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"Die Deutschen haben zu wenig Vertrauen in sich
selbst"
Interview mit Horst Köhler, Kandidat
für das Amt des Bundespräsidenten von CDU/CSU und
FDP
Am 23. Mai wählt die Bundesversammlung in
Berlin einen neuen Bundespräsidenten. Nominiert für die
Wahl wurden von CDU, CSU und FDP der inzwischen von seinem Amt
zurückgetretene IWF-Vorsitzende Horst Köhler und von SPD
und Grünen Gesine Schwan, Präsidentin der
Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Das Interview
mit Gesine Schwan erschien in "Das Parlament" Nr. 15/16 vom 5.
April.
Das Parlament
Herr Professor Köhler, Sie sind vor zwei
Monaten von der Union als Kandidat für das Amt des
Bundespräsidenten nominiert worden. Sie haben in den
vergangenen sechs Jahren in Großbritannien und den USA gelebt.
Nun sind Sie erstmals wieder für einen längeren Zeitraum
in Deutschland. Was haben Sie über Deutschland in dieser Zeit
gelernt?
Horst Köhler Nach sechs Jahren im
Ausland finde ich Deutschland liebenswerter und interessanter denn
je. Es ist vor allem die Vielfalt Deutschlands, die
unterschiedlichen Dialekte und Landschaften, die ich im Moment sehr
stark wahrnehme. Außerdem weiß ich durch meine
frühere Tätigkeit beim Internationalen
Währungsfonds, dass andere Gesellschaften auch ihre Probleme
haben. Da relativiert sich manches. Tatsache ist aber auch, dass
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wirtschaftlich an
Boden verloren hat. Momentan spüre ich bei den Deutschen eine
große Verunsicherung. Und manchmal habe ich sogar das
Gefühl, es ist Angst, die die Menschen umtreibt. Gut ist: Die
meisten Bürger akzeptieren, dass man die Reformdiskussion
führen muss und Reformen braucht. Aber die Bürger wissen
noch nicht so recht, ob das Reformen sind, die ihnen wirklich
weiter helfen und in ihrem Interesse sind. Insofern herrscht
Konfusion. Hinzu kommt eine Verunsicherung über das, was sich
in der Welt abspielt. Wir reden über Globalisierung. Die
Menschen wissen aber nicht, was das eigentlich ist. Wie wirkt sich
das auf mein Leben, auf mein Land aus? Wo wird künftig
Deutschlands Platz in der Welt sein? Werden wir unseren Wohlstand
halten können? Wie sollen wir mit dem bedrohlichen Thema
Terrorismus umgehen? All das sind Fragen, die sich nach dem Fall
des Eisernen Vorhangs stellen.
Das Parlament
Wir sind in einem Suchprozess ohne
Konzepte?
Horst Köhler Wir haben sicherlich auf
viele Fragen noch keine schlüssigen Antworten. Aber jedenfalls
bewegt sich endlich etwas in Deutschland mit der Agenda 2010 und
den noch weiter gehenden Reformvorschlägen von Union und FDP.
Jetzt müssen diese Konzepte allerdings auch in die Tat
umgesetzt werden, damit wieder neue Arbeitsplätze in
Deutschland entstehen und auch unsere Kinder noch die Chance auf
eine gute Zukunft haben. Was die Frage der Globalisierung angeht,
stimme ich ausdrücklich mit Bundespräsident Johannes Rau
überein, wenn dieser fordert, dass die Globalisierung der
politischen Gestaltung bedarf. Das Ende des Ost-West-Konflikts,
über das wir uns alle gefreut haben, hat gewaltige Kräfte
freigesetzt, deren ganze Wirkung wir noch gar nicht voll
abschätzen können. Leider haben wir bislang noch keine
strukturierte Diskussion über eine neue Weltordnung
geführt.
Das Parlament
Können Sie eine neue Weltordnung
skizzieren?
Horst Köhler In meiner Zeit als IWF-Chef
habe ich mir vor allem Gedanken darüber gemacht, wie man eine
bessere Globalisierung erreichen kann, also eine Globalisierung,
die für alle Menschen auf diesem Planeten ein besseres Leben
schafft. Die wichtigste Aufgabe ist der Kampf gegen die weltweite
Armut. Die Vereinten Nationen haben sich zum Ziel gesetzt, die
Weltarmut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Dies setzt aber eine
gleichermaßen große Anstrengung auf Seiten der armen und
der reichen Länder voraus. Das Konzept hierfür wurde 2002
auf der Entwicklungskonferenz im mexikanischen Monterrey definiert.
