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Tanjev Schultz
Beängstigend großartige Zeit- und
Milieuschilderung
Wiedergelesen: Oskar Maria Graf
Es gibt Erzählungen, die so eindringlich sind, dass sie
keiner besonderen Kunstgriffe bedürfen, um ihre Kraft zu
entfalten. Oskar Maria Grafs Roman "Unruhe um einen Friedfertigen",
den der List-Verlag in einer schönen Edition neu aufgelegt
hat, die auf der Erstausgabe von 1947 und den Korrekturen in Grafs
Handexemplar beruht, ist so ein Fall.
In einem nicht kühlen, aber unsentimentalen Ton und in
präzisen, schmucklosen Sätzen erzählt Graf die
Geschichte des Schusters Julius Kraus, eines konvertierten
galizischen Juden, der sich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in
einem oberbayerischen Dorf niederlässt, seine Herkunft
verschweigt, Politik und Klatsch meidet und alles daran setzt, sein
Leben so unauffällig wie möglich zu führen.
Doch im Auf und Ab von Weltkrieg, Revolution, Weimarer
Demokratie und Hitler kann das nicht gelingen. Und es gelang schon
früher nicht. Als Jugendlicher verlor der Schuster seine
Familie - ermordet während eines Pogroms in Russland. In
Bayern stirbt seine Frau, sein Sohn verschwindet über Nacht
nach Amerika. Sein stilles Leiden lässt den Schuster schrullig
werden. Eigenbrötlerisch brummelt er vor sich hin, ist kaum
jemandes Freund und niemandes Feind. Wie alle besucht er sonntags
die Kirche, der Freiwilligen Feuerwehr dient er als
Schriftführer.
Dank seiner intimen Kenntnis von Land und Leuten zeichnet Graf,
der am Starnberger See aufwuchs, ein realistisches Sittenbild des
bayerischen Dorflebens zwischen 1914 und 1933. Der anarchistische
Heimatdichter schrieb den Roman im New Yorker Exil, einige Jahre
nachdem er den Bücherverbrennern aus Empörung, dass seine
Werke nicht für den Scheiterhaufen gelistet waren,
entgegenschleuderte: "Verbrennt mich auch!"
Wer begreifen möchte, wie sich der Nationalsozialismus im
ländlichen Bayern durchsetzen konnte, dem erteilt das Buch
unaufdringlichen Unterricht. So derb Graf bisweilen sein konnte, so
sehr war er doch ein Meister der differenzierten Beobachtung. Seine
Bauern fügen sich nicht in simple Muster. Die bayerischen
Dörfler waren nicht alle so frömmelnd oder faschistoid,
wie man es sich leichthin zurechtlegen mag. Hitler, der
"hergelaufene Österreicher", hat unter Grafs Figuren
zunächst wenige Anhänger.
Ausgerechnet der Bürgermeistersohn kehrt jedoch als
militaristischer und antisemitischer Eiferer aus dem Krieg
zurück, treibt seinen Vater damit in die Raserei und den
Schuster und das Dorf in die Katastrophe. Aus heiterem Himmel
trifft den alten Kraus gegen Ende der Weimarer Zeit ein
"beschissenes Glück": Er erbt das Vermögen seines zu Geld
gekommenen und verunglückten Sohnes aus Amerika. Das Geld ist
ihm eine einzige Belastung; nichts wünscht der Schuster
sehnlicher, als unbehelligt bei seinem Leisten zu bleiben.
Kurzerhand verschenkt Kraus das Geld, doch in Ruhe wird er nicht
gelassen. Seine jüdische Herkunft wird durch die Erbschaft
öffentlich; als Hitler Kanzler wird, tobt der Nazi-Mob durchs
Dorf und prügelt den betagten Schuster zu Tode.
Oskar Maria Graf
Unruhe um einen Friedfertigen. Roman.
List Verlag, München 2004; 479 S., 14,95 Euro
Tanjev Schultz ist Redakteur der "Süddeutschen
Zeitung".
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