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Jeannette Goddar
Sie suchen auf Antworten, die sich ihr Leben lang
gestellt haben
Senioren drücken Unibänke, meist zum
illustren Zeitvertreib
"Unverständlich sind uns die Jungen"
Wird von den Alten beständig gesungen;
Meinerseits möcht ich's damit halten:
"Unverständlich sind mir die Alten.
Dieses am Ruder bleiben Wollen
In allen Stücken und allen Rollen."
Am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Berliner
Humboldt-Universität hat Theodor Fontane Einzug gehalten. Der
Privatdozent Gerd Diet-rich steht vor einem bis auf den letzten
Platz gefüllten Hörsaal und beginnt seine Vorlesung mit
einem Gedicht. Schon der "alte Fontane", sagt Dietrich, habe sich
mit dem "ewigen Spiel der Generationen" - und auch mit dem
"ängstlichen Klammern der Alten" - beschäftigt. Wie
Schleiermacher, der große Pädagoge und Theologe
übrigens, und auch Rousseau. In der folgenden Stunde
hören die Geschichts-Studenten viel darüber, wie der
Generationenbegriff in den akademischen, politischen und
alltäglichen Diskurs eingezogen ist. Was ist eigentlich eine
Generation? Und wie geht ein Wechsel von der einen zur anderen
vonstatten? Friedrich Schleiermacher stellte sich das im 19.
Jahrhundert noch als eine Art Staffelstab-Übergabe zu einem
gleichsam naturgegebenen richtigen Zeitpunkt vor. Der Pädagoge
und Theologe war voller Vertrauen in die Weitergabe bildnerischer
und erzieherischer Informationen von einer Generation zur
nächsten: Mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen sorgten die
Älteren dafür, dass auch die Jüngeren tüchtig
und lebensfähig würden. Wenn das geglückt sei,
könnten sie sich beruhigt zurückziehen.
Aber Halt - stimmt das denn heute noch? Ist die ältere
Generation tatsächlich noch die Vermittelnde, die Jüngere
die Empfangende? Nein, nein, sagt Dietrich, inzwischen sind die
Älteren nicht selten die "pädagogisch jüngere"
Generation, die jüngere die ältere. In Mediennutzung und
Technologie sowieso. Aber auch das lebenslange Lernen hat dazu
geführt, dass die Grenzen zwischen den Generationen
fließend geworden sind. Die Jungen lernen immer länger -
und die Alten hören nicht auf. Weil auch Erwachsene in der
heutigen Zeit immer weiter lernen müssen. Oder: weil sie es
einfach wollen. Auch der Historiker Dietrich liest vor
Studierenden, die zehn oder 20 Jahre älter sind als er.
Sie heißen Seniorenstudenten und haben ihre Berufsphase
hinter sich. Früher konnten sie nicht zur Universität
gehen, weil ihnen die Zeit, das Geld oder auch das Abitur fehlten.
Oder sie nahmen ein Studium auf, das ihre Eltern für das
Richtige für ihre Sprösslinge hielten. Nach einem
absolvierten Arbeitsleben setzen sie sich ohne jeden
Verwertungszwang noch einmal in die Alma Mater. Das
Bundesbildungsministerium schätzt, dass rund 25.000 Menschen
über 55 Jahren an deutschen Universitäten eingeschrieben
sind. Unter ihnen sind mehr Frauen als Männer; und die meisten
sind zwischen 65 und 70. Außerdem eint sie, dass sie sich bis
auf wenige Ausnahmen an den Universitäten den
schöngeistigen Künsten widmen. In aller Regel wollen die
Spätstudierenden weder Maschinenbauer noch Mediziner werden;
meist nicht einmal Magister. Drei von vier Senioren studieren ohne
Ambitionen auf einen Abschluss. Und neun von zehn tummeln sich in
Fächern, die früher wie heute nicht gerade als
Stätten der berufspraktischen Bildung galten: Geschichte,
Germanistik, Kunstgeschichte oder Philosophie zum Beispiel. Fragt
man sie, warum, erklären sie, nach einem langen Arbeitsleben
sei es doch wohl ihr gutes Recht, sich einfach nur der geistigen
Erbauung zu widmen. Sie habe sich ihr Leben lang mit Paragrafen
beschäftigt, sagt die 64-jährige Mechthild Schulze, die
bis vor vier Jahren Richterin an einem kleinen Amtsgericht im
Niedersächsischen war. "Jetzt suche ich Antworten auf all die
Fragen, die ich mir bei all meinen Reisen gestellt habe: Wie war
das Leben in Karthago und Knossos, im Römischen Reich, bei den
Germanen?"
