Interview mit Thomas Straubhaar
Heikle Gratwanderung bei der Steuerung der
Zuwanderung
Interview mit Thomas Straubhaar, Präsident
des HWWA
Der Präsident des Hamburger
Welt-Wirtschafts-Archivs, Thomas Straubhaar, äußert sich
im Gerspräch mit Hans-Otto Sattler über die wachsende
Bedeutung der Migrationsforschung.
Das Parlament
Gehören die Migrationsforscher zu den
wissenschaftlichen Stars der Zukunft?
Straubhaar Von Stars möchte ich nicht
unbedingt reden. Die Bedeutung dieser Disziplin wird aber gewaltig
zunehmen. Die Aufwertung ergibt sich ganz einfach aus den
wachsenden Migrationsbewegungen. In den USA, seit jeher ein
Einwanderungsland, hat diese Forschung traditionell einen
höheren Stellenwert als in Europa. Hierzulande ist man sich
dieser Problematik erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so
richtig bewusst geworden, als etwa im Zuge der Kriege in
Ex-Jugoslawien Flüchtlingsmassen in die Bundesrepublik und
andere europäische Staaten strömten. Solche Erfahrungen
fördern die politische und auch die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Das Parlament
Die junge Disziplin der Migrationsforschung
spielt in der Öffentlichkeit noch keine große Rolle.
Solche Wissenschaftler melden sich mit Berechnungen über die
Notwendigkeit von Zuwanderung wegen der Rentensicherung oder mit
Vorschlägen für Integrationsprojekte zu Wort. Das trifft
nicht unbedingt den Nerv der politischen Diskussion.
Straubhaar Diesen Eindruck kann man schon
bekommen. Er wird allerdings der intensiven
migrationswissenschafltichen Arbeit nicht gerecht. Die
Öffentlichkeit und die Politik nehmen die Migrationsforschung
nicht adäquat wahr. Beispielsweise stehen an der Spitze
einiger großer Wirtschaftsinstitute Ökonomen, die sich
explizit auch als Migrationsforscher verstehen. Das trifft etwa auf
Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung oder auf mich zu. Politik und Medien
konzentrieren sich oft auf tagesaktuelle Effekte, da kocht das
Thema Migration dann hoch, wenn in Sensationsmanier über
Ausländerkriminalität oder Asylmissbrauch berichtet und
gestritten wird. Langfristig angelegte Grundlagenforschung hat es
hingegen schwer, sich medial in Szene zu setzen. Aber das
dürfte sich ändern. Die Zuwanderungskommission, in der
Wissenschaftler saßen, oder die Kontroverse um das
Zuwanderungsgesetz sind Zeichen eines solchen Wandels.
Das Parlament
Ist denn ein Migrationsforscher per se pro
Zuwanderung?
Straubhaar Das hängt von der jeweiligen
wissenschaftlichen Disziplin ab. Für meine ökonomische
Zunft kann man diese Frage klar mit Ja beantworten. Unter
wirtschaftlichen Aspekten ist Migration positiv einzustufen. Anders
sieht das vielleicht bei Soziologen aus, die sich mit Problemen bei
der Integration von Einwanderern auseinandersetzen. Auch
Politologen können unter Umständen eine eher kritische
Sichtweise entwickeln, wenn sie sich mit dem konfliktbeladenen
Wertewandel in einer von Immigration geprägten Gesellschaft
beschäftigen. Und Ökologen oder Biologen richten
möglicherweise den Blick auf die denkbare
"Überbevölkerung" eines Landes, das Zuwanderer in
besonders großer Zahl anzieht. In Deutschland ist wegen des in
der Geschichte wurzelnden Selbstverständnisses einer Kultur-
oder Abstammungsnation eine distanzierte Haltung gegenüber der
Migration ohnehin stark ausgeprägt. In den USA ist das in
diesem Ausmaß nicht der Fall. Übrigens auch nicht in der
Schweiz, die sich als Willensnation und nicht von der Abstammung
her definiert.
Das Parlament
Welches sind denn die zentralen
Zukunftsthemen für die Migrationsforschung?
