Friedhelm Wolski-Prenger
Zwischen Regulierung und Deregulierung
Sozialpolitische Zwischenbilanz der Regierung
Schröder
Die interessierte Öffentlichkeit verfolgt
erstaunt die Sozial- und Wirtschaftspolitik der rot-grünen
Regierungsjahre, die von zahlreichen Wendungen,
Schnellschüssen und unter Druck hergestellten
parlamentarischen Mehrheiten gekennzeichnet ist. Dass politische
Gegner - wenngleich überwiegend im Glashaus sitzend -
handwerkliche Unvollkommenheiten genüsslich aufgreifen, liegt
nahe. Aber auch der Regierung Schröder- Fischer Wohlgesonnene
wünschen sich gelegentlich stringenteres
Regierungshandeln.
Dass sozial- und wirtschaftspolitische
Diskontinuitäten nicht nur "gefühlt", sondern
wissenschaftlich zu beobachten sind, belegt ein von Antonia Gohr
und Martin Seeleib-Kaiser verantworteter Sammelband. In dessen
erstem Teil stellt Seeleib-Kaiser zunächst - eher an
Fachwissenschaftler adressiert - konkurrierende Theorieansätze
zur Erklärung politischer Entscheidungen vor. Konkreter
untersucht Gohr anschließend die programmatischen Ziele von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD vor der Erringung der
Regierungsmehrheit.
Der Aufsatz bildet die Folie für die
empirisch orientierten Politikfeldanalysen des zweiten Teils, die
erhebliche Abweichungen vom Programm vor allem der SPD deutlich
werden lassen.
Reimut Zohlnhöfer erklärt
Brüche rot-grüner Finanzpolitik nicht zuletzt mit dem
Personalwechsel bei der Kanzlerpartei. Während Finanzminister
Oskar Lafontaine eine vorsichtige Nachfrageorientierung
durchsetzte, knüpfte Nachfolger Eichel an die restriktive
Haushaltspolitik Theo Waigels an - mit ebenso wenig nachhaltigem
Erfolg, wie sich jetzt zeigt. Zohlnhöfer erklärt die
finanzpolitische Volte damit, dass die Positionen der
sozialdemokratischen "Modernisierer" denen der Liberalkonservativen
sehr ähnlich seien.
Diese Analyse wird durch weitere
Beiträge gestützt. So ist die Ergänzung des
umlagefinanzierten Rentensystems durch kapitalgedeckte Elemente
("Riester-Rente") - worauf Frank Nullmeier eingeht - durchaus als
neoliberales Projekt zu sehen. Wie auch in der Gesundheitspolitik
ist die politische Selbstbindung an die Variable "Beitragssatz" der
Grund für dauernde Notmaßnahmen, die den Eindruck der
Sprunghaftigkeit verstärken.
Verarmte Menschen
In der durch die renommierte Armutsforscherin
Petra Buhr untersuchten rot-grünen Armutspolitik wird nach wie
vor zwischen den durch Grundsicherungselemente geförderten
"würdigen" Armen (Alte, Alleinerziehende) und den
"unwürdigen" Armen - zu bestrafende arbeitsfähige
Bezieher von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe - unterschieden. Die
zwischen Regierung und Opposition seit dem Abgang Lafontaines
lediglich im Detail umstrittene Richtung kumuliert in der mit
sozialdemokratischen Traditionen radikal brechenden "Agenda 2010"
(A. Gohr).
So verweist Edgar Rose auf die Agenda-Wende
im Arbeitsrecht. Während in den ersten Jahren von
Rot-Grün arbeitsrechtliche Deregulierungen der
Kohl-Regierungen zurückgenommen wurden, " ... hat die
Herrschaft des Marktes das rot-grüne Projekt offenbar auch auf
dem Gebiet des Arbeitsrechts eingeholt". Hubert Heinelt kommt bei
der Arbeitsmarktpolitik zu ähnlichen Beurteilungen. Wenige
grundsätzliche Differenzen zur Kohl- Regierung konstatieren
auch Peter Bleses in der Familien- sowie Andreas Brandhorst in der
Gesundheitspolitik.
Der dritte Teil wendet sich der Frage nach
der Bedeutung des Bundesverfassungsgerichtes für das
Regierungshandeln sowie der "Deparlamentarisierung" zu. Die vom
Bundeskanzler bevorzugte Politik durch Kommissionen hat sich vor
allem hinsichtlich des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung
und Wettbewerbsfähigkeit" als wenig erfolgreich erwiesen.
Erkennbar setzt Schröder diesen Politikstil zu Lasten des
Einflusses des Bundestages gleichwohl fort.
Abschließend: Auch in schnell
produzierten Büchern sollte das Lektorat das Leserinteresse an
Informationen über die Autorinnen und Autoren nicht
völlig vernachlässigen. Weiteres Desiderat: Eine die
teilweise disparaten Beiträge einordnende und wertende
Einleitung durch die Herausgeber.
Antonia Gohr / Martin Seeleib-Kaiser
(Hrsg.)
Sozial- und Wirtschaftspolitik unter
Rot-Grün.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden
2003;
361 S., 34,- Euro
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