurrelmann ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.

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