Dieses Konzept muss jetzt Wirklichkeit werden. Hier reden mir die
reichen Länder noch immer zu viel und machen zu
wenig.
Das Parlament
Können Sie das erklären?
Horst Köhler Nehmen Sie die Subventionen
im Agrarbereich: Hier sind die Europäische Union und die USA
nach wie vor große Sünder. Während diese Länder
Marktwirtschaft predigen, subventionieren sie ihre eigenen Produkte
so massiv, dass sie Anbietern aus armen Ländern das Leben
zusätzlich schwer machen. In der OECD, also in den reichen
Ländern, werden rund 300 Milliarden Dollar pro Jahr für
Subventionen ausgegeben. Die offizielle Entwicklungshilfe dieser
Länder beläuft sich dagegen lediglich auf rund 55
Milliarden Dollar pro Jahr. In dieser riesigen Differenz
drückt sich auch ein Stück Unglaubwürdigkeit der
Entwicklungspolitik aus. Zum Glück geht die jetzt begonnene
Diskussion um die EU-Agrarreform in die richtige
Richtung.
Das Parlament
Und Deutschland spricht auch mit gespaltener
Zunge?
Horst Köhler Sie können in das
Haushaltsgesetz des Bundes für 2004 schauen und dort
feststellen, dass der Anteil der Entwicklungshilfe 0,25 Prozent
beträgt. Aber die Vereinten Nationen fordern schon seit mehr
als 30 Jahren, dass 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts von den
Industrieländern als Entwicklungshilfe geleistet werden soll.
Dies macht deutlich, dass die Entwicklungshilfe in der politischen
Prioritätenliste nicht sehr weit oben steht. Insgesamt leistet
Deutschland aber einen konstruktiven Beitrag, insbesondere was die
technische Zusammenarbeit angeht. Viel zu lange haben wir die Rolle
intakter Institutionen für Demokratie und Marktwirtschaft
unterschätzt. Insbesondere in Afrika geht es darum, ein
funktionierendes Staatswesen aufzubauen, etwa um der Korruption
beizukommen.
Das Parlament
Sie glauben, dass Deutschland schon aus
eigenem wohlverstandenem Interesse "eine Welt" denken muss?
Letztendlich ist das die Konsequenz aus der
Globalisierung?
Horst Köhler Wir müssen in den
Industrieländern noch besser begreifen, dass Wohlstand und
politische Stabilität bei uns wesentlich auch davon
abhängen, was im Rest der Welt geschieht. Bereits vor einiger
Zeit habe ich sechs Grundgedanken zur Gestaltung der Globalisierung
formuliert. Erstens: Jedes Land muss die Rückwirkungen seiner
Politik auf die Nachbarn, und vor allem auf die Armen dieser Welt,
berücksichtigen. Zweitens: Die Eigenverantwortung der armen
Länder muss gestärkt und nicht geschwächt werden.
Drittens: Wir brauchen einen globalen Ordnungsrahmen für das
internationale Handels- und Finanzwesen und den Schutz der Umwelt
als globales öffentliches Gut. Viertens: Die Bekämpfung
der weltweiten Armut muss in der Zielhierarchie der
Industrieländer ganz nach oben rücken. Fünftens: Wir
müssen die Vielfalt der Kulturen und der Schöpfung auf
diesem Planeten als Reichtum anerkennen und respektieren.
Sechstens: Eine globale Welt braucht ein globales Ethos, also
weltweit akzeptierte Grundnormen ethischen Verhaltens.
Das Parlament
Die Entwicklung im Irak ist
besorgniserregend. Womöglich installiert sich nach dem Abzug
der Amerikaner am 30. Juni ein Gottesstaat. Die von Ihnen
beschriebene Weltordnung findet dort nicht einmal in Ansätzen
statt.
