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Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Elisabeth Niejahr

Auf der Suche nach einem neuen Selbstbild

Deutschland kommt in die Jahre
Selten haben sich die Deutschen so für das Alter und die Alten interessiert wie in den vergangenen Monaten. Mit großer Wucht und großer Verspätung hat die Debatte über den demografischen Wandel die Volkshochschulen, Stiftungen, Talkshows und Parlamente erfasst. Gerade einmal fünf Jahre sind vergangen, seit die Jungunternehmer der New Economy gefeiert wurden, nun gilt das öffentliche Interesse der Generation Golfplatz statt der Generation Golf. Nie waren so viele grauhaarige Models auf Plakatwänden und in Werbespots zu sehen, die Bundesregierung bringt ein Gesetz gegen Altersdiskriminierung auf den Weg. Auf dem Arbeitsmarkt haben es die über 50-Jährigen nach wie vor extrem schwer, doch immerhin zeichnet sich in vielen Personalabteilungen langsam ein Umdenken ab.

Vor allem wächst das öffentliche Bewusstsein dafür, dass der Doppeltrend aus Alterung und Bevölkerungsrückgang in Zukunft viel mehr ändern wird als nur die Höhe der Renten: Wir werden anders wohnen, anders reisen, anders Auto fahren, anders arbeiten, anders lieben und anders essen, wenn Deutschland in die Jahre kommt. Schulen und Universitäten werden sich umstellen müssen und neue Angebote für Rentner und ältere Berufstätige erfinden müssen. Die Verteilungsdebatte, der Konflikt zwischen Arm und Reich, wird sich mit der neuen Generation von Erben verschieben. Die Unternehmen werden sich Strategien gegen einen Mangel an jüngeren Fachkräften und für die bessere Integration von Älteren überlegen müssen. Die Haltung zur Familie hat sich bereits spürbar verändert. Die ideologischen Fronten sind nicht mehr so starr wie früher: Konservative freunden sich mit der Idee von Ganztagsschulen und Fremdbetreuung an, und bei der politischen Linken steht die Kleinfamilie längst nicht mehr unter Verdacht, Hort von Spießigkeit zu sein.

Weil die Alterung der Gesellschaft so viele unterschiedliche Bereiche des Lebens betrifft, führte die Stadt Bielefeld kürzlich als erste deutsche Kommune eine Demografiebeauftragte ein. So schlagen sich die großen gesellschaftlichen Diskussionen in Institutionen nieder: In den 80er-Jahren brachte die Ökologiedebatte die Umweltbeauftragten hervor und der Feminismus die Frauenbeauftragten - jetzt sind die Demografiebeauftragten dran.

Gleichwohl sind Politik, Öffentlichkeit und auch die Alten selbst noch mitten in einem Lernprozess. Die Darstellung alter Menschen ist vielfach klischeehaft geblieben, auch wenn statt pflegebedürftiger alter Frauen nun eher braungebrannte sportliche Paare beim Segeln oder Fahrradfahren zu sehen sind. Und bis heute ist das Alter trotz aller öffentlichen Debatten auch ein Tabuthema geblieben: Nach dem Geburtsjahr von anderen fragt man nicht, beim eigenen Alter wird gern geschummelt. Vor allem machen viele der Älteren nicht nur anderen, sondern auch sich selbst etwas vor. Bei einer Umfrage im Auftrag von infratest dimap von über 50-Jährigen erklärten kürzlich 72 Prozent der Befragten, sie würden jünger aussehen, als sie sind. Was sich beim Einzelnen noch als Zeichen von Vitalität und Lebensfreude deuten ließe, ist bei der Mehrheit eher ein Indiz für kollektiven Realitätsverlust. Sich jünger zu fühlen, als die Jahre sagen -- das bedeutet nichts anderes als: Nein, so wie die anderen 60-Jährigen bin ich nicht. Alt sind immer nur die anderen.

Noch wird nach Rollenmodellen gesucht und beispielsweise über passende Kleidung oder ein angemessenes Auftreten diskutiert: Ist es peinlich oder sympathisch, wenn Eltern um die 50 mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter in die Disco wollen? Ist es nachahmenswert, dass ein über 60-jähriger Bundeskanzler noch ein kleines Mädchen adoptiert? Wie kurz müssen die Haare, wie kurz dürfen die Röcke einer 60-Jährigen sein? Es ist die Generation der 68er, die wieder einmal nach einem neuen Selbstbild sucht und erneut neue Lebensformen ausprobiert - zum Beispiel neue Wohnkonzepte, denn die herkömmlichen Alten- und Pflegeheime gelten nicht als attraktiv. Ausgerechnet die Generation, die in Studentenjahren das WG-Dasein als politisches Projekt verstand, sucht im Alter wieder nach Gemeinschaftsmodellen - diesmal, um nicht allein zu sein.

