Matthias Horx
Die Meuterei auf der digitalen Bounty: Keine
Handys
Ein kritischer Ausblick auf die
gesellschaftliche Kommunikation
Auf halbem Weg zwischen Australien und
Neuseeland liegt die Insel Norfolk. Dort leben, meist von
Schafzucht, Fischfang und Tourismus, die Nachfahren der
berühmten "Meuterei auf der Bounty", bei der sich die Freien
und Gerechten 1789 gegen die Knute eines tyrannischen
Schiffskapitäns auflehnten. Auf der idyllischen Insel sind
Fast-Food-Restaurants ebenso unbekannt wie die Einkommenssteuer.
Bei Urlaubern ist das winzige Eiland ein beliebtes Reiseziel.
Seit dem Sommer 2002 verfügt Norfolk
über eine neue Atrraktion: Bei einem Referendum sprach sich
die Mehrheit der 1800 Einwohner für ein Verbot von Handys
überall auf der Insel aus. Nun ist Norfolk die erste
großflächige handyfreie Zone der Welt.
Sind die Nachfolger der legendären
Meuterei von allen guten Geistern verlassen? Oder haben wir es hier
mit einem Signal zu tun? Microsoft hat mittlerweile auf Meetings
das (drahtlose) Online-Gehen untersagt - immer mehr Teilnehmer
hatten diese Treffen zum E-Mail-Abrufen und zum Surfen genutzt. In
den Hörsälen US-amerikanischer Universitäten
hängen ebenfalls immer mehr Online-Verbote an den Wänden.
Eine britische Firma mit 5.000 Beschäftigten rief den Freitag
als "Real-Meeting-Day" aus - keine Mails mehr, dafür
Gespräche von Mensch zu Mensch.
Zukunftsforscher registrieren all das sehr
aufmerksam: Geht das "Always-On"-Zeitalter, das die menschliche
Kommunikation revolutionieren sollte, bereits wieder zu Ende? Die
Erkundung des menschlichen Kommunikationskosmos, der Blick auf die
Entwicklungspfade der medialen Welt gehören für die
Wissenschaft zu den spannendsten Herausforderungen.
Wir sind inzwischen gedrillt, auf technische
Geräte und Plattformen zu starren. Aber diese technizistische
Sichtweise führt nicht weit, und die Flops häufen sich -
man denke nur an die Ernüchterung über das Internet oder
an die UMTS-Krise. Definieren wir Kommunikation hingegen als
"Soziotechnik", sieht die Sache ganz anders aus. Zunächst muss
man die Dialektik zwischen "Information" und "Kommunikation"
begreifen. Informationen sind nie objektiv, sie sind immer auch
kommunikative "Codes", die nur in einem bestimmten Zusammenhang
aufgeschlüsselt werden - wenn ich den Lehrer nicht mag, ein
Beispiel, verstehe ich nur Bahnhof.
Deshalb ist es so schwer, das "Wissen" eines
Unternehmens einfach auf einen Server, auf ein Intranet zu legen -
oder die "Wissensgesellschaft" zu schaffen, indem man alle
Informationen für jeden Bürger verfügbar macht. Aus
diesem Grund ist es auch so schwierig, politische Inhalte zu
"kommunizieren".
Vier Grundmuster der menschlichen
"Medialität" lassen sich herausfiltern:
- Eine "anschließende Information" ist
jene Information, die man zum "Dranbleiben" an einem sozialen
Kollektiv benötigt. Dass die Klimaerwärmung kommt, dass
der Papst gestorben ist oder der Rotwein gesund ist, erweist sich
in einem bestimmten Kontext deshalb als wichtig, weil es für
alle bedeutsam ist. Eine subjektive Information, die nur für
ein einzelnes Individuum von Belang ist, eignet sich hingegen nicht
zur Kommunikation.
- Bei der "lernenden Information" erfahren
wir Informationen als operativen Zugewinn. Wir lesen
Gebrauchsanweisungen oder Software-Erläuterungen, um die
Bedienung eines Geräts zu erlernen. Oder wir pauken Vokabeln.
Informationen werden zu "Wissens-Vorteilen".