Horst Köhler Zunächst einmal muss
ich Sie korrigieren: Die Amerikaner werden am 30. Juni nicht aus
dem Irak abziehen, sondern haben lediglich die Absicht, die
Regierungsgewalt an die Iraker zu übergeben. Das ist zu
begrüßen. Sicherlich haben die Amerikaner, ebenso wie die
Europäer, Fehler gemacht. Jetzt kommt es aber darauf an, nach
vorn zu schauen. Die internationale Gemeinschaft muss unter
Führung der Vereinten Nationen zusammenstehen, um Sicherheit
und Wiederaufbau im Irak möglich zu machen. Ich
persönlich denke, dass sich gerade die Deutschen in dieser
schwierigen Zeit als Freunde der Amerikaner erweisen
sollten.
Das Parlament
Was muss jetzt konkret passieren?
Horst Köhler Ich hoffe, dass die
Vorschläge des UN-Sonderbotschafters Lakhdar Brahimi für
die Übergabe der Souveränität an den Irak auf die
notwendige Zustimmung stoßen. Die Koalition muss weiterhin
für die Sicherheit im Irak sorgen und die internationale
Gemeinschaft die konkreten Beiträge für den Wiederaufbau
definieren.
Das Parlament
Die EU-Erweiterung ist gerade zwei Tage alt.
Ihre Eltern waren deutschstämmige Bauern im rumänischen
Bessarabien (heute Moldawien). Ihre Familie wurde vor ihrer Geburt
1943 nach Ost-Polen umgesiedelt. Ihre Mutter floh aus Polen mit
Ihnen als einjährigem Kind und vier weiteren Geschwistern vor
der Roten Armee gen Westen in die Gegend um Leipzig. Was haben Sie
für Erinnerungen an die schwierige Zeit?
Horst Köhler Über Polen kann ich
nicht viel erzählen, da war ich noch zu klein. Aber ich
weiß, dass vor allem meine Mutter
traumatische Erlebnisse hatte. An die Zeit in
Markkleeberg bei Leipzig erinnere ich mich dagegen gut. Ich hatte
eine vergleichsweise unbeschwerte Kindheit. Ich war noch nicht alt
genug, um die Schattenseiten des Sozialismus zu erleben. Und meine
Eltern und wir Kinder lebten auf einem Bauernhof. Da hatten wir
viel Platz zum Spielen in der Scheune oder mit den Tieren. Ich bin
gern mit meinem Vater hinaus gefahren, wenn er das Feld bestellt
hat. Es gab aber zwei Dinge, an denen ich merkte, dass irgendetwas
nicht stimmte. Der direkte Nachbar war ein ausgewiesener Kommunist,
ein Hardliner, würde man wohl heute sagen. Der hat uns
ständig malträtiert, und meine Mutter hat mehrmals
über den Zaun hinweg mit ihm gestritten.
Kurz vor Weihnachten 1952 wurde mein Vater
wegen einer Schwarzschlachtung verhaftet. Der Fleischer, bei dem
wir ein Schwein hatten schwarz schlachten lassen, war verraten
worden. Schwarzschlachtungen waren in der Ostzone ein schweres
Vergehen. Es gab ständig Kontrollen, wie viele Tiere man
hatte, und entsprechend musste man dann abliefern. Der Anlass
für unsere Schwarzschlachtung war eigentlich eine schöne
Geschichte: Als unsere Sau Junge bekam, hatte mein Vater
zunächst gedacht, eines davon sei tot. In der rauen
Bauernwirklichkeit wurde das tote Ferkel auf den Misthaufen
geworfen. Einer meiner Brüder hat schließlich bemerkt,
dass das kleine Ferkel noch lebte. Er hat das Ferkel vom Misthaufen
genommen und in die Küche gebracht. Mein Bruder und meine
Mutter haben es mit der Flasche aufgepeppelt. Daraus wurde dann ein
kapitales Schwein, und das war nicht im sozialistischen Planungs-
und Kontrollsystem vorgesehen. Mein Vater kam dann erst kurz vor
Silvester aus der Untersuchungshaft zurück, und es war dann
klar, dass wir es in der Ostzone nicht mehr aushalten konnten.
Ostern 1953 sind wir dann geflohen. Da war ich zehn Jahre
alt.
Das Parlament
Wie hat sich Ihre Familie
durchgeschlagen?
Horst Köhler Wir sind zunächst nach
West-Berlin geflohen und haben für mehrere Monate in einem
Notaufnahmelager gelebt. Das war eine Turnhalle, in der viele
Familien untergebracht waren. Dann haben wir in
Flüchtlingslagern in Weinsberg, Back-nang und Ludwigsburg
gelebt. Wir haben erst viereinhalb Jahre nach der Flucht eine
eigene Wohnung bekommen.
