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Jutta Voigt
Flügelfrauen und schwarze Jungs
Katrin Paniers Erzählungen
ausländischer Jugendlicher in Deutschland
Letztes Jahr habe ich mir meinen größten Wunsch
erfüllt und mir Flügel auf den Rücken
tätowieren lassen", erzählt die 20-jährige Lina.
"Von den Schultern bis zur Taille reichen die. Sie wachsen
sozusagen aus meinen Schulterblättern, und die unteren
Federspitzen liegen gefaltet übereinander. Zum Abflug bereit.
Jetzt nennen mich viele in der Stadt nur noch die Flügelfrau."
Lina kam aus Taiwan nach Aachen, wo ihre Eltern ein chinesisches
Restaurant betreiben. Sie hatte es schwer in Deutschland -
Sprachprobleme, ein stilles Naturell, ein fremdes Gesicht. Die
Probleme häuften sich, die andere Kultur, die Pubertät,
dazu noch lesbisch - um das alles auszuhalten, kann man Flügel
gut gebrauchen.
Linas Erzählung ist eine von vielen. Die Reporterin und
Radio-Moderatorin Katrin Panier hat die Erfahrungen und
Gefühle, Sehnsüchte und Ängste jugendlicher
Ausländer in Deutschland nicht nur dokumentiert, sondern nahe
an den Leser herangeholt. Ein Welttreffen der Jugend findet statt
in diesem Buch, das gesammelte Erfahrungen aus den elementaren
Bereichen junger Existenz vorstellt: Erwachsenwerden, Arbeit, Sex,
Liebe, Zukunft, das alles unter den Bedingungen des Daseins als
Fremde oder Andere in einer Gesellschaft, die die Toleranz auch
erst trainiert.
Die Autorin hat es verstanden, diese hoffnungsvollen Wesen zum
Reden zu bringen, so offen, als wäre sie ihnen Freundin und
Beichtvater zugleich. Das Resultat sind sehr persönliche, sehr
eigenwillige Aussagen über das Eigene und das Fremde.
Über die manchmal verzweifelte Suche nach Identität in
einer Umgebung, deren Sprache, Moral und Humor man verstehen lernen
muss, um die vermeintliche oder auch wirkliche Kälte
überstehen und Vorurteile überspringen zu
können.
Das alltägliche Leben
Die Autorin hat nicht die Ausländerfeindlichkeit zum
Zentrum gemacht, sondern das alltägliche Leben in einem Land,
in dem Ausländerfeindlichkeit eines der Probleme ist, mit dem
die jungen Fremden zu kämpfen haben. Deutschland - das Land
der Großzügigkeit und der Kleinkrämerei, der
Aufklärung und der Verklemmtheit. Wo die Frauen
gleichberechtigt sein dürfen und die Jungs ihre Mädchen
abends nicht nach Hause bringen. Wo man lesbisch oder schwul sein
darf, aber Paare im Restaurant getrennt zahlen.
Man erfährt in diesem Buch genauso viel über das
Eigene wie über das Fremde. Über türkische
Mädchen, die selbstverständlich bis zu ihrer Hochzeit
Jungfrau bleiben und erst zu Hause ausziehen dürfen, wenn sie
heiraten. Über einen homosexuellen Mexikaner, der
sauglücklich wäre in Berlin, wenn ihn nicht "die
mexikanischen Gespenster", die Schatten der moralischen Enge seiner
Heimat, verfolgten. Über eine junge Russin, die
gleichberechtigt sein will, aber auch geborgen, die sich an ihren
Mann anlehnen möchte "wie an einen Baum" und sich letztendlich
mit russischen Jungs wohler fühlt als mit deutschen, obwohl
die auch "süß" sind.
Schön ist, dass die Autorin mit gängigen Klischees
furchtlos umgeht. "Frauen sind ja sehr an mir interessiert", prahlt
der 16-jährige Johnny, Sohn einer Deutschen und eines
Angolaners. "Ich weiß auch, was so getuschelt wird. Das, was
meist über Dunkelhäutige kommt, ist: Die haben große
Schwänze und können gut tanzen. Ich sag dazu: Ja, es
stimmt. Die meisten können gut tanzen und haben auch
große Schwänze."
Katrin Panier hat wunderbar direkte Gepräche geführt.
Mit der Professionalität einer geübten Redakteurin hat
sie die Redundanzen eliminiert und die Abfolgen montiert. Es sind
authentische Erzählungen, unterhaltsam und spannend -
Dokumente einer sich fröhlich und risikoreich vermischenden
Welt: Zu Hause ist, wo ich verliebt bin.
Katrin Panier
Zu Hause ist, wo ich verliebt bin.
Ausländische Jugendliche in Deutschland erzählen.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2004;
400 S., 9,90 Euro
Jutta Voigt arbeitet als "Zeit"-Kolumnistin in Berlin.
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