- Bei der "steuernden Kommunikation" sollen
Dinge bewegt werden: Man kommuniziert, um etwas zu erreichen. Auf
dieser Ebene entsteht ein "infokommunikativer Kosmos", in dem es um
"managen" in einem erweiterten Sinne geht. Man könnte auch
sagen: Hier findet "Wissensarbeit" statt.
- Die "soziale Chat-Kommunikation" zielt vor
allem auf unser soziales Wesen als "schwätzende Primaten". Es
dreht sich um die ständige (Selbst-)Vergewisserung im sozialen
Spiel. Häufig werden Informationen bestätigt oder
rückbestätigt: Redewendungen wie "Hallo Liebling, ich
stehe gerade am Flughafen" oder "Schnutzibubi grüßt
Hasimausi" sind in diesem Bereich angesiedelt.
Jede dieser Kommunikationsformen hat eine
eigene Grammatik, eine eigene Logik, ja eine eigene "Physis". So
dominiert bei der "anschließenden Kommunikation" eine
entspannte Körperhaltung. Die "steuernde Kommunikation" ist
durch eine breit herausgedrückte Brust gekennzeichnet, man
stützt sich auf Daten und Fakten. Beim Chatten räkeln wir
uns gern auf dem Sofa.
Innerhalb dieses ausdifferenzierten Kosmos
eignen sich die "Medienplattformen" wie etwa Telefon, Radio,
Fernsehen, Zeitung, Handy oder Mail in unterschiedlichem Maße
für diese oder jene Kommunikationsform. Verabschieden sollte
man sich von einem Gerücht, das seit einigen Jahren den
medienfuturistischen Diskurs prägt: dass sich alle digitalen
Medien zu einem einzigen Meta-Medium verbinden. Jede mediale
Plattform hat neben Vorteilen auch Nachteile.
Wer etwa häufig E-Mails benutzt, merkt
schnell, dass diese durchaus ihre Tücken haben. Dieses Medium
ist zwar in hohem Maße interaktiv, benötigt aber gerade
deshalb soziale Grundtechniken mit verbindlichen Regeln - "Antworte
bitte in spätestens zwölf Stunden" oder "Schreibe keine
dämlichen Rund-Mails!". Sehr gut fungieren E-Mails beim
Abwickeln laufender Gruppen-Prozesse. Versucht man indes, auf
diesem Weg emotionale Konflikte zu lösen, versagt dieses
Medium.
Eine digital individualisierte Tageszeitung
macht keinen Sinn. Zeitungen dienen eben nicht nur der Information,
bei ihnen handelt es sich auch um "Realitätskonstruktionen":
Stünde in jeder Zeitung etwas anderes drin, wäre eine
atomisierte Öffentlichkeit die Folge - und die wäre keine
Öffentlichkeit mehr.
Ein gutes Beispiel ist auch das immer wieder
mal als Super-Event angekündigte Bildtelephon. Kontakte dieser
Art machen die Freiheit und Flexibilität, die sich durch
Telephonieren, Mailen und SMS-Austausch eröffnen, wieder
zunichte: Nun müssen wir plötzlich wieder auf unser
Aussehen achten, den Schreibtisch aufräumen und uns ordentlich
präsentieren. Kommunikation wird so verumständlicht statt
vereinfacht. Deshalb werden Bildtelephone wie auch
Videoschaltkonferenzen etwas Exotisches bleiben.
Zukunftsforscher betonen eines: Die
Entwicklung der Medien hängt in erster Linie davon ab, wie
schnell die sozioökonomischen Transformationsprozesse
vorankommen. Wie gebildet und mobil sind die Menschen in einer
Gesellschaft? Es ist kein Zufall, dass in Finnland, einem Staat mit
großen Distanzen und einerAbitursquote von 70 Prozent, mehr
als zwei Drittel der Bevölkerung regelmäßig das
Internet nutzen. Hochleistungsgesellschaften, die auf Innovation
und Dienstleistung setzen, bedienen sich der gesamten Klaviatur der
Kommunikationsmedien.
Umgekehrt bleiben in wenig gebildeten
ländlichen Regionen, wie sie etwa noch im Süden und
Südosten Europas existieren, die neuen Medien von geringer
Bedeutung: Wozu soll man sich mit den unendlichen Weiten des
Datenraums herumschlagen, wenn im Dorf sowieso alles bleibt wie es
ist? Wer mit Kommunikationstechnologie Geld verdienen will,
müsste eigentlich in die Bildung investieren.
