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Johannes L. Kuppe
Argumente und Befürchtungen
Nordrhein-Westfalen: Kärrnerarbeit vor Ort
- Thierse in Bonn
Ein lauer Vorfrühlingsabend in Bonn, vom Redner, dem
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, als angenehm vermerkt.
Die Bonner SPD-Bundestagsabgeordneten hatten zur Debatte mit ihm
geladen. Schnörkellos und leidenschaftlich zugleich seine
Diagnose gleich zu Beginn. Man habe mit einem schwer
überwindbaren Dilemma zu kämpfen: Die Bevölkerung
wolle einerseits mit großer Mehrheit Reformen, beklage aber
andererseits mangelnde Handlungsfähigkeit der Regierung, die
doch gerade ernsthaft mit Reformen begonnen habe.
Hierfür Verständnis einzuwerben, sei deshalb so
schwierig, weil man sich zunächst einmal, so Thierses Appell,
auf die veränderten Realitäten einlassen müsse. Es
gehe nicht nur darum, die eingeleiteten Reformen samt Konsequenzen
nur besser zu erklären. Gefordert ist jetzt auch die Einsicht,
dass Politik und Gesellschaft am Anfang eines tiefgreifenden
Umbruches stehen, wie ihn Deutschland nach dem Krieg noch nicht
erlebt hat.
Vorläufig gebe es, so Thierse, keine
Wohlstandszuwächse mehr zu verteilen. Das stelle
naturgemäß hauptsächlich die Gewerkschaften vor
Begründungsprobleme und neue Handlungsalternativen.
Während der ökonomisch-technologische Wandel ein enormes
Tempo erreicht habe, seien die Entscheidungsprozeduren der
parlamentarischen Demokratie von Natur aus und gewollt langsam und
hinkten dem hinterher. Hinzu kämen die noch immer
milliardenschweren, aber notwendigen und von niemandem infrage
gestellten Transferleistungen für die neuen Länder, der
Alterungsprozess in der Bevölkerung mit seinen
unausbleiblichen und teuren Folgen für die sozialen
Sicherungssysteme und der Umstand, dass nachholende Reformen, die
die SPD jetzt wegen der Versäumnisse der letzten 20 Jahre
vornehmen müsse, immer sehr viel teurer als rechtzeitige
seien. Heute lebe man - Thierse weiß es aus eigener Erfahrung
- in einer Medienlandschaft, die sich, von Ausnahmen abgesehen,
"ständig an Dramatisierungen" versuche und nicht mehr zwischen
einem Diskussionsbeitrag, einem Denkanstoß, einem
Referentenentwurf, einer Gesetzesvorlage und einem Gesetz
unterscheiden könne - oder wolle.
Auf die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit als
größte aller sozialen Ungerechtigkeiten richteten sich
alle eingeleiteten Maßnahmen. Was man in den 70er-Jahren unter
sozialer Gerechtigkeit verstanden habe, müsse heute, unter den
Bedingungen eines brutalen globalen Wettbewerbs, mit neuem Inhalt
gefüllt werden. Es sei bedauerlich, dass sich offenbar keine
Zeitung dafür interessiere, dass sechs Vorstandsmitglieder der
Deutschen Bank mehr als alle 600 Bundestagsabgeordneten zusammen
verdienten, dass aber die leidige Praxisgebühr, die zudem noch
die Union in das Gesundheitsreformpaket hineingezwungen habe, der
SPD "an die Backe geklebt" werde.
Thierses Forderung, ohne Verzicht auf sozialdemokratische
Grundpositionen die Balance zwischen Gleichheit und Freiheit neu
auszutarieren, zielt mitten hinein in die alte sozialdemokratische
Seele. Die Debatte zeigte, dass Umdenkungsprozesse in der SPD nur
langsam in Gang kommen. Johannes L. Kuppe
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