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Ralf Hanselle
Das Altern in der zweiten Heimat
Migranten und ihre Erinnerungen
Die Geschichten sind häufig gleich. Im Sommer sitzt Orhan
Aydin oft stundenlang vor den Stufen einer typischen Mietskaserne
in Berlin-Moabit und wartet. Ein- bis zweimal am Tag kommen
Bekannte vorbei. Menschen, die er aus der benachbarten Moschee
kennt, oder Gesichter, die er manchmal beim Einkaufen trifft. Man
tauscht Höflichkeiten aus. Manchmal erzählt man
Geschichten. "Es ist immer das Gleiche", sagt sein Sohn Faruk. Es
geht um die Kinder, die ersten Alterszipperlein, das Wetter. Er
könne das schon nicht mehr hören.
Faruk ist 26 und schreibt gerade sein erstes juristisches
Staatsexamen. Eigentlich wollte er nach dem Grundstudium Berlin
verlassen. Er ist geblieben. Des Vaters wegen. "Mit wem soll der
alte Mann denn sonst reden?", fragt Faruk. Die meisten Menschen
verstehen ihn hier nicht. Orhan Aydin lebt allein. Seine Frau ist
vor drei Jahren gestorben. Krebs. Jetzt gibt es nur noch den Sohn.
Auf den, so sagt Orhan Aydin immer wieder, sei er ungemein stolz.
Er selbst ist vor über 30 Jahren als so genannter Gastarbeiter
aus der Türkei in die Bundesrepublik gekommen. Er hat
geschuftet, unermüdlich. Erst im Bergbau in der Nähe von
Essen. Später, als die Jobs im Revier knapp wurden, ist er mit
seiner Familie nach Berlin gezogen. Sein Sohn, das weiß er,
wird es einmal besser haben.
Wie Orhan Aydin geht es vielen. Auf den ersten Blick ist das
nicht mehr als eine typische Geschichte aus einem deutschen
Kleinbürgermilieu, allerdings ohne dass er besonders gut
deutsch spricht. Als er vor Jahren in seine zweite Heimat kam, hat
man ihm in der Fabrik lediglich ein kleines Wörterbuch in die
Hand gedrückt. In diesem war nicht mehr als der
Grundwortschatz für die notdürftige Verständigung am
Arbeitsplatz: "Förderschacht", "Flöz", "Mein Name ist".
Jetzt, wo er im Ruhestand ist, fehlt es ihm am Willen, an seinen
Sprachlücken noch etwas zu ändern.
Eine halbe Million einstiger Arbeitsemigranten aus
Südeuropa und der Türkei sind mittlerweile über 60
Jahre alt. Bis zum Jahr 2010 wird sich ihre Zahl verdoppeln. Hatte
man sie viele Jahre lediglich als willkommene Arbeitskräfte
für die Lösung eigener ökonomischer Probleme
gesehen, so dämmerte den politisch Handelnden später,
dass mit den Arbeitskräften Menschen kamen. Menschen wie Orhan
Aydin - mit sozialen Bedürfnissen, privaten Geschichten,
menschlichen Schwierigkeiten.
Anfangs war das Problem der alternden Migranten nicht wirklich
ersichtlich. Viele, die kamen, wollten in Deutschland lediglich
Geld verdienen und später in die Heimatländer
zurückkehren. Über die Jahre aber hatten sie begonnen,
eine zweite Heimatidentität in der Bundesrepublik zu
entwickeln. Bereits 1986 gaben laut einer Umfrage des Zentrums
für Türkeistudien 61,5 Prozent der Türken an, nicht
mehr in das Herkunftsland zurück zu wollen. Sechs Jahre
später stieg ihre Zahl auf 83 Prozent. Ein Trend, der sich
auch in den Folgejahren weiter verfestigte.
Seit 2001 indes nimmt die Zahl der Rückkehrwilligen wieder
zu. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil man sich in Deutschland
lange Jahre keinerlei Gedanken über Integration und
menschliche Fürsorge gemacht hatte. Dass die
Arbeitskräfte von einst eines Tages altern und somit keinen
direkten ökonomischen Mehrwert mehr schaffen könnten, lag
außerhalb gängiger Vorstellungen.
Gerade für die in Deutschland lebenden Türken, die in
dieser Gesellschaft alt geworden sind, bieten sich letztlich wenig
Möglichkeiten, einen ihrer Kultur und ihren individuellen
Bedürfnissen entsprechenden Lebensabend zu verbringen. Was die
Aufnahmegesellschaft lange ignorierte, war unter den
Deutsch-Türken eine am Horizont sichtbare Herausforderung.
Bereits 1993 schrieb die Schriftstellerin Renan Demirkan - selbst
mit ihren Eltern einst aus Ankara nach Deutschland gekommen:
"Wirklich tragisch ist die Zerrissenheit und Verzweiflung meiner
Eltern-Generation. Sie weiß nicht, wo sie sterben soll. Sie
ist hier immer noch in einer geduldeten Situation, immer noch der
Kassenzettel, mittlerweile vergilbt, unbrauchbar. Seelisch
obdachlos."
In der Regel altern diese Menschen nicht anders als deutsche
Rentnerinnen und Rentner auch. Das Klischee vom starken
Familienverband innerhalb mediterraner Kulturen ist oft nicht mehr
als eben ein solches. Und so verbringen die einstigen
"Gastarbeiter" oftmals ihren Ruhestand unter vereinsamten und
unwirtlichen Bedingungen. Hinzu kommt, wie auch die Geschichte von
Orhan Aydin zeigt, eine immer noch vorhandene sprachliche
Barriere.
Eine kultursensible Altenpflege ist dennoch in weiten Teilen
nicht in Sicht. Vorreiter, wie das Duisburger Haus am Sandberg, in
dem man in der Trägerschaft des Roten Kreuzes versucht,
Muslime wie Nicht-Muslime in der Gestaltung eines würdigen
Lebensabend zu unterstützen, bleiben in Deutschland bis dato
die Ausnahme. In solchen Häusern versucht man, Rück-sicht
auf individuelle wie kulturelle Besonderheiten zu nehmen. Und die
reichen von der Einhaltung der islamischen Speisevorschriften, der
Pflege eigener Riten und Bräuche bis zur Möglichkeit, am
islamischen Freitagsgebet teilzunehmen. In Duisburg hat man die
Herausforderung ernst genommen. Es gibt einen Gebetsraum für
Muslime, Betreuung in türkischer Sprache und die Bereitschaft,
den oft fremdartigen Lebensgeschichten zuzuhören.
Noch macht sich Faruk Aydin wenig Gedanken darüber, was
einmal sein wird, wenn sein Vater auf fremde Pflege angewiesen sein
sollte. Noch funktioniert ein nie getroffenes Abkommen zwischen den
beiden Männern: Faruk wird in seiner Lebensplanung weiterhin
Rücksicht nehmen auf den Vater, wird in Berlin bleiben und
wird sich weiterhin die Zeit nehmen, um den längst bekannten
Geschichten des alten Mannes zu lauschen. Ein "normales" Altenheim?
Faruk schüttelt den Kopf. Dafür hat er seinem Vater zu
viel zu verdanken. Dafür ist er zu stolz auf dessen
Geschichte.
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