Straubhaar Eine große Aufgabe liegt in
der Erarbeitung tragfähiger Konzepte für eine gesteuerte
Zuwanderung. Einerseits ist Immigration erwünscht und auch
notwendig. Andererseits kann es keine offenen Grenzen geben, es
können nicht alle kommen. Welche Kriterien aber sollen gelten
für eine geregelte Zuwanderung, wer soll in welcher Zahl
einreisen dürfen? Da dreht es sich für die Ökonomen
um Quoten im Blick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt, für die
Soziologen um die Integrationsfähigkeit, für Politologen
um die Vermittlung demokratischer Werte an die Neuen. Es ist eine
komplizierte Sache, in diesem Koordinatenfeld Modelle für ein
ausgewogenes Gleichgewicht bei einer gesteuerten Einwanderung zu
entwickeln. Das ist nicht nur politisch, sondern auch
wissenschaftlich eine heikle Gratwanderung: Man darf die Grenze zu
einem "latenten Rassismus", wie ich es mal nennen will, nicht
überschreiten.
Das Parlament
Verändert die Migration nicht die
herkömmlichen Staaten?
Straubhaar Ein anderes wichtiges
Zukunftsprojekt für unsere Wissenschaft ist ohne Zweifel die
Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff und der
Staatsangehörigkeitsfrage. Welche Rechte und Pflichten sollen
Einwandernde haben? Wie verändert sich ein Staat, in dem
Menschen mit mehreren Identitäten leben, kann man etwa
gleichzeitig ein guter Deutscher und ein guter Türke sein?
Staatsrecht ist für Migrationsforscher keine abstrakte
Rechtsgelehrtendiskussion, schließlich geht es konkret um
Menschen. Erwähnen möchte ich noch ein drittes Thema, das
wenig beachtet wird: Wie wirkt sich die Abwanderung höher
Qualifizierter aus einem Staat aus? Wenn nur gering qualifizierte,
nicht mobile Menschen in einem Land zurückbleiben, kann das
verhängnisvolle wirtschaftliche Auswirkungen haben.
Andererseits verlottern in den USA viele öffentliche Schulen,
stattdessen holt man sich Hochqualifizierte von außen, deren
Ausbildung man nicht bezahlen musste.
Das Parlament
In Deutschland und nicht nur hier existiert
viel Furcht vor einer Einwanderung in die Sozialsysteme. Vor
Italien und Spanien finden Flüchtlinge aus Afrika den Tod im
Meer. Ist das alles aber erst ein Vorgeschmack auf den massenhaften
Drang der Armen aus dem Süden zu den Reichen im
Norden?
Straubhaar Diese Angst halte ich für
übertrieben. Bisher leben weniger als fünf Prozent der
Weltbevölkerung, das sind gut 200 Millionen Menschen, in einem
anderen als dem angestammten Land. Die Menschen lassen sich vom
Prinzip Hoffnung leiten: Sehen Sie eine Perspektive im eigenen
Staat, wandern sie nicht aus. Deshalb dürfte es auch keinen
großen Zuzug aus Ost- nach Westeuropa geben - weil eben die
Mitgliedschaft in der EU eine Verbesserung der
Lebensverhältnisse verspricht. So ist es ja auch mit Italien,
Griechenland oder Spanien gelaufen, Gastarbeiter aus diesen
Ländern sind heute weitgehend unbekannt. Sollte es jedoch zu
einem massenhaften Andrang aus Afrika kommen, würde dies in
Europa wegen der enormen ethnischen, religiösen, kulturellen
und sozialen Unterschiede zu harten Konflikten führen. Der
Norden ist also gut beraten, gegenüber Afrika eine
entwicklungsfördernde Politik betreiben, wozu etwa eine
Öffnung der hiesigen Märkte für Produkte aus dem
Süden oder die Hilfe beim Aufbau demokratischer
Regierungssysteme gehören.
Das Parlament
Für Internationalisten, vor allem linker
Couleur, war der Kosmopolit stets eine politische Vision.
Erwächst nun der "Weltbürger" ganz
selbstverständlich aus dem Alltag der
Globalisierung?
Straubhaar Ich warne vor Illusionen. Diese
weltbürgerlich gesonnenen "Globalisierungsnomaden" machen
unter den Wanderungswilligen nur einen kleinen Teil aus, mehr als
zehn Prozent sind das nicht. Das sind Leute, die Geld haben, die
hochqualifiziert, mobil, persönlich unabhängig, kulturell
aufgeschlossen sind. Diese Kosmopoliten werden nie ein
Massenphänomen. Man kann ja auch geradezu das Gegenteil
beobachten, dass es nämlich als Reaktion auf die Konfrontation
mit der Migration zu einem Rückzug in nationale
Mentalitäten kommt, dass gar ein neuer Nationalismus entsteht.
