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Hartmut Hausmann
Grundkonsens über Europäische
Verfassung trotz einiger Vorbehalte Großbritanniens
Schwierige Verhandlungen der Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union
Bei dem Gipfeltreffen der EU am 17. und 18. Juni
in Brüssel zeichnete sich bei den Verhandlungen der EU-Staats-
und Regierungschefs am zweiten Tag eine Einigung über die
Europäische Verfassung ab. Das Ergebnis lag aber bei
Redaktionsschluss ebenso wenig vor, wie ein Beschluss zur Benennung
des neuen Kommissionspräsidenten. "Das Parlament" wird in der
nächsten Ausgabe ausführlich darüber berichten.
Im ersten Anlauf zur Regelung der Nachfolge
von Romano Prodi als Präsident der EU-Kommission hatte sich
die Diskussion auf zwei Kandidaten konzentriert. Deutschland und
Frankreich hielten weiter an dem von ihnen vorgeschlagenen
liberalen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt fest.
Er hätte auch die Unterstützung der meisten anderen
Länder erhalten, nachdem der allgemeine Wunschkandidat, der
Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker, den Posten
eindeutig abgelehnt hatte, weil er seinen Wählern ein
Verbleiben in der nationalen Politik versprochen hatte. Verhofstadt
aber wurde vehement vom britischen Premier Tony Blair als zu
integrationsfreundlich abgelehnt, wohl auch, weil er sich als einer
der Wortführer gegen den Irak-Krieg hervorgetan
hatte.
Da sich diese Konfrontation schon vor dem
Gipfel abgezeichnet hatte, beschloss die Mehrheit der konservativen
und christdemokratischen Regierungschefs in einem Treffen
unmittelbar vor Gipfelbeginn, den gegenwärtigen britischen
EU-Außenkommissar und früheren Gouverneur von Hongkong,
Chris Patten, als Kandidaten zu benennen. Als einziger in diesem
Kreis hatte der französische Ministerpräsident
Jean-Pierre Raffarin diese Nominierung abgelehnt. Eine Einigung kam
nach mehrstündigen Beratungen nicht zustande und die Runde kam
überein, die Frage zum Ende des Gipfels noch einmal auf die
Tagesordnung zu setzen. Dann werde die Kür des
Kommissionspräsidenten mit "acht oder neun Kandidaten" ganz
neu eröffnet, erklärte der gegenwärtige
EU-Ratsvorsitzende Berti Ahern zum Abschluss des ersten Gipfeltages
eine Stunde nach Mitternacht. Zur Begründung seiner
grundsätzlichen Ablehnung Pattens sagte Frankreichs
Staatspräsident Jacques Chirac, er werde niemals einen
Kommissionspräsidenten aus einem Land akzeptieren, das nicht
in allen Politikbereichen der EU integriert sei.
Großbritannien ist weder Mitglied der Europäischen
Währungsunion, noch hat es das Schengener Abkommen zur
Freizügigkeit des Personenverkehrs in der EU voll
übernommen.
Da die übrigen bisher in die Diskussion
gebrachten Kandidaten wie der österreichische Bundeskanzler
Wolfgang Schüssel, der portugiesische Ministerpräsident
José Manuel Durao Barroso, der bisherige Präsident des
Europäischen Parlaments Pat Cox oder der portugiesische
EU-Kommissar Antonio Vitorino nicht unbedingt als ideale Besetzung
gelten, könnte der von den deutschen Christdemokraten im
Europäischen Parlament gemachte Vorschlag Gehör finden,
diese Personalentscheidung erst Anfang nächsten Monats unter
niederländischem EU-Vorsitz zu treffen. Es bestehe
überhaupt keine Notwendigkeit jetzt eine Entscheidung
erzwingen zu wollen, meinte der Obmann der CDU-Abgeordneten in
Straßburg, Hartmut Nassauer.
