Die Wähler können den künftigen
Kurs Europas beeinflussen
Im Gespräch: Hans-G. Pöttering, Vors.
der EVP-ED im Europaparlament
Das Parlament
Europa hat gewählt. Ist Ihre Fraktion mit dem erzielten
Ergebnis zufrieden?
Hans-Gert Pöttering Mit etwa 270 Mitgliedern stellt die
EVP-ED Fraktion wieder rund 37 Prozent der 732 Abgeordneten im
Europäischen Parlament und ist mit großem Abstand die
größte Fraktion (Sozialisten 203 Abgeordnete). Dieses
Ergebnis ist gleichermaßen eine Bestätigung unserer
Politik in Europa wie ein Abbild der derzeitigen politischen
Mehrheitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten. In zwölf
EU-Staaten stellen die zur EVP-ED Fraktion gehörenden
Abgeordneten die größte Gruppe unter den
Europaparlamentariern, in drei weiteren Ländern verfügt
keine andere Fraktion über mehr Abgeordnete als wir. Als
einzige Fraktion im Europäischen Parlament haben wir
Parlamentarier aus allen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union in unseren Reihen. Auch das ist für unser
Selbstverständnis wichtig.
Das Parlament
Welche Aufgaben sind in den kommenden fünf Jahren zu
bewältigen, welche Ziele wollen Sie für Europa
erreichen?
Hans-Gert Pöttering Nach der Verabschiedung der Verfassung
durch die Staats- und Regierungschefs werden die Ratifizierung in
den Mitgliedstaaten und gerade die Umsetzung der Verfassung im
Zusammenspiel der europäischen Institutionen in den
nächsten Jahren die großen Herausforderungen sein.
Darüber hinaus wird die Europäische Verfassung die
Kompetenzen des Parlaments noch erweitern. Zusätzliche
Bereiche fallen unter das Mitentscheidungsverfahren. In Anbetracht
der durch die EU-Erweiterung am 1. Mai gestiegenen Abgeordnetenzahl
muss das Parlament seine Strukturen arbeits- und
entscheidungsfähig erhalten. Die Ausgestaltung der
Europäischen Nachbarschaftspolitik, die den Rahmen für
die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen
Nachbarn setzt, ist eine weitere wichtige Aufgabe. Es geht darum,
einen erweiterten Raum politischer Stabilität und
funktionierender Rechtsstaatlichkeit zu schaffen, wirtschaftlichen
und kulturellen Austausch zu fördern. Die Grenzen einer
verantwortlichen Erweiterung sind für die Europäische
Union sichtbar. Die Antwort darauf kann nur in einem ehrlichen und
substantiellen Angebot an unsere Nachbarn liegen, das deren
Bedürfnisse berücksichtigt und die
Integrationsfähigkeit der EU wahrt. Daneben gibt es weitere
wichtige Aufgaben wie die Stärkung der Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik, die Vollendung des Binnenmarktes und die
Realisierung der Lissabon-Ziele.
Das Parlament
Wird Ihre Fraktion den neuen Parlamentspräsidenten stellen,
und wer wird dieses Amt übernehmen?
Hans-Gert Pöttering Traditionsgemäß ist der
Parlamentspräsident zweieinhalb Jahre im Amt. Als
stärkste Fraktion im Europäischen Parlament ist es unser
Interesse, in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode einen
Parlamentspräsidenten aus unseren Reihen zu stellen. Derzeit
werden Gespräche in und zwischen den Fraktionen geführt,
bei denen es auch um die Wahl des Parlamentspräsidenten geht.
Für Namensnennungen ist es dabei noch zu früh.
Das Parlament
Bei der Nachfolge von Kommissionspräsident Prodi hat es
eine Reihe von Problemen gegeben. Unterstützt Ihre Fraktion
die Nominierung von José Manuel Durao Barroso?
Hans-Gert Pöttering Wir haben immer gefordert, dass
für die Wahl des Kommissionspräsidenten das Wahlergebnis
berücksichtigt wird, wie es auch die Europäische
Verfassung vorsieht. Dieses Prinzip ist bei dem ersten Gipfel nicht
berücksichtigt worden. Bei dem Sondergipfel haben die Staats-
und Regierungschefs nun das Wahlergebnis berücksichtigt und
mit Ministerpräsident José Manuel Durão Barroso eine
Persönlichkeit unserer EVP-Parteienfamilie vorgeschlagen.
Durão Barroso ist eine hervorragende Wahl. Er ist ein
überzeugter Europäer, ein erfahrener Politiker und ein
portugiesischer Christdemokrat. Daher wird er die volle
Unterstützung unserer Fraktion bekommen.