Tendenzen dieser Art sind beispielsweise in Osteuropa zu
beobachten.
Das Parlament
Wanderungsbewegungen sind kein friedliches
Idyll, das ist häufig mit Auseinandersetzungen, ja mit
Gewalttätigkeiten verbunden. Bringt die Migration ganz neue
Konflikte mit sich, zwischen "reaktionären Fundamentalisten"
und "progressiven Weltbürgern"?
Straubhaar Eine Entwicklung in diese Richtung
sehe ich durchaus. Es kann ja nicht folgenlos bleiben, wenn die
Menschen eines Landes auf der Straße zunehmend Schwarze oder
Frauen mit Kopftüchern sehen. Automatisch beginnt dann etwas,
was sonst gar nicht stattgefunden hätte, nämlich eine
Selbstreflexion, man fragt nach sich selbst, nach den eigenen
Wurzeln, nach der angestammten Identität. Hinzu kommt die
Furcht vor dem Kampf um wirtschaftliche und soziale Töpfe, die
Sorge vor einem Wandel der gewohnten Verhältnisse, der
politischen und kulturellen Werte. Man kann eine solche
Herausforderung konstruktiv-offensiv angehen und die Zuwanderung
als Chance für Neues, für Innovatives begreifen. Man kann
aber auch abwehrend-defensiv reagieren, sich in nationale
Traditionen flüchten, sich abschotten. Das Problem ist, dass
diejenigen, die im erstgenannten Sinne denken, oft ihrerseits in
die Ferne streben und dann der zweiten Gruppe das Terrain
überlassen.
Das Parlament
Wann sind die Tage der bislang bekannten
Völker wie Deutsche, Russen oder Franzosen gezählt?
Entstehen als Folge der Migrations-Melange neue Völker,
kulturell, auch biologisch?
Straubhaar Das glaube ich nicht. Die jetzigen
Völker werden nicht verschwinden. Zuweilen ist es ja so, dass
Zuwanderer sogar die besseren Staatsbürger werden. In den USA
schwenken nicht wenige Einwanderer die Nationalflagge besonders
häufig. Erkennbar ist indes etwas anderes: Über die
traditionelle Identität hinaus werden sich weitere
Identifikationsmuster herausbilden. Deutsche, Franzosen und
Italiener bleiben Deutsche, Franzosen und Italiener, sie werden
sich aber zusehends gemeinsam als Europäer verstehen. Ein
anderes Beispiel ist die Rückbesinnung auf das Regionale. Man
kann auch an international vernetzte soziale Bewegungen wie Attac
oder die Grauen Panther denken. All das ist aber etwas
Zusätzliches, keine Alternative zur Nation.
Das Parlament
Und Sie selbst?
Straubhaar Ich fühle mich als Hamburger,
finde das Leben dort sehr schön. Meine Heimat aber bleibt die
Schweiz. Ich wäre glücklich, die deutsche
Staatsbürgerschaft annehmen zu können, aber dazu
müsste ich meine eidgenössische aufgeben. Und das will
ich nicht.
Das Parlament
Was heißt eigentlich "Integration"?
Anpassung der Zuzügler an die einheimische
Identität?
Straubhaar Ursprünglich war das so
einmal gedacht. In der Realität ist freilich unter dem Druck
des Faktischen eine Tendenz zur Transnationalität zu
registrieren. Das ist ein offener Prozess ohne vorgegebenes Ziel.
Eine kluge Integrationspolitik sieht in der sinnvollen Gestaltung
dieses Prozesses, der offen bleiben muss, ihre Aufgabe. Da ist auch
die Migrationsforschung gefordert.
Das Parlament
Themen über Themen für Ihre Zunft.
Aber scheitert der Ausbau dieser wissenschaftlichen Disziplin nicht
einfach am Geld, bei den Universitäten wird doch hart
gespart?
Straubhaar Da bin ich guten Mutes.
Natürlich wird der Konkurrenzkampf um die kleiner werdenden
Töpfe schärfer. Ich weiß jedoch auch aus eigener
Erfahrung, dass man sehr wohl öffentliche und private Mittel
zur Finanzierung neuer Forschungsprojekte im Bereich der Migration
akquirieren kann. Wanderungsbewegungen prägen zusehends das
gesellschaftliche Leben, und das puscht auch unseren
Wissenschaftszweig.
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