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Karl-Otto Sattler
"Platzpatronen bis Sendeschluss"
Vereinigung für Parlamentsfragen diskutiert
/ Politiker und Journalisten
Jagdszenen überall. Bundesbankpräsident Ernst Welteke
muss nach einer Hatz im Blätterwald wegen einer nicht selbst
bezahlten Hotelsause seinen Hut nehmen: Mutet eine derart
drastische Konsequenz nicht völlig
unverhältnismäßig an? Philipp Jenninger und Martin
Hohmann werden von ihrer Partei von der Bühne verbannt
(letzterer wird sogar ausgeschlossen), nachdem sie wegen
antisemitisch interpretierbarer oder missverständlicher Reden
ins mediale Fadenkreuz geraten waren. Die Kanzlergattin beschwert
sich, weil Fotografen ihr Privathaus belagern.
Beispiele dieser Art sind Legion. Viele Fragen aus dem
Zuhörerkreis an Jürgen Engert zielen in diese Richtung:
Treiben es die Journalisten inzwischen nicht zu bunt mit den
Politikern, sind bei den Medien die Sitten nicht verwildert, fallen
nicht zusehends die Hemmschwellen? Es sei für die Medien und
deren Publikum offenbar "reizvoll, wenn jemand von da oben
geschlachtet wird". Da würden doch Personen "hingerichtet",
heißt es einmal. "Jagdfieber? Journalisten und Politiker in
der Berliner Republik" lautet das Thema des Abends, zu dem die
Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen Jürgen Engert
eingeladen hat, den Gründungsdirektor des
ARD-Hauptstadtstudios.
Es wird viel geschossen, sprachlich natürlich. Auch Engert
hantiert mit diesem Bild, wenn er etwa sagt, für die Politiker
seien Medien eine Plattform, von der aus sie "mit Platzpatronen
feuern, bis Sendeschluss ist". Diese Formulierung setzt sich von
der verbreiteten Auffassung ab, Journalisten seien die Jäger
und Politiker das wehrlose zu erlegende Wild. Der TV-Mann spart
keineswegs mit Kritik an seiner Zunft, in deren Reihen er etwa eine
wachsende Neigung zur Missachtung der Privatsphäre von
Politikern konstatiert. Doch wer hetzt eigentlich wen in der
"Berliner Republik", wer bringt wen zur Strecke? Engert schaut
hinter die vordergründige Wahrnehmung: Ja, man könne von
"Jagdfieber" sprechen, "doch Journalisten und Politiker sind
gemeinsam unterwegs, um ein gemeinsames Ziel zu treffen" -
nämlich die Bürger, das Publikum.
Aufmerksamkeit provozieren: Ist das die Jagdtrophäe?
Publicity beim potentiellen Wähler durch öffentliche
(Selbst-)Inszenierung für die einen? Und für die andern
gilt: sich durchsetzen im medialen Konkurrenzkampf durch knallige
Personalisierung der Berichterstattung? TV-Quoten, Auflagenzahlen
und Anzeigenerlöse machen schließlich Druck. Motto:
Morgen treiben wir die nächste Sau durchs Dorf. Engert blickt
nicht nur auf dieses hektisch-aufgeregte Hin und Her im Politik-
und Medienbetrieb. Er ordnet dieses Phänomen vielmehr ein in
tiefe gesellschaftliche und politische Umwälzungen, "eine
Zeitenwende", die eben auch das Verhältnis zwischen Medien und
Politik nicht unberührt lassen.
Engert ortet einen Zustand der "Verwirrung", der
"Verunsicherung", der "Unübersichtlichkeit", bei Politikern,
bei Journalisten, beim Volk. Globalisierung,
Massenarbeitslosigkeit, Biowissenschaften mit weitreichenden
individuellen und gesellschaftlichen Folgen, außenpolitische
Verwerfungen: All das führt zu einer Zäsur: Jedenfalls
ist für den Medienprofi die Biederkeit, die Gemütlichkeit
der "Bonner Republik" mit ihren vergleichsweise festen sozialen und
politischen Strukturen vorbei: "Der Abwicklung Ost folgt die
Abwicklung West." Das Zeitliche gesegnet hat auch die "formierte
Gesellschaft" aus Politik und Journalismus aus der rheinischen
Ära: zwar keine Kumpanei zwischen beiden Seiten, doch ein
System mit ungeschriebenen Konventionen - etwa der
Nichtveröffentlichung von Hintergrundgesprächen oder der
Respektierung des Privatlebens von Promis.
