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Das Parlament
Nr. 49 / 29.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Birgit Johannsmeyer

Der große Drang nach Westen

Irland und England werben um lettische Arbeitskräfte

Auf dem Busbahnhof in Riga stehen die Leute samstags schon in aller Frühe nach ihren Tickets an. Die meisten haben nur ein kleines Handgepäck dabei, denn sie wollen bei ihren Verwandten auf dem Land für ein paar Stunden dem hektischen Leben in der lettischen Hauptstadt entfliehen. Umso mehr fallen jene Reisenden auf, die sich mit großen Koffern und riesigen Taschen am neuen Bussteig versammelt haben. "Ich fahre nach Irland, um zu arbeiten", sagt der 25-jährige Viktors. "Bei uns auf dem Land gibt es keine Jobs. In Dublin hoffe ich auf 525 Euro in der Woche, in Lettgallen könnte ich höchstens 150 Euro im Monat verdienen." Die 40-jährige Maja will nach London fahren. "Meine Freundin arbeitet dort in einer Fabrik und hat mich angerufen, weil es eine freie Stelle gibt. Es gibt bei uns auch Agenturen, die Arbeit vermitteln. Aber sie verlangten 1.200 Euro, wie soll ich das bezahlen?" Etwas günstiger vermittelt Karina Bozdniakowa lettische Arbeitssuchende ins Ausland. Die 23-Jährige ist nicht die einzige, die im Mai 2004 eine private Agentur eröffnet hat: Seitenweise füllen die Anzeigen mit Angeboten für ungelernte Arbeiter, Näherinnen, Tischler und Mechaniker die lettischen Tageszeitungen: Vor allem in England und Irland werden sie gesucht. Denn seit Lettland Mitglied in der Europäischen Union geworden ist, sind bürokratische Hürden gefallen, erklärt Karina Bozdniakowa: "Unsere Leute dürfen in England, Irland und Schweden ohne Arbeitserlaubnis einen Job annehmen. In allen anderen EU-Ländern ist das verboten." Das Interesse sei natürlich riesig, jeder wolle dahin, aber nicht jeder sei qualifiziert oder spreche englisch, erzählt die Maklerin. "Wir suchen zum Beispiel dringend Fahrer mit EU-tauglichen Zeugnissen und gutem Englisch, aber diese Leute haben auch hier gut-bezahlte Jobs und wollen nicht weg."

Roberts Klotins ist eine von den Ausnahmen, die ein hervorragendes Englisch sprechen. Als Assistenzarzt ist der 34-Jährige zudem hochqualifiziert. Nur leben kann er davon in Lettland nicht. Nach sechs Jahren Studium verdient der Psychiater 100 Euro im Monat, darum jobbt er nebenbei auch noch in einem Versandhaus. Doch jetzt hat Roberts Klotins einen Ausreiseantrag bei der lettischen Ärztekammer gestellt. "Ich möchte meine Assistenzzeit in Grossbritannien fortsetzen. Dort beträgt der Durchschittslohn 4.500 Euro im Monat, damit komme ich sogar in London aus. Ich muss nicht an andere Jobs denken, sondern kann mich auf meine medizinische Forschung konzentrieren."

Die Jobs im Ausland sind begehrt. Und Roberts Klotins weiss, dass mindestens 60 seiner Kollegen Lettland den Rücken kehren wollen. Darum ruft er in der Ärztekammer zum Kampf um Lohnerhöhungen auf. An der Debatte beteiligt sich auch der Vorsitzende Viesturs Boka. Er sorgt sich um die Existenz des lettischen Gesundheitswesens. "Wenn das Parlament die Gehälter um fünf bis zehn Prozent anhebt, dann sehen die jungen Ärzte, dass die Politik sie ernst nimmt, und sie werden vielleicht bleiben. Ansonsten müssen wir uns bald selbst nach Ärzten umschauen. Vielleicht kommen die dann aus Russland, Weißrussland oder aus der Ukraine zu uns."

Auf dem Busbahnhof in Riga fließen ein paar Tränen, als die Reisenden Abschied von ihren Familien nehmen. Dabei wollen die meisten nach einem Jahr wieder zurück. Das weiß auch Gunta Zarina vom lettischen Arbeitsamt. Im Gegensatz zur Ärztekammer freut sich die Vermittlerin über die neue Auswanderungswelle, denn sie selbst hat viel zu wenig Arbeitsplätze für die Arbeitssuchenden. "Lettland ist ein sehr kleines Land, und wir haben all die Jahre sehr isoliert gelebt. Darum freue ich mich, dass unsere Leute die Möglichkeit haben, im Ausland ihren Horizont zu erweitern. Wenn sie wieder zurückkommen, haben sie gute Sprachkenntnisse und Toleranz erworben. Und das ist genau das, was Lettland braucht."

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