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Sylvia-Yvonne Kaufmann
"Soziale Gerechtigkeit" als Wert
Die PDS zur Europawahl
Die Vereinigung ist auf den Weg gebracht. Mit acht
mittelosteuropäischen Staaten, dem leider nach wie vor
geteilten Zypern und Malta wurde die EU kräftig aufgestockt.
Entstanden ist ein riesiger Binnenmarkt, in dem 450 Millionen
Menschen leben, die wiederum ein Viertel der
Weltwirtschaftsleistung erbringen. Es ist nicht das Ergebnis des
Vernichtungswerkes eines Krieges, sondern der
Wirkungsmächtigkeit politischer Interessen, des Rechts und vor
allem der Ökonomie. Das lässt hoffen. Andererseits
bleiben Ängste und es kommen neue hinzu - sowohl in den alten
als auch in den jungen Mitgliedstaaten. Niemand weiß genau,
wie das "Europa der 25" mit dem Großteil seiner
Bevölkerung sozial umgehen wird und welche Rolle es
international als globaler Akteur spielt. Auch der noch als Entwurf
vorliegende Verfassungsvertrag, der die Union zwar
handlungsfähig erhält und demokratischer macht, schafft
wegen signifikanter Widersprüche keine endgültigen
Klarheiten.
In der Tat steht die EU vor Herausforderungen, die einmalig in
ihrer Geschichte sind. Die dramatischen Folgen des
völkerrechtswidrigen Krieges der USA gegen den Irak lassen nur
eine Schlussfolgerung zu: Die EU muss sich als Zivilmacht
profilieren, wenn sie zukunftsfähig werden will. Ihre
wachsenden politischen und ihre enormen wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Möglichkeiten müssen für mehr
Entwicklungshilfe und zur Konfliktprävention eingesetzt
werden, wozu auch die Aufstellung eines zivilen Friedenscorps
für den Einsatz in Krisen- und Katastrophengebieten
gehört. Schon vor Jahren hatte dazu das Europäische
Parlament Vorschläge unterbreitet.
Leider sieht die Wirklichkeit anders aus: Wie 1999 vom
Europäischen Rat beschlossen und in der Verfassung
festgeschrieben, soll sich die EU zu einem Abziehbild
US-amerikanischer Militärmachtentfaltung mit transatlantischer
Loyalität entwickeln. Auch zeigt die Verfassungsauflage nach
stetiger Verbesserung der nationalen Militärpotenziale bereits
Wirkung. Rüstungsunternehmen legen kräftig zu, und 2003
übertraf die EU im internationalen Waffenhandel erstmals die
USA. Obwohl in der Verfassung zivile Konfliktlösungen
Militärmaßnahmen vorgeschaltet sind und die Achtung der
UN-Charta bekräftigt wird, heißt es in der inzwischen
verbindlichen Sicherheitsdoktrin, die EU müsse zur
"frühen, schnellen und - falls nötig - robusten
Intervention" bereit sein, was offenbar die Selbstermächtigung
nicht ausschließt. Das ist ein Irrweg, der zu korrigieren ist.
Ferner darf nicht länger sein, dass das Europaparlament als
einzig demokratisch gewählte EU-Institution in der Frage von
Krieg oder Frieden wie bisher nichts zu sagen hat.
In sozialer Hinsicht vermittelt die größer gewordene
EU ebenfalls ein diffuses Bild, wobei auch hier der
Verfassungsentwurf nicht eindeutig ist. Er lässt in seiner
jetzigen Fassung zwei Wirtschaftsphilosophien zu, die wie Feuer und
Wasser zueinander stehen: "offene Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb" und eine "wettbewerbsfähige soziale
Marktwirtschaft". Ein soziales "roll back" ist möglich, wenn
es nicht gelingt, hohe Sozialstandards auf europäischer Ebene
zu vereinbaren. Voraussetzung dafür ist die schrittweise
Angleichung der Sozial- und Steuerpolitik in allen Mitgliedstaaten.
Andernfalls können Menschen und Staaten gegeneinander
ausgespielt werden, Konzerne und Banken bleiben die einzigen
Gewinner und in den alten Mitgliedsländern steigt der Druck
zur "Flexibilisierung" der Arbeitsmärkte sowie zum weiteren
Abbau der Sozialsysteme.
Mit den neuen Mitgliedsländern droht noch mehr Steuer- und
Sozialdumping. Hinzu kommt, dass deren neue Eliten oft sehr
wertkonservative Vorstellungen vertreten, die künftig noch
stärker auf die in der alten EU meist anerkannten sozialen
Verhaltensnormen prallen werden. Schon im Verfassungskonvent habe
ich das erlebt. So wollten die meisten Konventsmitglieder aus den
EU-Mitgliedstaaten quer durch alle Parteien "soziale Gerechtigkeit"
als zwar immer umkämpften, aber dennoch anerkannten Wert in
die Verfassung aufnehmen, während ihn viele Kollegen der
Beitrittsländer grundsätzlich in Frage stellten. Soziale
Gerechtigkeit könne nicht staatlich verordnet werden, und ein
Zurück in den Staatssozialismus dürfe es mit der EU nicht
geben, meinten sie. Ein anderes Beispiel liefert der
Stabilitäts- und Wachstumspakt, der dringend modifiziert
werden muss, um in Krisenzeiten nationale Investitionsprogramme mit
dem Ziel aufzulegen, Wachstum und Beschäftigung zu
fördern. Während dies in Paris, Berlin und Brüssel
diskutiert wird, bestehen einige neue EU-Mitglieder auf strikte
Einhaltung und prangern die Defizitsünder sogar wegen
"Reformstau" an.
Alles das verunsichert Bürgerinnen und Bürger. Um sie
wieder stärker an Europa heranzuführen, tut eine breite
Debatte darüber Not, wie die gemeinsame europäische
Zukunft gestaltet werden soll. Auch deshalb plädiere ich
für einen EU-weiten Volksentscheid über die Verfassung am
8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und
Vorabend des Europatages.
Sylvia-Yvonne Kaufmann ist Abgeordnete des Europäischen
Parlamentes und Spitzenkandidatin der PDS.
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