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Karin Tomala
Eisige Nacht über dem Weißen Meer
Verstörende Reportagen aus Russlands
Norden
Mariusz Wilk, polnischer Reporter und Publizist,
erlebt seit 1993 fast am Ende der Welt, am Weißen Meer, im
ehemaligen Verbannungsort auf den Solowjezki-Inseln, ein
Stückchen Russland zwischen Tradition und Gegenwart. Dieses
Buch gibt nicht nur oberflächliche Eindrücke wider,
sondern führt den Leser in die Tiefen der russischen Welt mit
ihrer anderen Wertordnung.
Faszinierende Reportagen und einzigartige
Beschreibungen finden wir in diesem Buch nicht nur über die
Insel und ihre Menschen, sondern über die russische
Kulturgeschichte und die postsowjetische Gegenwart insgesamt. Es
verweist aber auch auf so manche selbstgerechte Wahrnehmung der
Europäer und regt zum Nachdenken über Klischees und
Vorurteile an.
Einfühlsam beschreibt der Autor Russland
und seine Menschen. Im Mittelpunkt stehen jedoch immer wieder die
Landschaft und die Bewohner der Inseln im Norden, eine besondere
Stätte russischer Geschichte. Wilk versucht, Russland in
seiner unsagbaren Vielfalt von Innen zu sehen und zu erklären,
ohne dabei jedoch die eigenen Maßstäbe aufzugeben. Wurde
und wird doch dieses Riesenreich heute gern in oberflächlichen
Momentaufnahmen gezeichnet. Wilk meint: "Weder früher noch
heute bemühten sich die Menschen des Westens, die russische
Wirklichkeit von innen heraus zu begreifen, das heißt,
Russland mit den Augen eines russischen Menschen zu
sehen."
Bis heute wird tatsächlich Russland sehr
oft aus der Sicht Europas betrachtet. Kritisch äußert er
sich gegenüber allen Autoren, die aus zufälligen
Begebenheiten allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Auch der
polnische Globetrotter und Reporter Ryszard Kapuczynski (seine
Bücher wurden in viele Sprachen der Welt übersetzt) habe
zum Beispiel in seinem Buch "Imperium" einen eher naiven Bericht
über den Verfall der euroasiatischen Großmacht verfasst,
weil er lediglich das erzähle, was man ihm vorgeführt
habe.
"Schwarzes Eis" ist ein schönes Buch, in
dem mit vielen Hintergrundinformationen sehr einfühlsam aus
der komplizierten Geschichte des Landes Geschichten erzählt
werden, die man am liebsten alle an einem Tage lesen möchte.
Dem Autor gelingt es, durch seine bildhaften Darstellungen und
präzisen Analysen die ideengeschichtlichen und politischen
Zusammenhänge der komplizierten Prozesse zu erfassen, die sich
in Russland abspielen. Er erzählt aber auch immer wieder von
einem Ort, der zugleich Hölle und Paradies auf Erden ist,
Solowki.
Bereits zu Zeiten Puschkins war er ein
bekannter Verbannungsort. Doch dieser Ort ist weit mehr. Hier, so
der Autor, "sieht man Russland, wie man das Meer in einem
Wassertropfen sieht. Denn die Solowjezki - Inseln sind Essenz und
zugleich Antizipation Russlands". Seit Jahrhunderten seien sie
Mittelpunkt der Rechtsgläubigkeit und ein Zentrum russischer
Staatlichkeit im Norden des Landes gewesen.
Hier wurde durch Jahrhunderte die Historie
Rußlands geschrieben. Hier wurden nicht nur verurteilte
Banditen angesiedelt, sondern auch der Wille Andersgläubiger
und Andersdenkender gebrochen. Es ist, wie es scheint, ein
besonderer Ort, wo vor Jahrhunderten eine große Klosteranlage
entstanden war und wo sich theokratische Exzesse abspielten. Dieser
Ort wurde dann zu einem berüchtigten Sträflingslager im
zaristischen Russland, in dem, wie später im Gulag,
menschliche Seelen Todesqualen erleiden mussten.
Nach der bolschewistischen Revolution wurden
dann die Menschen auch noch in die Kirchen eingesperrt, und in den
Klöstern wurden Pferde gehalten. Die Pelztiere, in großen
Farmen gezüchtet, erhielten bessere Nahrung als die
Häftlinge. Heute dient dieses einst grausame Lagersystem in
den verwitterten Baracken hinter den Stacheldrähten nur noch
als Ort der Erinnerung für den, der sich zu erinnern
vermag.
Wir erfahren auch viel über das heutige
Leben der Menschen, die es hierher verschlagen hat. Auch nach der
Perestroika führen sie einen Kampf des Überlebens, schon
nicht mehr hinter Stacheldraht, aber auf der neuen Bühne des
so bunt anmutenden Konkurrenzkampfes. Dramatisch beschreibt der
Autor die verschlungenen Menschenschicksale zwischen ihrer
Verzweiflung und Hoffnung, in ihrem grauen oder anscheinend bunten
Alltag des Augenblicks.
Der Alkohol macht die Menschen oft blind und
taub oder verroht sie. Ohne Wodka gehe nichts. Zwar restauriere man
die Klosteranlagen in Solowki, entferne den Schutt, zugleich werden
aber die Gräber geöffnet und den Überresten der
Schmuck und die Rosenkränze geraubt. Manches liest man mit
Grauen: "In den Nächten feierten Touristen und die lokalen
Schpana, minderjährige Huren und jugendliche Lumpen Orgien in
den Kreuzgängen."
Fast demütig wird dagegen die russische
Seele beschrieben, die so facettenreich ist, abscheulich, aber auch
gut und anziehend. Beschrieben werden die Menschen in ihrem Alltag,
bei ihrer Arbeit, ihren Sorgen und ihren Anstrengungen, das Leben
erträglich zu gestalten. Wir erfahren, wie sie ihre Feste
feiern mit den vielen Zeremonien und Bräuchen. Doch Wilk
lädt uns auch zu zahllosen Spaziergängen ein, um die
Geheimnisse einer märchenhaften Natur mit ihren Wäldern
und Mooren zu erleben.
Er berichtet von den in lilarosa Farben
glühenden Nächten direkt am Ufer des Weißen Meeres,
von den optischen Täuschungen in der nordischen Landschaft,
die mit ihren Spiegelungen oft schöner als die Wirklichkeit
sind, von den Tücken des Weißen Meeres, das die Menschen
ernährt, - sie sitzen in ihren Booten in der dunklen Nacht,
sind hungrig und warten auf die Heringe, die oft die einzige
Eiweißquelle sind. Wie in einer Fotografie entstehen vor uns
Bilder, wenn der Autor versucht, die Wirklichkeit zu erfassen, sie
zu begreifen, ihr Gestalt zu verleihen und sie in auserlesenen
Worten abzudrucken.
Es ist ein Buch zum Lesen, zum Träumen
und zum Reflektieren über ein großes Land, das nicht nur
aus Gefängnissen besteht, ein Buch, aus dem man viel lernen
kann, wenn man es ernsthaft möchte.
Mariusz Wilk
Schwarzes Eis. Mein Rußland.
Aus dem Polnischen von Martin
Pollak.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003; 290 S., 21,50
Euro
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