Als Mechthild Schulze in ihre erste Vorlesung marschierte,
ereilte aber auch die Seniorin der Schock der Erstsemester. Der
Hörsaal war völlig überfüllt; überall
hockten Studenten und Studentinnen auf Jacken und Taschen. Statt
einer Einführung in Alte Geschichte bekam sie eine in
inneruniversitärem Wettbewerbsverhalten. Seither hat sie das
akademische Viertel, das bedeutet, dass universitäre
Veranstaltungen immer erst 15 Minuten nach der vollen Stunde
beginnen, schlicht umgedreht: Statt um viertel nach erscheint sie
um viertel vor und sichert sich ihren Platz. Zeit hat sie
schließlich.
Dass fast alle Senioren das so machen, führt an deutschen
Universitäten aber auch zu Konflikten. Zeit haben nämlich
alle wissbegierigen Hobbyakademiker - und die Jungen haben sie oft
nicht. "Da kommt man in den Saal gehetzt, und der halbe Saal ist
mit Grauhaarigen belegt", mosert Katherina Tuckermann, 22.
Natürlich störe es sie nicht, wenn Leute, die drei mal so
alt seien wie sie, etwas lernen wollten. Aber: Menschen wie sie
seien doch darauf angewiesen, aus ihren Jahren an der
Universität möglichst viel herauszuholen. Angesichts der
ständig steigenden Anforderungen an die junge Generation mute
es schon etwas seltsam an, wenn Senioren von Semester zu Semester
mehr Raum und Zeit beanspruchten. "Aber manche sitzen wirklich
stundenlang im Seminar und erzählen irgendwelche Geschichten,
die keinen interessieren", sagt Tuckermann.
Senioren und Junioren bunt mischen
Vielleicht wäre es ein Wunder, wenn das gemeinsame Lernen
von 20-Jährigen auf dem Weg in eine unsichere Zukunft mit
60-Jährigen auf dem Weg zum Hobbyhistoriker ohne Probleme
verliefe. Per definitionem aber gehören beide Zielgruppen in
die Hörsäle. Laut Hochschulrahmengesetz dienen
Universitäten "der Pflege und Entwicklung der Wissenschaften
und der Künste durch Forschung, Lehre und Weiterbildung". Die
meisten Hochschulen stellen sich dieser Herausforderung, indem sie
Junioren und Senioren bunt mischen. 50 Universitäten in
Deutschland nehmen Seniorenstudenten auf; Bayern ist das einzige
Bundesland, das dafür das Abitur voraussetzt. Gegen eine
Semestergebühr von 15 bis 100 Euro bieten sie meist einige
spezielle - beziehungsweise allgemein verständliche -
Veranstaltungen für Senioren an; darüber hinaus lassen
sie die Teilnahme an Vorlesungen und Kolloquien zu. Etwa die
Hälfte der Pensionäre beschränkt sich auf den
für sie bereit gestellten Sonderlehrbereich. Die andere
Hälfte teilt sich auf in jene, die ihr Gasthörerrecht
wahrnehmen und solche, die ordentlich studieren und genau wie ihre
potenziellen Enkel Referate halten und Hausarbeiten schreiben.
Letztere absolvieren allerdings kein Seniorenstudium, sondern sind
als ordentliche Studenten immatrikuliert. Anders als ihre
Altersgenossen müssen sie Prüfungen absolvieren und
Hausarbeiten schreiben und Referate halten. Das macht sie ihren
jugendlichen Kommilitonen zwar ähnlicher, kostet aber auch
Betreuungszeit der häufig ohnehin überlasteten Dozenten
und Professoren. Weil mehr Menschen eben mehr Arbeit machen, aber
auch, weil es vielen Senioren an wissenschaftlichen
Arbeitstechniken fehlt.
Der zunehmende Prüfungsdruck an den Universitäten
könnte gut auch das Seniorenstudium in seiner bisherigen Form
abschaffen. Bis 2010 müssen im Rahmen des Bologna-Prozesses
die Abschlüsse und Anforderungen vom Nordkap bis an den Ural
vergleichbar sein. Für deutsche Universitäten heißt
das vor allem: mehr Verschulung, mehr Leistungsnachweise, mehr
Berufs-praxis. Und weniger akademische Freiheit. Genau die aber
genießen die Seniorenstudierenden.
In anderen Ländern, in den USA zum Beispiel, ist das
Seniorenstudium längst anders organisiert. In Summer Schools
oder zusätzlichen Lehrgängen lernen dort die Älteren
von meist jüngeren - und damit nicht voll professoral
bezahlten - Dozenten. Auch dort also: Von Schleiermacher keine
Spur.
Jeannette Goddar ist freie Journalistin, schreibt unter anderem
für die "Frankfurter Rundschau" und die "taz" und lebt in
Berlin.
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