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Sonderfall Vertrauensfrage
Die Öffentlichkeit nimmt ihn meist als Repräsentanten des Landes wahr – bei Reden oder Staatsbesuchen. Doch in den letzten Wochen war der Bundespräsident als politischer Entscheidungsträger gefragt: Denn nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder die Abstimmung zur Vertrauensfrage im Bundestag verloren hatte, schlug er Bundespräsident Horst Köhler die Auflösung des Parlaments vor. Ein Sonderfall, in dem das Staatsoberhaupt tatsächlich politischen Handlungsspielraum hat.
So wie dieser Tage Gerhard Schröder haben bereits die Bundeskanzler Willy Brandt 1973 und Helmut Kohl 1982 mit dem Instrument der Vertrauensfrage Neuwahlen angestrebt. Möglich wird dieser Weg durch Artikel 68 des Grundgesetzes: Wenn der Regierungschef im Parlament die Vertrauensfrage stellt und dabei nicht die Unterstützung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält, kann er dem Bundespräsidenten vorschlagen, das Parlament aufzulösen.
Die Entscheidung, ob tatsächlich der Bundestag aufgelöst wird, liegt allein im Ermessen des Bundespräsidenten. Er hat 21 Tage Zeit zu prüfen, ob die Auflösung des Bundestages verfassungsrechtlich und politisch gerechtfertigt ist. Wählt das Parlament allerdings in dem genannten Zeitraum einen neuen Kanzler, erlischt sein Recht zur Auflösung des Bundestages.
Auch bei der Wahl eines neuen Kanzlers spielt der Bundespräsident eine Rolle – allerdings hat er dabei keinen Ermessensspielraum. Er schlägt zu Beginn der Wahlperiode dem Bundestag einen Bundeskanzler vor, hat sich aber nach den Mehrheiten im Parlament zu richten. Sollte jedoch der Bundestag bei der Wahl des neuen Regierungschefs auch im dritten Wahlgang keine absolute Mehrheit für einen Kandidaten finden, hat der Bundespräsident denjenigen mit den meisten Stimmen zum Kanzler zu ernennen oder aber den Bundestag aufzulösen. In jedem Falle ist ein neuer Kanzler erst durch Ernennung durch den Bundespräsidenten in seinem Amt eingesetzt. Ebenso ernennt der Präsident die Minister auf Vorschlag des Bundeskanzlers.
Neue Gesetze, die der Bundestag beschlossen hat, werden erst nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den zuständigen Bundesminister durch die Unterschrift des Bundespräsidenten gültig – neben der Ernennung von Beamten ist das die wichtigste „staatsnotarielle Pflicht“ des Präsidenten. Das Staatsoberhaupt kontrolliert vor der Unterzeichnung eines Gesetzes, ob dessen Zustandekommen und Inhalt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das letzte Wort über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hat freilich das Bundesverfassungsgericht.
Die Ausfertigung eines Gesetzes haben Bundespräsidenten bisher in sechs Fällen abgelehnt. In weiteren Fällen hat ein Staatsoberhaupt Gesetze zwar unterzeichnet, Bundesrat und Bundestag aber seine verfassungsrechtlichen Bedenken mitgeteilt. So hat Johannes Rau 2002 bezüglich des Zuwanderungsgesetzes ausdrücklich auf die Klagemöglichkeit in beim Bundesverfassungsgericht hingewiesen, um deutlich zu machen, dass er eine Klärung der Verfassungsmäßigkeit für nötig hält. Dieses urteilt in letzter Instanz über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz beziehungsweise über sein verfassungsgemäßes Zustandekommen.
Die Verfassungsrichter entscheiden darüber hinaus auch über die Absetzung des Bundespräsidenten, sollte dieser wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes von Bundestag oder Bundesrat angeklagt werden.
Der Parlamentarische Rat hat 1949 die Kompetenzen des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik im Gegensatz zu denen des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik stark eingeschränkt. Der Reichspräsident hatte wesentlich mehr Kompetenzen und politische Gestaltungsspielräume.
Gerade in der Endphase der Weimarer Republik trug die Machtfülle des Reichspräsidenten wesentlich zur Destabilisierung des parlamentarischen Systems bei. In den Jahren von 1930 bis 1933 ernannte Reichspräsident von Hindenburg in schneller Folge mehrere Reichskanzler, die weder die Unterstützung des Parlaments noch des Volkes besaßen. Die Reichpräsidenten der Weimarer Republik konnten zudem Notverordnungen erlassen und hatten damit die Möglichkeit, weitreichende Regierungsgewalt auszuüben.
Mit seiner Direktwahl durch das Volk und seiner siebenjährigen Amtszeit hatte der Reichspräsident auch eine wesentlich stärkere Handlungslegitimation gegenüber dem Reichstag. Der Bundespräsident hingegen wird hingegen indirekt, nämlich von der Bundesversammlung für fünf Jahre gewählt. Diese besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Vertretern, die von den Landesvolksvertretungen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wurden.
Jüngst diskutierte die bundesdeutsche Öffentlichkeit allerdings verstärkt die Frage, ob eine Direktwahl des Bundespräsidenten nicht doch eine mögliche Alternative ist. Dabei wird auch auf die positive Entwicklung und die Stabilität der deutschen Demokratie verwiesen. Eine Gefährdung der durch das Grundgesetz hergestellten Machtverteilung sei heutzutage nicht mehr zu befürchten.
Unstrittig ist, dass das Staatsoberhaupt durch überparteiliches Handeln und Auftreten vor allem das Land einen und den Staat gegenüber seinen Bürgern und dem Ausland repräsentieren soll. Er ist eine moralische Instanz jenseits der aktuellen Tagespolitik. Dabei hat jeder Amtsinhaber bislang seinen eigenen Stil gefunden.
Text: Marcus Meyer
Foto: Deutscher Bundestag
Erschienen am 27. Juli 2005