Und nun die "Zeitenwende", den die neue Hauptstadt sozusagen auf
den Nenner bringt: Berlin als "wirkliche, als große Stadt mit
ihrer Unordnung und unstrukturierten Vielfalt" repräsentiere,
so Engert, das gesamte Land in seinem gegenwärtigen Zustand -
"und drückt die Verwirrung von Politik und Gesellschaft aus".
Nebenbei erläutert er die Ursache des enormen Runs von
Nachwuchsjournalisten in dieses Metier: Für junge Leute sei
nun mal Berlin als Stadt ohne soziale Kontrolle attraktiv und
spannend.
Die Politik, die Sache, irrt umher, hat kein klares Ziel. Wohin
soll die Reise gehen? Man weiß es nicht. Die Flinten
schießen nicht präzise, wohin denn auch, sie streuen, und
der Schütze hofft, irgendwas zu treffen. In dieser
aufgelösten Situation "schieben sich die Personen vor die
Sache", lautet Engerts Befund. Die Präsentation wird wichtiger
als der Inhalt. Heute will der Politiker Ansehen, Wählergunst,
politische Legitimation durch Inszenierungen und
Selbstinszenierungen auf der Medienbühne erringen. Der
TV-Mann: "Die Mediendemokratie ist eine Verfahrenstechnik." Die
zentrale Rolle spielt dabei das Fernsehen. Gerhard Schröders
Satz, er brauche nur "Bild" und die Glotze, ist schon legendär
geworden.
Für Engert ist der Kanzler der Vorreiter des neuen
Politikstils. Immerhin habe Schröder, ein Beispiel, einst
unter dem Briefkopf der Hannoveraner Staatskanzlei die Trennung von
seiner damaligen Frau angekündigt. Zu denken ist etwa auch an
Guido Westerwelle im Big-Brother-Container. Richtschnur: Aufsehen
erregen um jeden Preis. 30 Sekunden in der "Tagesschau" oder gar
der Auftritt in einer Talkshow: Darauf kommt es Politikern heute in
erster Linie an. Engert: "Der parlamentarische Werktätige, der
fundiert im Haushaltsausschuss arbeitet, gerät gegenüber
dem guten Selbstdarsteller ins Hintertreffen."
Mit den Umbrüchen in der Politik einher geht aus Sicht
Engerts auch eine Zeitenwende bei den Medien: mehr Verpackung und
weniger Inhalt. Längere Artikel werden zur Rarität. Nicht
mehr Redakteure, sondern Designer bestimmen das Erscheinungsbild
von Zeitungen - hin zu größeren Bildern, zu dickeren
Überschriften, eben zu weniger Text. Nicht zu vergessen ist
die personelle Ausdünnung von Redaktionen wegen der
wirtschaftlichen Krise bei nicht wenigen Verlagen, "mit Schnitten
auch in die Substanz", betont Engert.
In dieser Gemengelage wächst die Neigung, mit der schnellen
fetten Schlagzeile Aufmerksamkeit für den Augenblick zu
erhaschen. Affären, Skandale, auch Privates von Promis sind da
ein ideales Futter. Beliebt sind auch jene Politiker, die gegen die
eigene Partei zu Felde ziehen. Häufig werden "Indiskretionen"
aus Hintergrundgesprächen publiziert, was Politiker
übrigens immer weniger stört.
So bilden denn Journalisten und Politiker eine illustre
Jagdgemeinschaft auf der Pirsch nach öffentlicher Resonanz.
Jürgen Engert gefällt diese Entwicklung offenkundig
nicht, er hätte es gern seriöser. Doch so läuft es
nun mal. Den meisten Diskutanten an diesem Abend missfällt die
ungezügelte Hatz der Medienmeute auf Politiker. Eines
kristalliert sich während der Debatte aber heraus: Wenn Promis
ihrerseits ihr Privatleben öffentlich präsentieren, dann
müssen sie es hinnehmen, wenn Journalisten auch in misslichen
Situationen zupacken. Karl-Otto Sattler
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