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Claudia Heine
Ein Familienepos aus Halberstadt
Jenseits der Legende vom 20. Juli 1944: Die
Suche nach dem Vater
Immer wieder geht es darum: Um Nähe und Distanz. Ist
"Meines Vaters Land" auch das Land der Tochter? Wie wäre es
mir ergangen unter Umständen, die ich glücklicherweise
nicht oder nur als Kind, und damit von schweren
Gewissensentscheidungen befreit, erlebt habe? Erleichtert stellt
sie fest: "Das Einzige, was ich aushalten musste, waren diese
grässlichen Rotkäppchen-Kleider, die nach Kriegsende aus
den Hakenkreuzfahnen genäht wurden. Ich habe mich nie etwas
trauen müssen, wenn ich denn dagegen gewesen wäre.
Wäre ich?"
Wibke Bruhns erzählt die Geschichte ihrer, der
Kaufmannsfamilie Klamroth aus Halberstadt, nicht mit dem Gestus der
Verurteilung; für ein nationalistisches Pathos im Ersten
Weltkrieg zum Beispiel, das bereitwillig auch die eigenen Kinder
opfert. Oder für die Bereitschaft der Eltern, sich in den
Dienst von NSDAP und anderen NS-Organisationen zu stellen. Es geht
darum zu verstehen. Das schließt das Unverständnis und
die Ablehnung nicht aus, mit der sie auf Ereignisse in ihrer
"Sippe" reagiert: "Sind die verrückt? Was ist das für
eine grenzenlose Hybris, die Deutschland und die Deutschen
über den Tod der Söhne stellt?" Fragen an den
Großvater, der ohne jedes Entsetzen vom Heldentod seines
Neffen im Ersten Weltkrieg berichtet.
Die Hauptperson ist der Vater: Hans Georg Klamroth, Major und
Abwehroffizier im Oberkommando der Wehrmacht, als er in die
Pläne der Attentäter des 20. Juli 1944 eingeweiht und sie
nicht verraten wird. Nicht als Mittäter, sondern als Mitwisser
starb er am 26. August 1944 in Plötzensee, erhängt "wie
Schlachtvieh", so wollte es Hitler. An diesen HG, so nennt sie ihn,
tastet sich Wibke Bruhns heran, denn sie kennt ihn nicht wirklich.
Ein Jahr nach ihrer Geburt begann der Zweite Weltkrieg und damit
die Zeit seiner Abwesenheit, nur unterbrochen von Kurzbesuchen.
1979 entdeckt sie den Vater in einer Fernsehdokumentation über
den 20. Juli, ausgezehrt im Saal des Volksgerichtshofes sitzend.
Eine Szene, die sie nicht loslässt: "Aber ich erkenne mich in
ihm - seine Augen sind meine Augen. Ich wäre nicht ohne ihn.
Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich."
Im Gegensatz zur "diffusen Familienübereinkunft des
Nicht-Redens", die, wenn sie aufgebrochen wurde, Hans Georg mehr
als "Legende" präsentierte, möchte sie eine wirkliche
Kenntnis des Menschen dahinter. Sie beschließt: "Ich
kümmere mich um dich." Was sie in Tagebuchaufzeichnungen,
Briefen, Familienalben und Chroniken entdeckt, ist keine Geschichte
von Widerständlern und Helden, sondern die Geschichte eines
großbürgerlichen Hauses, das es im 19. Jahrhundert mit
dem Erfolg der Firma Klamroth geworden war.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur
preußisch-wilhelminischen Gesellschaft bewegte den
Großvater, als erster der Familie freiwillig zur Armee zu
gehen. Ehre und Pflicht, dem Vaterland zu dienen, Gottesfurcht und
Mannesmut waren die Werte, von denen auch die Kleinkinder nicht
verschont blieben. Eine "kleine feige Memme" wird der 1898 geborene
Hans Georg von seiner Mutter genannt und sein Vater bemerkt im
Kindertagebuch: "Hoffen wir, dass Du mal ein tapferer,
tüchtiger Mann wirst." Kriegsspiele sind die
"Hauptbeschäftigung" der Familie während der Ferien:
"Uniformen, Fahnen, Appelle, mindestens vier Stunden "Dienst" am
Tag halten die Kinder-Soldaten auf Trab. 1918 wird dieses Bild zwar
gestört, ändert aber nichts ändert sich an dem
nationalen Pathos und der Erschütterung, mit der die Familie
und auch Hans Georg auf das Ende des Kaiserreichs reagieren.