Angesichts dieser schlechtesten aller
Lösungen wuchs erneut der Druck auf Juncker, den sowohl der
deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder als auch der Ire Ahern
am frühen Morgen des zweiten Tages noch einmal umzustimmen
versuchten. Sollte dieser weiter bei seiner Haltung bleiben und
sich bis zum Abend kein für alle 25 Mitgliedstaaten
akzeptabler Kompromisskandidat gefunden haben, so verlautete aus
mehreren Delegationen, könnte die Wahl auf Berti Ahern selbst
fallen, zumal wenn es ihm gelungen sein sollte, alle EU-Staaten auf
den von ihm am 16. Juni vorgelegten Änderungsvorschlag
für die Europäische Verfassung einzuschwören. Der
erste Versuch, einen europäischen Verfassungsvertrag zu
verabschieden, war im vergangenen Dezember gescheitert.
Die Chancen dafür, dass am 18. Juni ein
Einvernehmen zu erreichen ist, wurden kurz vor Ende des Treffens
als günstig eingestuft. Zum einen haben Spanien und Polen als
größte Blockierer im Dezember nun unter ihren neuen
Regierungschefs bereits Kompromissbereitschaft erkennen lassen. Zum
anderen wird dem Iren Ahern wesentlich größeres
Verhandlungsgeschick bescheinigt als im Dezember Italiens
Ministerpräsident Berlusconi, um das Vorhaben durchzusetzen,
der EU eineinhalb Monate nach der größten Erweiterung
ihrer Geschichte eine Verfassung zu geben und sie damit für
die Zukunft handlungsfähig zu machen.
In den von Ahern vorgelegten
Kompromissvorschlägen zu den besonders umstrittenen Fragen
bleibt die irische Regierung dabei, für Entscheidungen im
EU-Ministerrat eine doppelte Mehrheit vorzusehen. Gegenüber
dem früheren Vorschlag, dass für eine Entscheidung
mindestens 50 Prozent der EU-Staaten zustimmen, und diese
gleichzeitig 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren
müssen, wurden nun 55 und 65 Prozent vorgesehen. Damit
würde den kleineren Ländern mehr Einfluss gewährt,
da nicht mehr nur drei große Länder eine Entscheidung
blockieren könnten. Eine Einigung über diese Frage konnte
am ersten Gipfeltag noch nicht gefunden werden. Ahern kündigte
deshalb an, am 18. Juni ein neues Zahlenmodell vorzulegen, das
Polen und Spanien noch etwas stärker entgegenkommen soll.
Immerhin sei das Prinzip der doppelten Mehrheit inzwischen
akzeptiert.
Weiter sieht der Kompromissvorschlag vor, die
Zahl der EU-Kommissare ab 2009 auf 18 zu begrenzen, wobei noch
unklar ist, wie die Auswahl genau getroffen werden soll. Als
Zeitpunkt für den Beginn dieser Regelung ist das Jahr 2014 im
Gespräch, auf das sich die Außenminister zuvor geeinigt
hatten. Für die kleinen Länder sei es besonders wichtig,
hob Luxemburgs Regierungschef Juncker hervor, dass bei dem
Rotationsverfahren alle Länder unabhängig von ihrer
Größe gleichberechtigt behandelt werden
sollen.
Nach dem noch gültigen Vertrag von Nizza
soll die Regelung "ein Kommissar pro Land" bis zur Aufnahme
Rumäniens und Bulgariens gelten. Danach sollte eine noch nicht
beschlossene Verringerung der Zahl der Kommissare erfolgen. Der
Verfassungskonvent hatte wiederum ein Mischsystem aus
stimmberechtigten und nicht stimmberechtigten Kommissaren nach dem
Rotationsprinzip vorgeschlagen. Akzeptiert wurde aber in der ersten
Verhandlungsrunde die im Kompromisspapier vorgeschlagene
Änderung, dass die Zahl der Sitze im Europaparlament pro Land
auf mindestens sechs erhöht werden soll. Dadurch würde
Malta einen Sitz mehr erhalten.