Das Parlament
Wie haben Sie die Zeit erlebt? Wie haben Sie
es in dieser Situation überhaupt geschafft, auf das Gymnasium
zu kommen?
Horst Köhler Ich hatte keine Vorstellung
davon, aufs Gymnasium zu gehen. Meine Eltern waren ganz einfache
Leute, Bauern. Und auch sonst ging keines meiner Geschwister auf
eine höhere Schule. Bei mir war es Glück und Zufall. Ein
sehr aufmerksamer Lehrer, der Lehrer Balle, der hat dafür
gesorgt, dass ich aufs Gymnasium kam. Ich war ihm offenbar
aufgefallen. Im Flüchtlingslager musste ich mich in einem ganz
schön rauen Umfeld behaupten. Viele Menschen lebten auf engem
Raum zusammen. Die meiste Zeit haben wir als Familie in einem
Zimmer mit vier bis sechs anderen Familien gelebt. Wir hatten eine
Ecke mit drei Stockbetten. Diese Zimmerecke wurde mit grauen
Militärdecken abgehängt. In der Mitte stand ein kleiner
Tisch. 1956 haben wir in Ludwigsburg als Familie ein eigenes Zimmer
bekommen. Das empfanden wir wie ein kleines Schloss. Als wir 1957
eine Dreizimmerwohnung bekamen, haben wir geglaubt, jetzt sind wir
wirklich angekommen. Jetzt haben wir ein Zuhause.
Das Parlament
Wie hat Sie das bis heute
geprägt?
Horst Köhler Mir war immer bewusst, dass
einem im Leben nichts geschenkt wird. Man muss für alles
arbeiten. Wir waren aber trotzdem dankbar, dass wir aus der
sowjetischen Besatzungszone heraus kamen. Wir hatten begriffen, was
Freiheit ist. Meine Eltern hatten dann auch diskutiert, was sie
wählen sollten. Das war für sie eine völlig neue
Erfahrung, da es in der Ostzone keine wirkliche demokratische
Alternative gab. Ich selbst hatte das Glück, eine gute
Ausbildung zu erhalten und einen steilen beruflichen Aufstieg zu
erleben. Dafür bin ich noch heute dankbar.
Das Parlament
Sie haben einmal gesagt, man muss wissen, wo
man seine Wurzeln hat, und die soll man auch nicht verdorren
lassen. Wo sind Ihre Wurzeln?
Horst Köhler Das ist nicht so einfach.
Die Eltern aus Bessarabien. Geboren in Polen, bis zum zehnten
Lebensjahr in der sowjetischen Besatzungszone und dann in
Süddeutschland, was ich als meine Heimat betrachte. Dieses
Leben hat mein Bewusstsein geschärft, dass man etwas braucht,
wo man seine Verankerung hat. Die Verankerung ist als erstes mein
Elternhaus und dann meine Familie mit meiner Frau und meinen zwei
Kindern. Ich bin seit 35 Jahren verheiratet. Und wenn man im
Ausland lebt, wächst auch die Verbundenheit mit dem eigenen
Land. Für meine emotionale Verankerung ist der Glaube an Gott
wichtig. Meine Eltern kamen aus einer bäuerlichen, einfachen
Welt. Aber sie hatten ein unmittelbares, fast naives
religiöses Verständnis, dass es da etwas gibt, was der
Mensch nicht mit seinem Verstand erfassen kann, aber braucht, um
sich in der Welt Ordnung und Zuversicht zu erhalten. Dieses
Erleben, Zuversicht aus dem Glauben zu nehmen, hat mich von der
frühesten Kindheit an geprägt und mir in meinem Leben
immer wieder geholfen. Ich habe mich in schwierigen Situationen
immer wieder gefunden, indem ich mich an meinen Konfirmationsspruch
erinnert habe, der da lautet: "Gott lädt uns eine Last auf,
aber er hilft uns auch." Ich glaube, dass ich Verantwortung mir
selbst gegenüber habe, meiner Familie gegenüber, aber
auch Verantwortung gegenüber Anderen, dem Nachbarn, der
Gemeinschaft. Freiheit, von der ich zutiefst überzeugt bin,
dass sie das Beste im Menschen wecken und befördern kann, ist
ein hohes Gut. Aber Freiheit ohne Bindung ist nichts. Freiheit muss
sich in Verantwortung bewähren. Freiheit verstehe ich nicht
als exzessive Individualität. Denn Freiheit heißt eben
auch, Veränderungen im Interesse der Gemeinschaft zu
erreichen.