Jede Zeit hat ihr Primärmedium. Als mit
den Telegrafen Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals die
Fernkommunikation möglich wurde, entstand jener Typus von
Zeitung, die als "klassische Tageszeitung" auch heute noch zu den
Basismedien zählt. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts
erklomm das Radio den Thron des neuen Zentralmediums. Das Radio
transportierte die wesentlichen Kommunikationsformen der
Industriemoderne: die Live-Reportage, das Feature, die
Direktübertragung, die Propaganda. In Form der
Hörerzuschaltung schuf das Radio bereits erste interaktive
Formen und förderte so auch den demokratischen Diskurs. Bis in
die 60er-Jahre hinein vermittelte das Radio die sozialen,
kulturellen und politischen Grundorientierungen.
Dann kam das Fernsehen, das bereits Ende der
60er-Jahre das Radio überflügelte. Das neue Medium war
für die Freizeit geschaffen: Dem Radio konnte man während
der Arbeit zuhören, beim Fernsehen ging das nicht mehr. Dieses
Medium formte die gesellschaftliche Kultur tiefgreifend um.
Tagesschau, Fußballübertragungen, Durbridge-Krimis,
Serien wie Dallas und Lindenstraße: All das hielt die
Gesellschaft als eine Art "Fluidum" zusammen. Nebenbei fungierte
das Fernsehen auch als informelle Bildungseinrichtung:
Hans Haber erklärte im Studio die
Kernspaltung mit hüpfenden Pingpongbällen,
Reisereportagen und Tierfilme brachten das Ende der Welt ins
Wohnzimmer, wo noch Großmutters Standuhr tickte. Die Politik
wandelte sich zu einem Echtzeit-Raum: Der Bürger nahm am
politischen Geschehen in einer Direktheit teil, die historisch ohne
Beispiel war.
Seinen Zenit überschritt das Fernsehen
bereits in den 80er-Jahren, als es auf "Mainstream" getrimmt wurde.
Nun haben wir den Dudelfunk und ein TV-Angebot, von dem sich die
Gedildeten mehr und mehr verabschieden. Selbst der
öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich auf diesen Weg
begeben. Die Zukunftsforscher sehen auch für Zentraleuropa
jene TV-Gewohnheiten voraus, die andernorts schon gang und
gäbe sind. In einer griechischen Kneipe, in einem US-Haushalt
oder in einem japanischen Sushi-Restaurant läuft der Fernseher
im Hintergrund als "Teppich": Das Gerät ist ständig
eingeschaltet, aber kaum jemand sieht hin. Der Fernseher dient mal
als Babysitter, mal als Leuchttapete, mal als Pausenfüller.
Überdies dürfte dieses Medium zusehends "vertrasht"
werden: In der Mittagsmagazin-Show, ein Beispiel, bewerfen sich die
Leute auf dem Bildschirm mit Torten.
Apokalyptische Reiter
Der Verfall medialer Öffentlichkeit
beschwört auch Gefahren für die Demokratie herauf. Dieser
politisch bedenkliche Niedergang präsentiert sich in der
Gestalt dreier apokalyptischer Reiter: der Personalisierung, der
Skandalisierung und der Alarmisierung. Die Tendenz zur
Personalisierung und Skandalisierung zeigt sich etwa darin, dass
bei Interviews Journalisten Politiker häufig nach ihren
Karriereplänen befragen. Parteitage oder komplizierte
politische Vorgänge werden als "Diadochenkämpfe" medial
inszeniert: Die Frage lautet nicht mehr "Wie wichtig ist das
Thema?", sondern "Wer fällt?". Auch bei Sabine Christiansen
sind es meist bloß "Wort-Clips", die man sich an den Kopf
wirft - und der einleitende Film, mit dem die Redaktion das
betreffende Thema umreißt, ist perfekt in einer
Videoclip-Ästhetik gedreht.
Unglaublich ausbeutbar ist die Angst, womit
wir bei jenem Phänomen sind, das als "alarmistisches Syndrom"
kritische Wissenschaftler beunruhigt. Das Fernsehen nutzt die
Chance zur Instrumentalisierung der Furcht rigoros aus. In diesem
Dauerfeuer geht das Gespür für die Relation der Dinge
verloren. Warum haben wir das Gefühl, dass es für unsere
Kinder "da draußen" angeblich so gefährlich ist? Fakt
ist: Die Zahl der Kindermorde ist seit den 60er- und 70er-Jahren
massiv zurückgegangen. Aber heute wird jeder Mord an einem
Kind inszeniert, ja regelrecht "zelebriert".