Das Parlament
Wie wird das Zusammenspiel des neuen Europaparlamentes mit der
neuen EU-Kommission aussehen?
Hans-Gert Pöttering Zunächst hängt viel von der
zukünftigen Struktur der Kommission und der Verteilung der
Zuständigkeiten ab, die bei den einzelnen Kommissaren
angesiedelt sein werden. Diese Struktur steht noch nicht fest.
Ebenso müssen wir auf die Vorschläge des
Kommissionspräsidenten für die Zusammensetzung der neuen
Kommission warten. Generell erwarten wir uns von der
Europäischen Kommission mehr Augenmerk auf eine Politik "aus
einem Guß". Im Ergebnis geht es darum, dass die EU-Kommission
sich verbindliche Ziele setzt und auch ihre einzelnen
Vorschläge aus den verschiedenen Politikbereichen unter den
Vorbehalt dieser Ziele stellt. Diesen Prozess wollen wir über
das Parlament mit gestalten.
Das Parlament
Sollte die niedrige Wahlbeteiligung Anlass sein für eine
Diskussion über das Erscheinungsbild des Parlaments?
Hans-Gert Pöttering Eine losgelöste Debatte über
die Wahlbeteiligung halte ich nicht für sinnvoll.
Schließlich ist die Wahlbeteiligung kein Selbstzweck.
Während in den alten Mitgliedstaaten die Beteiligung nahezu
konstant blieb, was keinesfalls zufriedenstellend ist, nehme ich
jedoch die sehr niedrige Wahlbeteiligung gerade in einer Reihe der
neuen mitteleuropäischen Mitgliedstaaten sehr ernst. Bei den
großen Herausforderungen, die der weitere Integrationsprozess
insbesondere in Mitteleuropa noch mit sich bringen wird, sind wir
als Parlament, sind aber auch die jeweiligen nationalen Regierungen
auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen.
Für die Fraktionen im Europaparlament besteht die
Herausforderung darin, die unterschiedlichen politischen Konzepte
und Alternativen in den europäischen Entscheidungsprozessen
deutlicher zu machen. Allzu oft werden in der Berichterstattung die
Institutionen statisch und abstrakt nebeneinander gestellt: Der Rat
- die Kommission - das Parlament. Dabei geht verloren, dass
unterschiedliche Ideen und Konzepte im Wettstreit stehen und Mehr-
beziehungsweise Minderheiten europäische Politik bestimmen.
Dass der Wähler über diese Mehrheitsverhältnisse
Europas Kurs beeinflussen kann, das werden wir noch deutlicher
machen müssen. Die Europäische Verfassung schafft
hierfür wichtige Voraussetzungen. Im Übrigen: Die
Nachrichtensendungen des Fernsehens müssen mehr über das
Europäische Parlament berichten. Hier besteht ein großes
Informationsdefizit. Den Menschen in Mitteleuropa sollten wir die
Sorge nehmen, sie wären Europäer zweiter Klasse. Wenn die
Menschen in den Beitrittsländern vor der nächsten Wahl in
fünf Jahren spürbare positive Entwicklungen sehen, wird
die Beschäftigung mit europäischen Themen
größer und die Wahlbeteiligung stärker sein.
Das Parlament
Sehen Sie in den Stimmengewinnen für Europagegner und
populistische Parteien eine Gefahr für das Europäische
Parlament?
Hans-Gert Pöttering Bei der Bewertung des Wahlausgangs
treten einige Einschätzungen wiederholt auf, die deswegen noch
nicht zutreffend sein müssen. Schauen wir uns doch die
Größenordnungen im Vergleich an: Die Europagegner
können im neuen Parlament einen Zuwachs von etwa 3,5 Prozent
der Mandate für sich verbuchen und kommen damit auf etwas mehr
als sieben Prozent der Mandate. Natürlich bedauere ich diesen
Zuwachs, aber er verändert nicht die politische Struktur des
Parlaments.
Das Parlament
Werden Sie Ihr Amt als Fraktionsvorsitzender weiter ausüben
oder eine andere Funktion innerhalb des Parlamentes
übernehmen?
Hans-Gert Pöttering Ich bewerbe mich wieder um den
Fraktionsvorsitz. Wenn mir die EVP-ED Fraktion erneut das Vertrauen
ausspricht, dann ist es für mich Ehre und spannende
Herausforderung zugleich, in den nächsten Jahren die Fraktion
zu führen.
Die Fragen stellte Günter Pursch.
Zurück zur
Übersicht
|