Jens Hacke
In der Nachhut
Zeitgeschichtliche Kontroversen
Das Kennzeichen unserer Zeit, so schrieb der britische
Historiker Eric Hobsbawm einmal, sei das Gefühl einer
permanenten Gegenwart, der jegliche organische Verbindung zur
Vergangenheit fehle. Trotzdem ist die Geschichte in den letzten
Jahren wieder sehr präsent. Historisches im Film, Fernsehen,
Museen und Feuilletons - all dies findet den Weg in die
Öffentlichkeit und wird begierig konsumiert.
Ob dieses historische Interesse mit dem Bedürfnis nach
kollektiver Identitätskonstruktion zusammenhängt oder
lediglich eine kompensatorische Funktion in Zeiten beschleunigten
Wandels besitzt, darüber ist man uneins. Die Historiker neigen
dazu, ihre eigene Rolle und die Bedeutung ihrer Debatten zu
überschätzen. Dies dokumentiert auch dieser Sammelband,
hervorgegangen aus einer Tagung des Potsdamer Zentrums für
zeithistorische Forschung.
Das Spektrum reicht von der Aufarbeitung einzelner deutscher
Debatten (Fischer-Kontroverse, Historikerstreit,
Wehrmachtsausstellung, Goldhagen) bis zu Fragen im Umgang mit
historischer Schuld in verschiedenen Gesellschaften generell
(Österreich, Frankreich, Polen, Schweiz, Polen). Während
zu den außerdeutschen Themen abgewogene und informierte
Überblicke zu den Grundlinien öffentlicher Diskurse
gegeben werden, kreisen die mehrheitlich mit der Bundesrepublik
befassten Arbeiten zumeist um die Streitpunkte der Historiker und
deren Rolle in der Öffentlichkeit. Nur Ingrid Gilcher-Holthey
und Martin Sabrow beklagen - bezeichnenderweise - die
versäumten Auseinandersetzungen über Zäsuren
jüngeren Datums wie 1968 und 1989.
Zu den deutschen Dauerbrennern zunftinterner Selbstreflexion
gibt es überdies nicht allzu viel Neues zu berichten. Konrad
Jarausch und Imanuel Geiss werten Fischers Kriegsschuldthese als
berechtigten wissenschaftlichen Streit, der im nationalkonservativ
geprägten Klima der frühen Bundesrepublik
"liberalisierend" gewirkt habe. Fischer setzte die unbequeme Frage
nach dem deutschen Sonderweg auf die Tagesordnung, so dass Hitler
nicht mehr zum "Betriebsunfall" deklariert werden konnte.
Den Kontroversen um den Nationalsozialismus wird hingegen
lediglich der Rang von "Scheindebatten" zuerkannt: Weder der
Historikerstreit noch die Disputationen um die Wehrmacht und
Goldhagens These vom "eliminatorischen Antisemitismus" hätten
die Forschung einen Schritt weitergebracht, so das selbstbewusste
Historikerurteil. Im Gegenteil, Emotionalisierung und Vereinfachung
der Argumente gingen immer auf Kosten einer differenzierten
Betrachtung.
Hier scheint also das Problem zu liegen. Zwar wissen die
Historiker viel, können sich aber schwer Gehör
verschaffen. Dazu passt auch die kleinlaute Erkenntnis, dass - wie
Norbert Frei und Ulrich Herbert zugestehen - öffentliche
Debatten zumindest auf das Fach selbst zurückwirken, indem aus
ihnen neue Fragen für die um Aufmerksamkeit bemühten
Historiker entstehen, sei es die Intensivierung der
Holocaust-Forschung in Deutschland nach dem Streit um die
Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Völkermordes, sei
es die gesamtgesellschaftlich neu gestellte Frage nach den
Tätern der NS-Diktatur im Anschluss an Goldhagen und die
Wehrmachtsausstellung.
Dies zeigt, dass die deutschen Historiker der Zeitgeschichte oft
hinterherhinken. Die deutsche Zeithistorie ist in die Jahre
gekommen. In dem Maße, in dem die Geschichte des
Nationalsozialismus "an politischer Gegenwärtigkeit verliert",
so beschreibt Michael Jeismann das Problem, ist die Vergangenheit
wieder offen und daher auch eine Aktualisierung der
Forschungsperspektive nötig.
Zwar lässt sich über die Geschichte viel kontroverser
und moralisch selbstgewisser urteilen, wenn die Zeitzeugen bereits
verstummt sind. Solche historischen Debatten sind dann allerdings
nicht mehr zeitgeschichtlich zu nennen und bergen die Gefahr, zu
"Erregungszuständen" zu verflachen, wie Brigitte
Seebacher-Brandt gegen den aus ihrer Sicht verheerenden Einfluss
der 68er einwendet.
Die eigentliche Zeitgeschichte der heute "Mitlebenden" darf
insofern durch die lange Fixierung auf die NS-Zeit nicht
marginalisiert werden. Denn öffentliche Diskussionen um die
jüngere Zeitgeschichte der alten Bundesrepublik, der DDR und
der nun bald anderthalb Jahrzehnte zurückliegenden Einigung
erscheinen angesichts gegenwärtiger
Orientierungsschwierigkeiten nötiger denn je.
Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hrsg.)
Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen
seit 1945.
C.H. Beck Verlag, München 2003; 378 S., 15,90 Euro
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