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Rüdiger Suchsland
Geschichte als Erlebnispark
In der Versöhnungsfabrik: Das deutsche Kino
entdeckt die Volkspädagogik
Eine Gruppe von Jugendlichen, ein Wochenende am
See, irgendwo draußen vor Berlin. Es wird viel getrunken,
geraucht, getanzt, gelacht, und im Hintergrund läuft Musik.
Allmählich lädt sich die Stimmung erotisch auf, Blicke
werden gewechselt, es wird geknutscht, gefummelt, das eine oder
andere Paar zieht sich in die Büsche zurück, und am
nächsten Tag werden alle einen Kater haben und ihre gereizten,
auch verletzten Gefühle werden sich entladen, wie ein
Sommergewitter - es ist eine ganz und gar heutige,
zeitgemäße Geschichte, die der Film "Was nützt die
Liebe in Gedanken" von Achim von Borries erzählt.
Doch der Film spielt in den späten
20er-Jahren, und erzählt eine wahre Begebenheit, die
"Steglitzer Schülertragödie". Erstaunlich ist die
Leichtigkeit, mit der der Regisseur hier die historische Epoche
darstellt: "Was nützt die Liebe in Gedanken" zeigt ein
20er-Jahre-Berlin fast ohne Klischees, ohne aufdringliches
High-Life, ohne wilde Kulissenschieberei, ohne Naziflaggen, die
unheilschwanger auf die Zukunft weisend durchs Bild getragen
werden, das dabei doch viel widerspiegelt von der Atmosphäre
der Epoche, und dem es dabei gelingt, ganz heutig zu sein, uns
seine Figuren über die zeitliche Entfernung hinweg nahe zu
bringen.
Mit alldem ist dieser Film allerdings nicht
gerade typisch für die Neuentdeckung der Geschichte, die das
deutsche Kino im Jahr eins nach Wolfgang Beckers sensationellem
Erfolg mit "Good Bye Lenin" erlebt. 56 Filme aus Deutschland liefen
auf der diesjährigen Berlinale, wo Beckers Triumphzug vor
einem Jahr begann. Das sind so viele wie nie zuvor, mal wieder ein
Rekord also fürs deutsche Kino. Zur Eröffnung der
Berlinale wurde aber einmal mehr ein US-amerikanischer Film, das
Bürgerkriegsmelodram "Cold Mountain", gezeigt. Das Kino
Hollywoods hat sich schon immer, seit seinen Stummfilmanfängen
in Griffith "Birth of a Nation", besonders der Idee des
Nationbuilding verschrieben, der imaginären
Zusammenführung der unterschiedlichen Elemente der
Bevölkerung - die im "Melting Pot" Amerika auch besonders Not
tut. Die Traumfabrik war auch Gemeinschaftsfabrik.
Neuerdings erlebt man dergleichen, wenn auch
noch etwas hölzern und unsubtil, auch im deutschen Kino. Zum
Beispiel Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern". Das WM-Finale
von 1954 wurde bereits früher einmal verfilmt, indirekt
zumindest: In Rainer Werner Fassbinders Meisterwerk "Die Ehe der
Maria Braun" (1978) spielte der Regisseur die letzten dramatischen
Minuten der legendären Radioreportage Herbert Zimmermanns in
voller Länge: "Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland
ist Weltmeister!" hallt es über die Leinwand, und dann ist es
auch aus mit der Ehe der Maria Braun und dem Film - und die junge
Bundesrepublik ist in Fassbinders Augen angekommen im
Nachkriegswirtschaftswunderland. Fußball als Teil nationaler
Mythologie, freilich einer gebrochenen, in der das erleichterte
"Wir sind wieder wer" mitunter klang wie Pfeifen im Wald, in der
der erste Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft gespiegelt
wird durch eine Katastrophe.
Das liegt heute länger zurück, als
damals das Finale im Berner Wankdorfstadion. Auch Sönke
Wortmann erzählt "Das Wunder von Bern" nicht in erster Linie
als Fußballgeschichte. Der Ausgang ist ja bekannt, also
hält sich die Spannung in Grenzen, obwohl die Nachahmung der
Spielszenen recht gut gelingt. Doch sonst wackeln die Kulissen.
Keine Frage: Wortmann hat viel Mühe auf die detailgenaue
Rekonstruktion der 50er- Jahre verwendet, doch gerade darum wirkt
alles museal, leblos. Noch dem Dreck sieht man das liebevolle
Arrangement der Ausstatter an. Ähnlich arrangiert und
"gemacht", unauthentisch wirken auch die Menschen, die hier betont
altmodisch und bis zum plumpen Klischee Dialekt sprechen. So
reproduziert Wortmann - bestenfalls unbedarft, schlimmstenfalls
bewusst ideologiestiftend - die Bildwelten des Heimatfilms, ohne
auch nur einen Gedanken auf ihre Herkunft zu verschwenden. Das ist
mehr als Nostalgie, es ist falsche Versöhnung, Lüge, die
Wahrheit übertünchen soll. Vor der Versuchung, à la
Hollywood den Kostümfilm als Bewegungskino, als sentimentalen
Rausch zu inszenieren, ist in diesem Fall allerdings der Stoff vor:
Denn auch der Fußballmythos ist nur Kulisse für das Drama
der Kriegsheimkehrer. Die Hauptfigur ist ein spät
zurückkehrender Vater, der im Krieg natürlich keinerlei
Schuld auf sich lud, trotzdem unter Verdacht steht, und
überhaupt die neuen Verhältnisse stört, und sich
erst über den WM-Sieg mit seinem Sohn versöhnen kann. Das
Fußballwunder wirkt einmal mehr als Therapie und
Verdrängungsmaschine.