Verehrung und Ablehnung
Wibke Bruhns verfolgt die große Familie - sie selbst hat
vier Geschwister - über fünf Generationen. Auch wenn es
primär keine Geschichte des Nationalsozialismus und des 20.
Juli 1944 ist, so ist sie es auf einer zweiten Ebene: Indem sie
anhand der eigenen Familie die Kontinuitäten einer
Gedankenwelt beschreibt, die sich von einer militaristischen
Kaiserverehrung über die Ablehnung der Weimarer Republik bis
hin zum Nationalsozialismus ziehen. Das steht keineswegs im
Widerspruch zum Attentat auf Hitler, das Hans Georg Klamroth durch
sein Schweigen deckte und ermöglichte. Im Gegenteil: Es waren
genau diese Kontinuitäten, in denen die Autorin die Motive
erkennt: "Diese Offiziere wollten ein zweites Versailles vermeiden,
sie opponierten gegen Hitlers Inkompetenz als Oberster Kriegsherr,
es ging ihnen um ein erträgliches Kriegsende, nicht um
Sühne für untilgbare Schuld. Die Größe
Deutschlands, die deutsche Ehre stand auf dem Spiel, diese
gottverdammte Fahne, die sie besuldelt sahen."
Nach anfänglichem Zögern - der Pöbel der
SA-Truppen ist HG zuwider - entwickelt sich die Familie nach 1933
im damaligen Sinne vorbildlich. Hans Georg tritt in die NSDAP ein,
später auch in die SS; seine Frau Else, notiert über eine
Reise durch Deutschland 1935: "Es waren wirklich sehr patriotische
Gefühle, die uns beim Durchfahren bewegten, und unentwegt
sangen wir ?Deutsch ist die Saar' und riefen ?Heil-Hitler'."
Solange die Wehrmacht gewinnt, ist die Welt in Ordnung. Mit der
Kapitulation von Stalingrad im Januar 1943, der zunehmenden
Belastung durch den Kriegsalltag - das Haus in Halberstadt ist voll
von obdachlos gewordenen Flüchtlingen - wird diese
Gedankenwelt erschüttert, wenn auch nicht grundsätzlich.
"Ich weiß die Wahrheit nicht", schreibt Bruhns
schließlich über die Haltung des Vaters zu seiner
Mitwisserschaft über den 20. Juli. Die Unterlagen, meistens
von der Gestapo vernichtet, lassen nur Andeutungen zu.
Zeitgleich leidet auch der familiäre Zusammenhalt mit der
Entfremdung der Eltern. Der Vater hat das Vertrauen der Mutter
durch zahlreiche Affären verspielt und kann es auch in
verzweifelten Versuchen bis zu seinem Tod 1944 nicht
wiedergewinnen. Ein Umstand, der die Tochter besonders schmerzt.
Für die Mutter bleibt HG zeitlebens eine "offene Wunde" und
für die Tochter deshalb ein Fremder. Mit diesem Buch gelingt
Wibke Bruhns nun eine einfühlsame und zugleich kritische
Annäherung an die Elternwelt.
Wibke Bruhns
Meines Vaters Land.
Geschichte einer deutschen Familie.
Econ-Verlag, München 2004; 386 S., 22,- Euro
Die Autorin ist Volontärin in der Redaktion "Das
Parlament".
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