Der Forderung der Länder Malta,
Tschechien, Italien, Litauen, Polen, Portugal und der Slowakei,
aber auch der deutschen Christdemokraten nach einer Erwähnung
der christlichen oder christlich-jüdischen Wurzeln Europas gab
der irische Vorsitzende nicht nach. Es soll bei der schon vom
Verfassungskonvent vorgesehenen Formulierung der "kulturellen,
religiösen und humanistischen Überlieferung" Europas
bleiben.
Zu längeren Diskussionen führte der
Vorstoß der Iren, im Sinne Deutschlands und Frankreichs die
Kompetenzen der EU-Kommission beim Stabilitätspakt zum Schutz
der gemeinsamen Währung zu beschneiden. Ahern räumte nach
der ersten Aussprache ein, dass es schwer sei, hier den richtigen
Mittelweg zu finden. Brüssel soll nach dem Willen der
Präsidentschaft nur noch Empfehlungen geben dürfen, die
dann im Finanzministerrat im Geheimverfahren mit einfacher Mehrheit
überstimmt werden könnten. Obwohl die Vorschläge der
Kommission bisher verbindlich sein sollten, hatten sich die
Finanzminister im Fall Deutschlands und Frankreichs, die beide
unzulässige Haushaltsdefizite aufweisen, über den
Vorschlag der Kommission, Sanktionen gegen Paris und Berlin
einzuleiten, hinweggesetzt. Die Brüsseler Behörde hat
deshalb bereits den Europäischen Gerichtshof angerufen. Der
Verfassungskonvent hatte vorgesehen, dass Beschlussvorlagen der
Kommission nur einstimmig von den Finanzministern abgelehnt werden
können.
Für heftige Diskussionen sorgte der
britische Vorstoß, weitere Abstriche an der Ausweitung der
Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat zu machen, obwohl der
irische Vorsitz den britischen Vorbehalten schon entgegengekommen
war. So soll das Einstimmigkeitsprinzip auf Londoner Wunsch nicht
nur in der Steuerpolitik und weitgehend auch in der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik erhalten bleiben, sondern auch
bei Beschlüssen zur Betrugsbekämpfung in
Einwanderungsfragen erhalten bleiben. Außerdem bestand er bei
der Regelung des jährlichen Haushaltsrabatts für
Großbritannien auf seinem Vetorecht. Diese "red lines", die
Blair nach eigenen Worten unter keinen Umständen
überschreiten kann, ließen aber keinen Raum für
weitere von ihm verlangte Einschränkungen bei der
Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta in der neuen
Verfassung, hieß es übereinstimmend aus mehreren
Delegationen.
Der noch amtierende Präsident des
Europäischen Parlaments Pat Cox hatte bei seinem
traditionellen Auftritt vor den "Chefs" zum Auftakt des zweiten
Tages die Ergebnisse der Europawahlen vom 10. bis 13. Juni
interpretiert. Für die niedrige Wahlbeteiligung - 49 Prozent
in den 15 "alten" EU-Mitgliedstaaten und um die 20 Prozent in den
neu aufgenommenen Ländern - sei nicht allein das
Europaparlament verantwortlich zu machen, sondern die große
Kluft zwischen den EU-Institutionen insgesamt und den Bürgern.
Dies stelle eine klare Aufforderung an die Regierungschefs dar,
Europa als Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
Eine Verschiebung der Nominierung des
künftigen Kommissionspräsidenten stelle organisatorisch
kein unüberwindliches Hindernis dar, sagte Cox bei dieser
Gelegenheit. Vom Europäischen Parlament müsse der neue
Kommissionspräsident erst am 21. Juli gewählt werden.
Besser sei es jedoch, das "business" jetzt zu machen. Cox, der
nicht wieder als Abgeordneter des Parlaments kandidiert hatte,
sagte, auf seine eigene Person als Kandidat für das Amt des
Kommissionspräsidenten angesprochen, entweder er habe bald
sehr viel zu tun, oder aber er könne nun erst einmal in Ruhe
Urlaub machen.
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