Bilder klären nicht mehr auf. Vielmehr
überfällt deren Macht die Zuschauer. Waldbrände sind
im Fernsehen wunderbare Menetekel, obwohl sie seit altersher
bekannt und für manche Tiere und Pflanzen sogar regenerativ
sinnvoll sind. Wirbelstürme lassen sich als "die
schrecklichsten seit Menschengedenken" darstellen. Früher
traten Flüsse über die Ufer, jetzt haben wir "die
schlimmste Flutkatastrophe der Geschichte". Alles wird zum
Menetekel, zum Symbol für den - angeblichen - Niedergang. In
seinem Buch "Erregte Gesellschaft" spricht Christoph Türcke
vom "Sensationismus als zentraler Wahrnehmungsform moderner,
urbaner Gesellschaften".
Jeder Evolutions- und Zivilisationsprozess
ist mit der Überwindung von Gefahren verbunden. Um Bedrohungen
zu überwinden, muss eine Gesellschaft diese jedoch
vernünftig einordnen können. Der mediale Alarmismus raubt
der Gesellschaft ihre Zukunft. Eine angstgepeitschte und deshalb
apathische Öffentlichkeit wird leicht zur Beute populistischer
Scharfmacher. Weit entfernt von einer "Paranoia-Politik" scheinen
wir nicht mehr zu sein. Kommunikationswissenschaftler sollten ihre
warnende Stimme erheben.
Pointiert gesagt: Information und
Kommunikation drohen zu ernsthaften "Umweltproblemen" des 21.
Jahrhunderts zu mutieren. Als Zukunftsforscher plädiere ich
für eine "infotoxische Strategie" im Sinne eines kritischen
Umgangs mit den Medien.
Schluss machen sollten wir mit der medialen
Euphorie: Ein quantitatives Plus bei den Medien bedeutet nicht
unbedingt einen qualitativen kommunikativen Gewinn. Die Strategie
der ständigen "Technik-Hypes" neigt sich ihrem Ende zu. Immer
mehr Leute haben bereits die Nase voll und reagieren mit
Überdruss: Sie schalten den Fernseher ab, sie legen seufzend
ihre überkomplexen Handys in die Ecke und schreiben wieder
Briefe.
Vielleicht stehen wir auch vor einem
"Medien-Recycling". Bewährte Medien könnten eine
Renaissance erleben als "Rightsizing" in einem neuen Kontext - zu
denken wäre etwa an seriöse Nachrichten-TV-Sender mit
Tiefgang, an das Bildungs-Radio, an das Genre der
Kulturzeitschrift. Erst in fernerer Zukunft dürfte das
Internet von "intelligenten Organismen" besiedelt
werden.
Die Zukunft wird auch den "Smart-Medien"
gehören, also Kommunikationstechnologien, die "an Menschen
angepasst sind". Wann wird an Schulen ein Hauptfach namens
Medienkompetenz unterrichtet? Wann zieht die Medienpolitik einen
klaren Trennungsstrich zwischen dem öffentlich-rechtlichen
Rundfunk und den Trash-Medien? Als Exportschlager dürfte sich
ein Handy erweisen, das wasserdicht und langlebig ist, das mit
einer Brennstoffzelle ein Jahr lang läuft und das ohne
umständliche Bedienungsanleitung einfach zu handhaben
ist.
In der medialen Zukunft könnte sich
"Retro" durchsetzen. Je verwirrender sich die Welt
präsentiert, desto wichtiger wird die menschliche Stimme - das
Morgenwird, so die Prognose des Zukunftsforschers, dieser
ältesten aller medialen Formen gehören, dem
persönlichen Kontakt von Mensch zu Mensch. Wir alle sind
Bewohner der Insel Norfolk. Wagen wir die Meuterei auf der
digitalen Bounty! Nieder mit dem Kapitän! Werft ihn den Haien
vor!
Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx
ist Inhaber des Zukunftsinstituts mit Sitz in Kelkheim/Taunus und
Wien.
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