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Dieter Kehl
Spiel mit bunten Luftballons
Wie bildet man Werte?
Die Diskussion über Wertewandel, Werteschwund, Werteverfall
und Wertebildung wird nicht erst seit dem Entstehen unserer
Spaßgesellschaft geführt, wenn die beiden Phänomene
auch gerne miteinander in Verbindung gebracht werden. Sie ist im
Lauf der Jahre auch nicht griffiger geworden, soweit man
überhaupt zu definieren vermag, welche Kategorie von Werten
gemeint ist. Wenn über "Werte" räsoniert wird, muss man
nicht selten erkennen, dass die Entwicklung der Gesellschaft die
bis dato gültigen Raster bereits wieder obsolet gemacht hat.
Kann die Wertediskussion die Entwicklung noch beeinflussen oder
muss sie sich auf den Versuch beschränken, sie zu beschreiben?
"Fragil ist der Firnis der Zivilisation", konstatiert die
Evangelische Akademie Tutzing im Geleitwort zu ihrer Tagung "Werte
bilden - Zum Einmaleins des Humanismus". Welche Werte sind
fundamental, welche variabel? Wie bilden und wie verändern sie
sich, wie kann man sie pflegen und begründen? Können
ökonomisch und technisch dominierte Dynamiken solidarische und
ökologische Leitbilder integrieren?
Gemeinsame Wertevorstellungen
Prominentester Referent des dreitägigen Kolloquiums war
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit einem weit in die
Zukunft greifenden Vortrag zum Thema "Grundwerte für eine
gerechte Weltordnung". Damit wurde die Tagung eingeleitet, was
wegen der Zeitplanung des Parlamentspräsidenten notwendig war,
aber auch ihm selbst konferenzdramaturgisch nicht ganz logisch
erschien. Thierse nahm die globalen Aspekte des Themas Wertebildung
unter die Lupe, warb für weltweite Wertestandards, die das
gefährliche Aufeinander treffen rassischer, religiöser
und weltanschaulicher Strömungen verhindern oder doch
entschärfen sollen. Ohne eine neue "Umrahmung" und gemeinsame
Wertvorstellungen als Grundlage von Politik und besonders für
die internationalen Beziehungen würden sich die Tendenzen zu
gewaltsamer Abgrenzung oder gar Auseinandersetzung wohl
verstärken, vermutete Thierse. Aber können Werte -
Grundwerte - als normative Vorgaben für die Gestaltung
internationaler Politik dienen? "Eine wertorientierte Debatte
über internationale Politik bietet zwar noch keine
Handlungsanweisung für konkrete und spezifische Fragen der
Außen-, Sicherheits- oder Entwicklungspolitik, aber sie kann
zum Verständnis für neue Prioritäten beitragen und
Entscheidungsprozesse unterstützen", sagte der
Parlamentspräsident, wobei Wertorientierungen keinesfalls nur
eine Messlatte zu sein hätten, die an das Handeln der Politik
gewissermaßen von außen angelegt werde - "sie sind so
etwas wie die Währung, mit der sich die Verständigung
innerhalb der Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften abspielt,
wenn diese anschlussfähige Wertordnungen vorfinden. Diese
Suche nach Anschlussfähigkeit und Übersetzbarkeit
grundlegender Überzeugungen und Werte macht die Bedeutung des
interkulturellen und interreligiösen Dialogs aus". Wesentlich
aber sei auch der Dialog an sich; im gleichberechtigten Diskurs der
Weltkulturen werde sich erweisen müssen, in welchem Umfang und
auf welche Weise die erreichte globale Vernetzung und
Schicksalsgemeinschaft zu einem Konsens über Grundrechte
führen kann.
Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit
Der weltweiten Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit müsse
eine verstärkte Bewegung zu Solidarität vorausgehen, die
dann in Politik umgesetzt werden kann, meinte Thierse. Aber: "Da
reicht es nicht aus, die Welt nur nach den derzeitigen Regeln der
ökonomischen Globalisierung, also auf der Grundlage einer
liberalen Wettbewerbsordnung zu organisieren." Bevor man
transnationale Institutionen und politische
Steuerungsmöglichkeiten schaffe, müsse man sich auf
verbindliche Werte einigen, die den Instrumenten der Regelung Sinn
und Richtung geben.
Für seine visionären Darlegungen erhielt der
Parlamentspräsident viel Beifall, aber mancher Zuhörer
hätte sich offensichtlich doch gewünscht, die Tutzinger
Wertediskussion im überschaubaren geographischen und
zeitlichen Umfeld zumindest beginnen zu lassen. Wie soll ein
globaler Wertekonsens entstehen, wenn er schon "zuhause" kaum zu
finden ist?
Gibt es eine Abkehr vom Gemeinsinn?
Die Veranstalter von Wertediskussionen wissen wohl, dass
für die meisten Menschen sich mit dem Begriff "Wert" der
Begriff "Ethos" im Sinne von Tugend verbindet und mit der Formel
Werteverfall eine Abkehr von diesen Tugenden, etwa denen, die sich
unter dem Stichwort "Gemeinsinn" subsumieren lassen. Gibt es,
beispielsweise, eine signifikante Abkehr vom Wert Gemeinsinn zumal
bei den Jungen, und ist, wenn ja, daran überschäumender
Individualismus schuld? Professor Johano Strasser, deutscher
PEN-Präsident, mochte dem nicht zustimmen. Vielmehr, meinte
er, würden "in der Debatte um den angeblichen Verfall des
Gemeinsinns ... Individualismus und gesellschaftszerstörender
Egoismus oft gleichgesetzt. Das moderne Individuum wird dann als
der allzeit nur seinen eigenen materiellen Vorteil verfolgende
Rationalist gedeutet, gegen dessen natürliche Neigungen mit
allen gesetzlichen, politischen, justiziellen und
pädagogischen Mitteln das unersetzliche Minimum an
Gesamtwohl-Orientierung mühsam durchgesetzt werden muss."
"Werte", zitierte Christoph Glaser von der
Eberhard-von-Kuenheim-Stiftung der BMW AG in seinem Referat "Werte
in Bewegung" den Soziologen Niklas Luhmann, "seien nichts anderes
als eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie
einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, die man
aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei
Festlichkeiten."
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