"Rosenstraße"
Ziemlich ähnlich, nur oberflächlich
ganz anders, funktioniert auch Margarethe von Trottas
"Rosenstraße". Der Kern der Handlung ist anrührend und
moralisch brisant: Widerstand war möglich im Dritten Reich. Es
hat ihn hier gegeben, und er hatte Erfolg. Die historische Wahrheit
- öffentliche Proteste "arischer" Deutscher gegen die
Verhaftung ihrer "nichtarischen" Lebenspartner im Februar 1943 -
wird freilich zum Kunstwerk erst da, wo sie auch eine Gestalt
erhält. In Trottas Händen ist es Ausbeutungs-Kino
für Gutmenschen. Sie benutzt die Judenverfolgung primär
als Kulisse für ein doppeltes privates Melodram und als
kulturpolitisch verwertbare Dienstleistung: Frauenpower '43 -
nichts ist dagegen zu spüren von Abgründen und
Todesangst. Man bleibt im vertrauten Kinoterrain der mundgerechten
Konsumierbarkeit des Völkermordes, wo die Nazis blitzblanke
Uniformen tragen, laut schreien und auch mal böse in die Luft
schießen - und ansonsten von grundguten Deutschen umzingelt
sind. Goebbels ist nicht mehr als ein blasierter Zwerg, der sich
von Katja Riemann gern rumkriegen lässt, um als Belohnung den
Holocaust kurz wieder abzublasen - eine peinliche Banalisierung des
Terrors.
"Rosenstraße" macht sich so ziemlich
jedes Einwands schuldig, der sich überhaupt gegen Spielfilme
über reale Ereignisse während der Nazi-Zeit vorbringen
lässt: Er zeigt nicht einen einzigen der Millionen Toten, er
zeigt Nazis nur als harmlose Fratzen, er zeigt nicht die
Mörder und die Opfer, sondern die Überlebenden und die
Retter. Indem der Zuschauer, so legt es der Film nahe, sich mit
ihnen identifizieren darf, darf er sich auch trösten, wo es in
der Wirklichkeit wenig Trost gibt. Und die tapferen Heldinnen des
Films sind durchweg "deutsche", das heißt arische deutsche
Frauen. Dass dieser Film, wie ein Kritiker schrieb - er meinte dies
als Lob - "die Lektüre der Geschichte verändert",
wäre, wenn es stimmen sollte, ja gerade das
Problem.
Den Hauptvorwurf, den man beiden Filmen
machen muss: Sie rechtfertigen, wo sie in Frage stellen
müssten, stiften Selbstzufriedenheit, wo es interessanter -
und moralisch angemessener? - wäre, Zweifel zu säen.
Beide Filme und in gewissem Sinn auch der weitaus bessere "Good Bye
Lenin!" belegen: Die Haltung gegenüber der Vergangenheit hat
sich gewandelt. An Stelle unbequemer Infragestellung ist eine
sonderbare Eindeutigkeit getreten, die Fragen möglichst nicht
mehr stellen, sondern Bilder zur nationalen Sinnstiftung schaffen
will. Nach über 15 Jahren haben offenbar die Revisionisten im
"Historikerstreit" der 80er-Jahre doch noch gesiegt - in der
Verlängerung sozusagen. Der Historismus verbündet sich
mit einer neuen Art von Volkspädagogik: Es geht nicht mehr
darum, der älteren Generation pauschal Mitschuld zuzusprechen,
sondern umgekehrt um Entlastung - worin sich diese Filme ganz gut
in andere Debatten des letzten Jahres fügen, wie der um
Bombenkrieg und Vertreibung, worin sie aber auch zu der jüngst
am Beispiel der sächsischen Gedenkstättenpolitik heftig
kritisierten neuen Tendenz passen, differenzierte Erinnerungen
einzuebnen.
Viele kleine Wahrheiten schaffen eine neue,
glatte. Wo man das große Ganze überhaupt zeigen will,
wird die Geschichte zum Erlebnispark, der nebenbei überdies
noch zur Rechtfertigung der Gegenwart taugen soll - Kino als
Versöhnungsfabrik. Man wird ein weiteres Beispiel dieser
Haltung wahrscheinlich im Herbst besichtigen können, wenn
Bernd Eichinger sein Führerbunkerdrama "Der Untergang" als
"deutsche Version der ‚Titanic'" (Eichinger) inszenieren
will: Mit Alexandra Maria Lara, die in der Rolle der
Hitler-Sekretärin Traudl Junge als deutsche Kate Winslet die
Katastrophe überlebt, und rußbeschmiert uns Zuschauer aus
dem zerbombten Berlin hinausgeleitet - hinein in die schöne
neue Bundesrepublik.
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