Lange ist in Deutschland viel zu wenig über Demografie geredet worden, momentan besteht die Gefahr eher darin, zu pauschal über das Alter und die Alten zu urteilen. Schon heute leben hierzulande mehr als 19 Millionen Rentner, was etwa der Einwohnerzahl von ganz Schweden, Norwegen und Dänemark entspricht. Gleichwohl haben wir uns an ein überraschend stereotypes Altenbild gewöhnt. Zunächst, bis Ende der 90er etwa, galten die Alten generell als arm. Gerhard Schröder machte noch 1998 Wahlkampf mit dem Verweis auf seine alte Mutter und ihre Minirente. In den folgenden Jahren sprach sich herum, dass junge Familien häufiger von Armut bedroht sind als alte Menschen. Ökonomen wie der Regierungsberater Bert Rürup rechneten regelmäßig vor, dass Altersarmut in Deutschland kein großes Problem sei - und die Formel "Alt gleich arm" längst nicht mehr stimme.

In Zukunft wird man lernen, stärker zwischen verschiedenen Gruppen von Alten zu unterscheiden. Noch sind wir gewohnt, die Jugend als Phase der Individualität zu verstehen. Die Alten hingegen betrachten wir oft als eher homogene Gruppe. Dabei sind gerade Jugendliche auf Konformität bedacht, oft wollen sie die gleiche Musik hören und die gleichen Hosen und Frisuren tragen wie ihre gleichaltrigen Freunde. Im Alter hingegen werden die Unterschiede größer, zumal inzwischen Angehörige verschiedener Generationen Renten beziehen. Die heute 90-Jährigen wurden durch ganz andere Erlebnisse geprägt als die Generation nach ihnen, die zwischen 60 und 70 ist.

Deshalb dürften sich auch alle Warnungen von einem bevorstehenden Generationenkrieg kaum erfüllen. Weder das Diktat der Wähler im Rentenalter noch die Macht der Jungen dürften die politischen Debatten der Zukunft bestimmen. Gerade weil es schon heute und erst Recht in Zukunft so viele Alte gibt, werden sie sich nur selten gemeinsam artikulieren. Die große Gruppe der Alten hat ungefähr so einheitliche Vorstellungen wie die Wählergruppe der Frauen, der Verbraucher oder der Autofahrer.

Zudem dürften die sozialen Unterschiede innerhalb der Generationen auf absehbare Zeit krasser bleiben als die Unterschiede zwischen den Generationen. Bisher sind vor allem in Ostdeutschland die Einkünfte der Rentner aufgrund der hohen Frauenerwerbsquote in der DDR recht einheitlich. Die Ostrentner von morgen werden jedoch Einheitsverlierer sein, denn das sind vielfach die Langzeitarbeitslosen von heute, die nur kleine Anwartschaften erwerben. In Westdeutschland hingegen rückt eine Generation mit mehr berufstätigen Frauen und steigenden Rentenansprüchen nach.

In Zukunft wird es nicht nur wachsende Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Rentnern geben. Auch andere Gegensätze werden ausgeprägter sein - Unterschiede zwischen Erben und Nichterben, Familien und Kinderlosen, Zuwanderern und Einheimischen. Auch die absehbaren Veränderungen im Gesundheitssystem werden die soziale Kluft zwischen den Alten von morgen vergrößern. Die kollektiven Systeme werden weniger Leistungen für alle finanzieren können, während gleichzeitig der Markt für Produkte, die alten Menschen Gesundheit und jugendliches Aussehen bescheren, größer wird. Nicht jeder wird sich diese Produkte leisten können - und das wird man den Menschen ansehen: An den Haaren, an der Haut, an den Zähnen.

Als größter Irrtum der Altersdebatte dürften sich deshalb Prognosen erweisen, wonach vor allem Alte und Junge gegeneinander kämpfen werden. Die Konfliktlinien der Zukunft werden andere sein, die Alterung wird bestehende soziale Konflikte härter und sichtbarer machen. Die Politiker werden dann die schwierige Aufgabe haben, gleichzeitig die wachsende Ungleichheit und unrealistische Gleichheitserwartungen ihrer Wähler einzudämmen.

Elisabeth Niejahr ist Redakteurin bei der "Zeit". Gerade ist bei S. Fischer ihr Buch "Alt sind nur die anderen" herausgekommen.

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