Das Parlament
Fehlt den Deutschen ihr gerade umschriebenes
Verständnis von Freiheit und Verantwortung?
Horst Köhler Ich glaube, dass uns dieser
fast ungebrochene materielle Wohlstandszuwachs in Westdeutschland
in den vergangenen 30 Jahren ein bisschen eingelullt hat. Wir haben
auf einige gravierende Veränderungen in unserer Gesellschaft -
wie die Alterung der Bevölkerung oder den Wandel der
Arbeitswelt - noch nicht wirklich mit einer neuen Politik reagiert.
Dazu kommt jetzt noch der starke Wettbewerbsdruck. Die Zeiten der
Behaglichkeit sind vorbei. Man muss um Wohlstand und soziale
Sicherheit erneut ringen.
Das Parlament
Sind wir darauf zu wenig
vorbereitet?
Horst Köhler Die Deutschen haben leider
zu wenig Vertrauen in sich selbst. Wenn man kein Selbstvertrauen
hat, wird man ängstlich, zumindest risikoscheu. Wir
müssen wieder lernen, stärker mit Risiken umzugehen -
nicht in der Mentalität eines Spielers, sondern mit der
Bereitschaft, gesellschaftspolitisch neue Wege zu gehen. Wir haben
doch eine unhaltbare Situation: Die Zahl der Geburten geht
kontinuierlich zurück, und die Staatsverschuldung nimmt
gleichzeitig kontinuierlich zu. Ich finde das unverantwortlich,
insbesondere gegenüber unseren Kindern. Wenn Kinderlärm
als störend in der Gesellschaft empfunden wird, dann stimmt
irgendetwas nicht. Für mich ist Kinderlärm die Musik der
Zukunft. Wir müssen eine Diskussion über die
gesellschaftliche Rolle von Frauen und Männern führen.
Frauen wie Männer müssen ihre jeweilige
Berufstätigkeit besser mit ihren Kindern vereinbaren
können. Wir müssen mehr Flexibilität im Arbeitsleben
anstreben. Wenn wir das verstehen, haben wir einen wichtigen
Schritt zur Zukunftsfähigkeit der Deutschen getan.
Das Parlament
Und wie steht es mit dem
Selbstverständnis der Deutschen als Nation?
Horst Köhler Wir sollten zu einem
aufgeklärten Patriotismus finden. Nach meiner Beobachtung sind
die Menschen umso weltoffener, je mehr sie sich ihrer eigenen
Identität bewusst sind. Diese Weltoffenheit ist gerade
für eine Exportnation wie Deutschland wichtig. Es geht also
nicht darum, die nationale Fanfare lauthals anzustimmen. Ziel ist
es vielmehr, ruhiges Selbstvertrauen gegenüber der eigenen
Nation zu entwickeln. Um die Zukunft der Globalisierung zu
gewinnen, könnte es helfen, wenn wir mehr in uns selbst
ruhten.
Das Parlament
Wenn Sie als sehr alter Herr sich eines Tages
in den Lehnstuhl zurücklehnen und auf Ihr Leben blicken. Was
möchten Sie da gern sehen?
Horst Köhler Einen zufriedenen Menschen.
Wenngleich ich nicht weiß, ob das geht, weil ich von Natur aus
ein neugieriger, bisweilen unzufriedener und unruhiger Mensch bin.
Deshalb weiß ich noch nicht, wie ich mein Leben am Ende
bewerten würde. Aber aus der heutigen Sicht und Befindlichkeit
würde ich mich möglicherweise fragen, warum hast du hier
nicht mehr nachgefragt und da nicht mehr erreicht. Aber insgesamt
habe ich viel geschenkt bekommen von Gott. Der hat mir
Fähigkeiten gegeben, die ich gut einsetzen konnte. Und das,
was ich bisher gemacht habe, konnte ich auch am richtigen Platz
machen. Das ist ein gutes Gefühl.
Das Interview führte Annette
Rollmann.
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