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Hermann Glaser
Endlos geschwätzige Verdummungsorgien
Schmähschrift wider die Medien
Wilhelm Hennies, Nestor der Politologie,
bezeichnete kürzlich die gegenwärtige politische Klasse
als vollständige "Fehlbesetzung". Das Pamphlet von Walter van
Rossum wirkt wie eine in Fortissimo gehaltene Variation zu einer
solchen Feststellung. Die faktenreiche Streit- und
Schmähschrift - die Demokratie braucht solche investigative
Publizistik - widmet sich dabei in Fallstudien unter anderem dem
"restlos gescheiterten" Jürgen W. Möllemann ("von ihm
bleibt nur der Wind, den er gemacht hat") und dem neoliberalen
früheren Wirtschaftsminister Günter Rexrodt und seinen
Nebentätigkeiten.
Der Autor attackiert auf breiter Front: Von
Gerhard Schröder heißt es, dass er beim Irak-Krieg nicht
von moralischen oder weltpolitischen Erwägungen bestimmt
gewesen sei, sondern weitgehend von wahltaktischen. Der
frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf
erscheint als ein Mann, der jahrelang die "Staatskasse mit seinem
Spesenkonto" verwechselt und sein Land "mit Hilfe von aberwitzigen
Transfergeldern als eine Hochburg der Arbeitslosigkeit" verstetigt
habe.
Siemens-Chef Heinrich von Pierer wird von
Walter van Rossum beschrieben als der "eisige und reichlich
ungehobelte Interessenvertreter einer riesigen Aktiengesellschaft,
der bei der Umarbeitung der Republik in eine Wirtschaftskolchose"
gerne die Vorhut bilde. Michel Friedman wird ohne philosemitische
Behutsamkeit (die meist nur eine umgekehrte Form des Antisemitismus
ist) in seiner Schamlosigkeit gegenüber ausgebeuteten
osteuropäischen Prostituierten und wegen seiner dann folgenden
mediengeilen Zerknirschung angeprangert.
Was das alles mit Sabine Christiansen zu tun
hat? Sie wird dekuvriert (dämonisiert) als "Agentin" des
bundesrepublikanischen "Juste-milieu" - einer Politik, die nicht
auf klaren und verbindlichen Prinzipien beruht, sondern die
sozusagen von Fall zu Fall entscheidet, wo gerade die wandernden
Normen der Mitte liegen. "Diese Sorte von flexiblem Pragmatismus
ist heute ein entscheidendes Merkmal des politischen Handelns
geworden." In ihrer sonntäglichen Talk-Show würden mit
unschlagbarer journalistischer Unbedarftheit "die Wünsche der
Chefetage ans Volk durchgereicht".
Es war an der Zeit, dass einmal aufgezeigt
wird, "wie das Palaver uns regiert". In der Riege der
Moderatorinnen zeigt Sabine Christiansen auf besondere Weise, und
zwar präzeptoral-elegant - in erheblichem Quoten-Abstand zur
kokett-schelmischen Maybrit Illner und der
süßlich-empathischen Sandra Maischberger -, was
postmoderne Beliebigkeit ausmacht: nämlich
"Inkompetenzkompensationkompetenz" (Odo Marquard). Das kommt gut an
bei einem Publikum, das vom Fernsehen zu "Zerstreuungspatienten"
gemacht wird, die nicht mehr die Anstrengung des Begriffs (also
kritische Aufklärung), sondern die unterhaltsame Show
lieben.
Verpackung ohne Botschaft. Dazu gehört
auch der Gruseleffekt: Mit Hilfe der von ihr eingeladenen
Gäste, die vielfach den höchst dotierten
Wirtschaftseliten angehören, gehe es jeden Sonntag darum,
Deutschland in Gefahr zu wiegen - um es anschließend zu
retten. Dabei wäre freilich kein menschliches Gedächtnis
in der Lage, sich an irgend etwas zu erinnern, etwa an einen
Gedanken, eine These, auch nur ein Thema. Sabine Christiansen
"funktioniert als eine Tonspur in der Endlosschleife mit den stets
gleichen Figuren, die bloß unterschiedliche Namen tragen".
Eine der Glanzleistungen dieses Sonntagspalavers bestehe drin, die
politischen Realitäten schlechthin hinter einer Orgie von
Geschwätz zu verdecken.
Gruseleffekt
Die immer mehr um sich greifende
Medien-Demokratie befördert in der Tat die
gesellschaftspolitische Mediokrität; das Parlament verliert
als Folge der TalkShows, die vorgeben, Orientierung zu geben
(während sie diese lediglich suggerieren) zunehmend an
Bedeutung. Zur 250. Sendung von Sabine Christiansen formulierte
Friedrich Merz (damals Gast) als freundliche Gratulation eine
bittere Wahrheit: "Diese Sendung bestimmt die politische Agenda in
Deutschland mittlerweile mehr als der deutsche Bundestag. Das
betrübt mich, aber das ist ein großer Erfolg."
Es ist dem Verfasser dieser Schrift, die
"nebenbei" aufzeigt, wie stark inzwischen Politik in die Fänge
ei-ner den Sozialstaat diffamierenden Wirtschaft geraten ist (wobei
die Manager, offensichtlich nach dem Motto "après nous le
déluge", rücksichtslos abkassieren), zu danken, dass er
kompromisslos die Gegenposition zur Verdummungsstrategie der
Massenmedien bezieht.
Walter van Rossum
Meine Sonntage mit "Sabine
Christiansen".
Wie das Palaver uns regiert.
Kiepenheuer & Witsch. Köln 2004; 208
S.,
8,90 Euro
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